Archiv


Holocaust als Thema für Kinder

Der Frage, ob das Thema Holocaust bereits für Grundschüler geeignet sei, widmete sich am vergangenen Wochenende die Berliner Tagung "Zeitgeschichtliches Lernen in der Grundschule".

Von Hannegret Biesenbaum |
    "Ich wurde irgendwann während des Jahres 1944 geboren. Ich kenne mein Geburtsdatum nicht. Ich kenne meinen Geburtsnamen nicht. Ich weiß nicht, in welcher Stadt oder in welchem Land ich geboren wurde. Ich weiß nicht, ob ich Geschwister hatte oder habe."

    Nicole Prüfer, Pädagogikstudentin der Universität Erfurt, liest mit Kindern das Buch "Erikas Geschichte" von Ruth Vander Zee . Es handelt von einem jüdischen Mädchen, dessen Eltern in Auschwitz ums Leben kamen. Erika selbst aber wurde auf wundersame Weise gerettet. Besonders die Illustrationen haben es den Zehnjährigen angetan. Sie zeigen, wie jüdische Familien auf den Bahnhof getrieben und in Waggons gepfercht werden. Doch sie machen auch Hoffnung: Bei einem Bahnübergang, an dem zwei Menschen warten, wird ein rosa Bündel aus dem Zug geworfen - augenscheinlich ein Baby: Erika.

    "Das war halt so ein erschreckender Moment. Aber ich fand, das war eine gute Entscheidung, das hat mich berührt. Weil sie haben dem Baby das Leben gerettet, in dem Konzentrationslager wäre es also wahrscheinlich gestorben. Weil, da wurden viele Menschen umgebracht oder mussten auch arbeiten."

    "Holocaust" für Kinder - das Thema kommt für zehnjährige Grundschüler keineswegs zu früh, meint Nicole Prüfer.

    "Sie haben selber viel Wissen ja schon gehabt, und die Stunde zeigt eigentlich, dass Bedarf da ist, die Fragen, die da sind, zu klären und daran zu gehen, dass man natürlich nicht jetzt platten Geschichtsunterricht machen kann in dem Alter, ist klar, aber über Bildbetrachtung lohnt sich das auf jeden Fall."

    Karin Richter, Professorin für Literaturdidaktik an der Universität Erfurt, die das Schulprojekt betreut, warnt sogar: Bleiben die Fragen der Kinder unbeantwortet, füllen sie ihr Detailwissen mithilfe von Fantasie auf. Dann kann es leicht zu Vorurteilen gegenüber Juden kommen, die es gerade zu vermeiden gilt. Literatur und Kunst sind dagegen wichtige Hilfen, die Kinder aufzuklären, ohne sie zu überfordern.
    "Wo sie Empathie entwickeln können, wo ihre kognitiven Fähigkeiten zum Ausdruck kommen, wo sie als ganze Persönlichkeit gefordert sind, und da, glaube ich, zeigen unsere Forschungen bisschen den Weg, wie man gehen könnte, und in der Praxis ist aber, glaube ich, einiges zu tun. "

    Der Verbindung von Theorie und Praxis widmete sich deshalb die Tagung "Zeitgeschichtliches Lernen in der Grundschule" an der Berliner Humboldt-Universität. Wie können die Themen "Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus" den Kindern nahe gebracht werden, ohne sie zu verstören? Der Unterricht sollte ausgehen von der Lebenswelt der Kinder, sagt Isabel Enzenbach vom "Zentrum für Antisemitismusforschung" der Technischen Universität Berlin.

    "Also wenn wir jetzt hier aus dem Fenster schauen sehen wir die Gedächtniskirche, da fragen sich Kinder oft, warum sieht die so aus, wie sie aussieht."

    Andere Beispiele: eine Gedenkstätte, die in der Nähe des Wohnortes ist, ein KZ-Außenlager, Stolpersteine. Allerdings gilt: Lehrer und Lehrerin dürfen sich nicht zu viel vornehmen. Schließlich geht es um Anfangsunterricht, und der muss sich auf bestimmte Aspekte beschränken, so die Historikerin.

    "Das ist also eines meiner wichtigen Anliegen, dass man das Thema aufteilt in überschaubare Thematiken, und dass die Kinder eine Chance haben, Begriffe zu entwickeln, welche Ideen steckten hinter dem Nationalsozialismus, was war die Weltanschauung, was waren die Ziele, warum haben da so viele Leute mit gemacht, und dass sie auch grundlegende Fakten lernen."

    Kinder müssten unter anderem wissen, dass der Nationalsozialismus keineswegs alle Menschen als gleichberechtigt ansah und bestimmten Gruppen sogar das Lebensrecht absprach. Oft sei es ohnehin so, dass Kinder Begriffe wie "Gaskammern" mit in den Unterricht bringen würden. Hier wollen Kinder etwas erklärt haben. Und sie haben ein Recht darauf.

    "Also ich finde es notwendig, die Fragen der Kinder zu beantworten, und dem aber einen eigenen Entwurf entgegen zu stellen von der Geschichtserzählung. Und (in) diesen Geschichtserzählungen, die empfehlenswert sind, stehen oft eben einzelne Personen, Kinder, im Zentrum, und sinnvollerweise dann auch Kinder, die überlebt haben. "

    Allerdings sind solche Rettungserzählungen auch problematisch. Da ist zum Beispiel das beliebte Bilderbuch "Papa Weidt", basierend auf den Erinnerungen der jüdischen Überlebenden Inge Deutschkron. Es erzählt die Geschichte eines Mannes, der Juden in seiner Blindenwerkstatt Arbeit bot und ihnen so zu überleben half. Doch die Deutschen, die Juden auf diese Weise unterstützten, bildeten eine absolute Minderheit.

    "Es lohnt sich, ihre Geschichten zu hören und zu erzählen, aber man muss dabei betonen, dass es die Ausnahme war und nicht die Regel. Und auch im historischen Anfangsunterricht muss man eben zeigen, was ist der Normalfall und was ist die glückliche Ausnahme, aber eben Ausnahme."

    "Ein anderes Problem beim Thema "Nationalsozialismus" in der Grundschule ist die Verengung des Blicks auf Juden."

    "Natürlich, wenn es um den Holocaust geht, stehen Juden im Zentrum, ganz klar. Der Holocaust ist per Definition die Ermordung der europäischen Juden. Aber wenn es um Anfangsunterricht über den Nationalsozialismus geht, dann macht es wenig Sinn, so zu tun, als wären nur Juden Opfer gewesen."

    Kinder würden sonst zu wenig über das Wesen des Nationalsozialismus erfahren. Denn der verfolgte auch Kommunisten, Sozialdemokraten, Roma, Sinti, Behinderte, Schwule und Lesben. Leidtragende waren zudem Menschen aus Ländern, die im Krieg überfallen wurden. Ihre Familiengeschichten dürfen in der modernen Migrationsgesellschaft nicht unbeachtet bleiben.

    "Also wenn Kinder meinetwegen aus der Sowjetunion kommen, wenn die Großeltern bei den Partisanen gekämpft haben oder in der Roten Armee, dann bringen diese Kinder andere Erzählungen mit, die man auch hören muss und in den Unterricht einbeziehen."

    Nicht nur Juden waren Opfer. Und vor allem: Juden waren nicht immer nur Opfer. In den vergangenen Jahrtausenden waren sie bedeutende Kulturträger und gestalteten das gesellschaftliche und politische Leben entscheidend mit.

    "Und dazu ist es wichtig, dass man einfach was zur jüdischen Geschichte und Kultur macht, was nichts mit dem Holocaust zu tun hat. Man kann auch bei der Regionalgeschichte gucken, was haben wir in unseren Dörfern und Städten für Zeugnisse und kann sich das angucken, ohne dass man gleich immer von Judenverfolgung oder gar dem Holocaust spricht."

    Hilfreich ist hier die Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen. In Erfurt etwa führt Franziska Bracharz Kinder zu Plätzen jüdischen Kulturlebens, - der Kleinen Synagoge aus dem 19. Jahrhundert zum Beispiel, heute eine Begegnungsstätte. Für die Kinder sind diese Orte offenbar Neuland.

    "Also ich würde meinen Eltern gern alles zeigen, ich fand eigentlich alles ganz interessant, vor allen Dingen jetzt hier der letzte Raum mit dem Wandschrank, wo die Tora immer drinne ist, und es sitzen auch immer Jungs und Mädchen getrennt, da gibt's einen besonderen Grund, den möchte ich jetzt aber nicht erzählen, das müssen sie schon alle selber wissen, wenn sie hierher kommen."

    Buch-Tipp:
    Monika Plath/Karin Richter: 'Holocaust' in Bildgeschichten. Mit einem Vorwort von Mirjam Pressler und mit dem Oscar-prämierten Kurzfilm "Spielzeugland" auf CD. Schneider Verlag. 2009.