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Holocaust-Gedenktag
„Die größte Gefahr kommt von den Nazis“

Immer mehr Fußballklubs beschäftigen sich mit Spielern, Trainern oder Funktionären, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Eine Symbolfigur ist der frühere jüdische deutsche Nationalspieler Julius Hirsch. Sein Enkel Andreas hofft, dass auch der künftige DFB-Präsident Erinnerungsarbeit fördert.

Andreas Hirsch im Gespräch mit Ronny Blaschke | 30.01.2022
Ein Bild von Julius Hirsch bei der Preisverleihung, das Publikum ist im Schatten von hinten aufgenommen
Der Julius Hirsch Preis zeichnet Menschen aus, die sich öffentlich für Demokratie und Menschenwürde einsetzen. Er wird seit 2005 in Erinnerung an den deutschen Nationalspieler jüdischer Herkunft, Julius Hirsch, verliehen. (picture alliance / dpa)
Viele Jahrzehnte wusste die deutsche Öffentlichkeit so gut wie nichts über Julius Hirsch. Auch in dessen Familie wurde lange nur „sehr dosiert“ über den Fußballer gesprochen, sagt Andreas Hirsch, Jahrgang 1962, einer von vier Enkeln von Julius Hirsch: „Ich kann gut verstehen, dass Eltern ihren Kindern dieses Grauen wenig zumuten möchten.“ Die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ entfachte 1979 in der Bundesrepublik eine intensive Debatte. „Danach konnte sich auch mein Vater mehr öffnen“, sagt Andreas Hirsch im Dlf-Sportgespräch.
Um die Jahrhundertwende erschienen dann erste Artikel, Aufsätze und Bücher über Fußballer, die von den Nazis ermordet wurden, unter anderem von den Autoren Werner Skrentny und Dietrich Schulze-Marmeling. „Ich musste mir Zeit nehmen für diese Arbeiten, aber dann habe ich sie aufgesaugt und viel gelernt“, sagt Andreas Hirsch. Zu jener Zeit kam auch der Deutsche Fußball-Bund auf die Familie Hirsch zu. „Das war eine Überraschung“, sagt Hirsch, der zunächst skeptisch war. Aber der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger habe ihn überzeugt, dass es der Verband ernst meine.

Stete Aufklärung und Bildung

Seit 2005 vergibt der DFB den Julius-Hirsch-Preis an Vereine, Initiativen und Persönlichkeiten, die sich gegen Antisemitismus und Diskriminierung einsetzen. Seitdem hat Andreas Hirsch Dutzende Preisträger kennengelernt, zum Beispiel die „Löwenfans gegen Rechts“, eine Fangruppe aus dem Umfeld des TSV 1860 München, die 2009 die Auszeichnung erhalten hatte. „Diese Gruppe ist aufgestanden und hat sich nicht vor den Nazis im Stadion weggeduckt“, sagt Hirsch, der als Reiseveranstalter in Karlsruhe lebt.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft von 1912 mit Julius Hirsch (h.v.l.).
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft von 1912 mit Julius Hirsch (h.v.l.). (picture alliance / dpa)
Die Preisverleihung bringt jährlich mehrere hundert Gäste zusammen, zumindest vor Corona. Im Publikum sitzen auch etliche Fußballfunktionäre, die sich sonst kaum gegen Diskriminierung positionieren. Nutzen diese Funktionäre den Namen Julius Hirsch als gesellschaftspolitische PR für ihren skandalumwitterten Verband? „Bei so einer Veranstaltung stoßen Sie nie auf hundert Prozent Interesse. Wir können nur durch stete Aufklärung und Bildungsarbeit dieses Interesse wecken“, sagt Andreas Hirsch, der hofft, dass auch der künftige DFB-Präsident die Erinnerungsarbeit fördert.

„Ich wünsche mir eine bessere Strafverfolgung“

In den vergangenen Jahren wurden unter anderem Straßen, Sportplätze und Hallen nach Julius Hirsch benannt, in Berlin, Fürth oder Karlsruhe. In Leipzig entwickelte das „Theater der Jungen Welt“ das Stück „Juller“ und ging damit auf Tour. Für Andreas Hirsch sei die Inszenierung zunächst ein Schock gewesen: „Lange haben wir in der Familie nur über den toten Opa gesprochen. Und plötzlich wird Julius Hirsch auf der Bühne richtig zum Leben erweckt.“ Das Theater verknüpfte Vorstellungen mit pädagogischen Workshops. „Diese Lebensgeschichten helfen, um das Abstrakte für Jugendliche besser zu durchdringen“, sagt Andreas Hirsch, der immer wieder mit Schülern ins Gespräch kommt. „Ich versuche dabei, nicht emotional zu sein, aber das gelingt mir relativ selten.“

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Eine andere Persönlichkeit aus dem Fußball, die so bekannt ist wie Julius Hirsch, ist Kurt Landauer. Der einstige jüdische Präsident des FC Bayern wurde von den Nazis verfolgt und baute den FC Bayern nach dem Krieg wieder auf. Auf Initiative von Münchner Fans wurde Landauer vor einigen Jahren wieder ins öffentliche Gedächtnis gerückt. Es wurden Bücher über ihn geschrieben, es entstand eine Ausstellung, ein Spielfilm, eine App, mitunter sieht man sein Konterfei auf T-Shirts im Stadion. Die historische Figur Landauer wurde mit den medialen Mechanismen der Gegenwart zu einer Kultfigur stilisiert, mehr als 60 Jahre nach seinem Tod. Wo würde Andreas Hirsch für seinen Großvater die Grenze ziehen? „Grundsätzlich ist Erinnern besser als Vergessen. Wir würden einschreiten, wenn Lügen erzählt würden, aber das mussten wir noch nicht machen.“
Der Antisemitismus der Gegenwart zeigt sich in unterschiedlichen Formen: als mörderischer Anschlag wie in Halle 2019. Als brachiale Israel-Kritik wie 2021. Oder als Alltagsdiskriminierung, immer wieder auch im Fußball. „Ich wünsche mir eine bessere Strafverfolgung“, sagt Andreas Hirsch. „Die größte Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland kommt von den Nazis.“
Transparenz-Hinweis: Der Moderator des Gesprächs hat 2013 für seine Berichterstattung den Julius-Hirsch-Ehrenpreis erhalten.