Ein kalter Vormittag in Dachau, vor den Toren Münchens. Andrea Sailer steht am Eingangstor des früheren Konzentrationslagers, vor ihr haben sich junge Fußballfans aus dem Rheinland postiert. Die Berufspädagogin leitet das Fanprojekt München, eine Einrichtung für soziale Jugendarbeit. Seit fünf Jahren führt Andrea Sailer Fans durch die Gedenkstätte Dachau. Sie erklärt Dokumente, zeigt Fotos. Und sie stellt Fragen:
„Es hat mir ein Häftling erzählt: sie mussten gegen SS-Wachleute spielen. Könnt Ihr euch vorstellen, was das für ein Problem war für die Häftlinge? Gibt’s hier ein paar Leute, die Fußball spielen, aktiv oder im Verein? Wie hättest du dich denn verhalten, bei so einem Spiel gegen die Nazis? Große Unsicherheit?“
Jugendlicher: „Umdribbeln, ganz locker.“
Sailer: „Ganz locker umdribbeln, wie das früher Franz Beckenbauer gemacht hat?“
Jugendlicher: „Oder umgrätschen?!“
Jugendlicher: „Aber es muss doch eigentlich sein, so ausgehungert wie die waren, dass sie gar nicht die Chance dazu hatten, zu gewinnen. Wenn man so ausgehungert ist, hat man doch keine Kraft mehr.“
Die Gäste in Dachau sind erstaunt, die meisten sind noch nicht volljährig, waren noch nie in einer Gedenkstätte. Andrea Sailer glaubt, dass der Bezug zu ihrem Hobby Fußball Empathie erzeugen kann. Diese Idee hatten Aktivisten der Versöhnungskirche Dachau vor zehn Jahren. Inzwischen ist sie Bestandteil von vielen der 50 Fanprojekte. Sozialarbeiter reisen mit ihren Fan-Gruppen nach Auschwitz, Sachsenhausen oder Buchenwald. Andrea Sailer:
„Ich wehre mich immer dagegen, nur antirassistische Arbeit zu machen, sondern es geht ja um Diskriminierung. Und ich denke, da kann man auch hier ganz viele Dinge im KZ darstellen. Das hat zum Beispiel auch damit zu tun, wie hier mit Homosexuellen umgegangen wurde. Oder wie teilweise auch die Strukturen untereinander waren, dass teilweise auch Ausgrenzung unter den Häftlingen stattgefunden hat. Und man kann den Jugendlichen heute nicht mehr mit dem Zeigefinger kommen, man muss ganz viel in ihre jetzige Lebenswelt transferieren. Wir hatten beim letzen Mal, als das Aachener Fanprojekt hier war mit einer Gesamtschule, ganz schnell die Diskussion über Mobbing in der Schule. Das hat mir auch eine Kollegin bestätigt, die mit zwei Hauptschulklassen hier war. Die hat gesagt, die Schüler gehen anders miteinander um, wenn man diese Thematik aus dem KZ-Bereich in ihre jetzige Lebenswelt hineinbringt. Dann verändert sich bei diesen Jugendlichen tatsächlich was.“
Gedenk-Aktionen wie jene von Andrea Sailer werden rund um den Holocaust-Gedenktag auch in anderen Stadien und Vereinsheimen durchgeführt. Der Anstoß zu einem „Erinnerungstag im Fußball“ war aus Italien gekommen, von Riccardo Pacifici, dem Präsidenten der Jüdischen Gemeinde in Rom. Aktivisten der Versöhnungskirche Dachau haben die Idee 2004 und 2005 auf deutsche Stadien übertragen. Den zehnten Erinnerungstag der Initiative begingen 270 Fans, Wissenschaftler und Funktionäre vor kurzem auf einem Kongress in Frankfurt. Mit Workshops, Konzerten und neuen Anregungen. So verwies der Freiburger Historiker Diethelm Blecking auf den Aufstand in Warschau 1944, den größten einzelnen bewaffneten Widerstand während des Krieges, der sich am 1. August zum 70. Mal jähren wird. Blecking:
„Und ob sich nicht im neuen Warschauer Stadion, das wir ja alle während der Fußball-Europameisterschaft 2012 gesehen haben, zwei Jugendmannschaften zu einem Match der Versöhnung treffen können? Eingebunden in ein kleines politisches Kulturprogramm. Das wäre besonders deswegen wichtig, weil die polnische Fanszene so stark von Hooligans und Fans besetzt ist, die eindeutig rechts orientiert sind.“
Die Initiative zum Erinnerungstag ist nun zehn Jahre alt. Für ihre Gründer soll das erst der Anfang sein.