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Holocaust-Überlebende Carry Ulreich
"Nachts träum ich vom Frieden"

Ein jüdisches Mädchen überlebt den Naziterror im Versteck und dokumentiert diese Zeit im Tagebuch. Das ist die Geschichte von Carry Ulreich. Ihre Aufzeichnungen, die sie zwischen 1941 und 1945 gemacht hat, sind nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Von Silke Nauschütz |
    Das Buchcover von Carry Ulreich: "Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941-1945" vor den Stelen des Holocaust-Mahnmahls in Berlin in denen eine Frau steht.
    Carry Ulreich: "Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941-1945" (Hintergrund: picture alliance / dpa / Teresa Fischer; Buchcover: Aufbau Verlag)
    Als Carry Ulreich mit fast 90 Jahren das "Anne Frank Haus" in Amsterdam besucht, trägt sie sich mit einem langen Text ins Gästebuch ein: "Da habe ich sehr viel geschrieben, ich habe geschrieben, geschrieben, geschrieben. Und dann habe ich geendet mit - Anne Frank mit Happy End".
    Eine Geschichte wie bei Anne Frank, nur mit gutem Ende: Denn Carry Ulreich hat den Holocaust überlebt, in einem Versteck in Rotterdam. Und sie hat diese Zeit in Tagebüchern dokumentiert.
    Rotterdam, Anfang der 40er Jahre: Die Hafenstadt ist ein beliebtes Ziel für jüdische Migranten. Carrys Eltern sind aus Polen zugewanderte Juden, der Vater betreibt eine Schneiderei, die Mutter macht die Buchhaltung, auch die ältere Schwester hat Arbeit.
    Deutsche Besatzung und Spuren des Krieges
    Bei den Ulreichs zu Hause werden Feste wie Pessach und Chanukka gefeiert, es kommen jüdische und nichtjüdische Freunde zu Besuch.
    Im Dezember 1941 beginnt Carry mit ihren Aufzeichnungen. Da ist sie 15 Jahre alt. Anfangs berichtet sie vor allem über den Alltag in ihrer Familie, über ihre Flirts und Feste und Freundinnen und Freunde. Dass sie am Ende des Krieges kaum jemanden der Aufgezählten wiedersehen wird, ahnt Carry da noch nicht.
    Sie beschreibt auch das Leben unter deutscher Besatzung und die Spuren des Krieges: "Wenn der Krieg nur bald zu Ende ist. Aber Churchill, der englische Premierminister, hat gesagt, dass sie 1942 zeigen werden, was sie können, und 1943 ist der Krieg vorbei. Wenn es wirklich so lange dauert, sieht es für uns Juden sehr schlecht aus."
    Die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung nehmen zu, Carrys Beobachtungen werden genauer, ihre Aufzeichnungen detaillierter. Dass sie inzwischen einen Stern tragen muss, nimmt das Mädchen hin. Sie ist stolz, Jüdin zu sein, ob nun gekennzeichnet oder nicht.
    Fast nüchtern beschreibt sie die Einschränkungen, denen die Juden ausgesetzt sind: "Erstens der Erlass, dass die Fahrräder abgegeben werden müssen; es ist verboten, Juden zeitweise Fahrräder zu vermieten oder sie ihnen zu verkaufen. Für die ist es dann vorbei mit dem Fahrradfahren. Wenn man noch die Straßenbahn benutzen dürfte, wäre es nicht so schlimm, aber auch das ist verboten, genauso wie den Zug zu benutzen. Außerdem steht noch im Erlass, dass man sich nach 8 Uhr abends bis morgens um 6 Uhr nicht außerhalb des eigenen Hauses befinden darf. Einkäufe erledigen zwischen 3 und 5 Uhr mittags, man darf nicht zu Nichtjuden auf Besuch und dann noch eine ganze Reihe Berufe, die wir nicht ausüben dürfen."
    Ihr strenger, stolzer Vater verliert sein Geschäft. Er ist der erste, der sich nicht mehr auf die Straße traut.
    Rettung in höchster Gefahr
    Carry findet hier schon ihren eigenen Stil, um das Unbegreifliche und Schreckliche zu dokumentieren. Sie schreibt mit Gefühl, aber ohne Pathos: "Elend, überall schreckliches Elend. Verzweifelte Menschen! Hier in Rotterdam ist es genauso gekommen wie in Amsterdam. Was ich damit meine? In Amsterdam wurden vor ein paar Wochen alle Juden zwischen 16 und 40 aufgerufen. Sie erhalten einen Vorladungsbrief, in dem steht, dass Ihnen befohlen wird, 2 Tage später vor dem Judenrat zu erscheinen, wo sie Anweisungen bekommen, was sie mitnehmen sollen usw. und um halb 3 ins jüdische Theater zu kommen, wo die SS, die deutsche Polizei und andere Dreckskerle warten."
    Carry und ihre Familie sind in höchster Gefahr, als die Ulreichs im Herbst 1942 bei einer befreundeten Rotterdamer Familie unterschlüpfen können. Da fahren die Züge schon einmal in der Woche von Westerbork Richtung Sobibor und Auschwitz.
    Die Zijlmans sind katholisch und haben drei Kinder. Sie stellen den vier Ulreichs ihr Schlafzimmer zur Verfügung und schlafen selbst in der Abstellkammer: "Sie waren eine sehr fromme katholische Familie. Sie glaubten an Jesus, der gesagt hat: Man soll den Nebenmensch lieben wie sich selber. Sie waren Antinazis und sie wussten, was da passiert mit den Juden."
    Carry Ulreich und ihre Familie überleben im Versteck den Holocaust. An den Tag der Freiheit erinnert sich die heute 92-Jährige so: "Dann war die Kapitulation und dann sind wir zu den Nachbarn gegangen und haben gesagt: Wir sind Nachbarn seit fast drei Jahren. Da haben sie gesagt, das kann nicht sein, wir haben Sie nie gesehen. Da haben wir gesagt, wir sind nicht rausgegangen, wir waren versteckt."
    Tagebuch im Schlafzimmerschrank
    Carry geht 1946 nach Jerusalem, dort sieht sie ihre Zukunft. Ihr Tagebuch bleibt über 70 Jahre lang in einer Kiste im Schlafzimmerschrank liegen: "Ich dachte, das interessiert überhaupt nicht. Was soll das interessieren, was ein junges Mädchen gedacht hat und was im Krieg passiert ist. Was damals wichtig war, ist heute nicht mehr so wichtig."
    Im Gegenteil: Das Tagebuch von Carry Ulreich ist ein bewegendes und präzises historisches Dokument. Sie legt Zeugnis ab über die Schikanen, die ihre jüdische Familie unter den Nazis erlebt hat und über die langen drei Jahre im Versteck. Sie beschreibt die Menschlichkeit der katholischen Zijlmans, die ihre Familie aus Nächstenliebe aufnahmen und damit unbewaffnet Widerstand leisteten.
    Historisch bedeutsam ist das Tagebuch auch deshalb, weil es Verfolgung, Deportation und den Kampf ums Überleben in Rotterdam dokumentiert. Davon gibt es bislang kaum Aufzeichnungen. Es ist ein Glück, dass dieses Buch nun auch auf Deutsch vorliegt.
    Carry Ulreich: "Nachts träum ich vom Frieden. Tagebuch 1941-1945"
    Aufbau Verlag, 380 Seiten, 22 Euro.