Mary Berg ist 16, als die Nazis das jüdische Viertel in Warschau zu einem Getto machen. Sie und ihre jüngere Schwester sind behütet aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie, der Vater ist Kunsthändler. Mary Berg – beziehungsweise Miriam Wattenberg, wie sie damals noch heißt – beschreibt, wie der jüdische Stadtteil in Warschau schleichend zur Todesfalle wird. Zunächst sind es nur einzelne Gesetze, zum Beispiel das Verbot, bestimmte Verkehrsmittel zu nutzen. Dann werden Juden aus ganz Warschau gezwungen, ins Getto zu ziehen. Die Mutter von Mary, amerikanische Staatsbürgerin, bemüht sich um Ausreisepapiere für die Familie, aber das amerikanische Konsulat in Warschau ist geschlossen worden.
"15. November 1940. Heute wurde das jüdische Getto offiziell eingerichtet. Juden ist es verboten, sich außerhalb der Grenzen zu bewegen, die durch bestimmte Straßen gebildet werden...Es wurde auch schon mit der Arbeit an den Mauern … begonnen. Jüdische Maurer setzen, beaufsichtigt von Nazi-Soldaten, Ziegelstein auf Ziegelstein. Wer nicht schnell genug arbeitet, bekommt die Peitsche der Aufseher zu spüren",
schreibt Mary im November 1940 in ihr Tagebuch. Und dass sie Schuldgefühle hat, weil ihre Familie gut situiert ist und sie auch im Getto nicht hungern müssen, während um sie herum das Elend wächst. Mary besucht Zeichenkurse, kann ausgehen und ist Teil einer jungen, künstlerischen Gruppe die Revue-Abende gestaltet. Sie singen englische Jazzlieder und organisieren Konzerte berühmter Pianisten, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen. Noch haben alle die Hoffnung, dass der Krieg und ihr Martyrium bald zu Ende sind. Dass das Getto in Wahrheit ein Sammellager für die späteren Transporte in die Todeslager ist, ahnt da noch niemand.
Jüdische Feste und Gottesdienste sind bei Todesstrafe verboten
Jüdische Feste und Gottesdienste sind bei Todesstrafe verboten, sie werden heimlich organisiert. Die Religion spielt eine ganz selbstverständliche Rolle im Getto, auch die Jugendlichen um Mary Berg sind religiös sozialisiert. Zu Pessach haben sie eine szenische Lesung mit musikalischer Begleitung aufgeführt.
"14. April 1941. Unsere Vorstellung heute war für mich eine wundervolle Erfahrung. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir zum Pessach etwas aus der Haggada nehmen sollten, und da ich die beste Hebräischschülerin aus unserer Gruppe bin, wurde mir die Ehre zuteil, die Verwünschungen vorzutragen. Zu einer eindringlichen rhythmischen Klavierbegleitung brüllte ich die zehn Plagen heraus, die jeder Jude im Getto den Nazis an den Hals wünscht. Das gesamte Publikum sprach mir die Worte nach, und alle miteinander wünschten wir im Stillen, dass die Plagen die neuen Ägypter so bald wie möglich heimsuchen mögen … aber bis dahin liegt der Zorn Gottes schwer auf seinem auserwählten Volk."
1942 grassieren Typhus und Skorbut. Hunger und Kälte haben die Menschen entkräftet, Hunderte sterben jeden Tag auf den Straßen, unter ihnen bis auf die Knochen abgemagerte Kinder. Berg beschreibt dieses alltägliche Grauen, dazu die permanente Angst vor den sadistischen Aktionen der Nazis, besonders an jüdischen Feiertagen.
"12. Juni 1941. Im Getto wird es immer voller angesichts des steten Zustroms von neuen Flüchtlingen. Das sind Juden aus der Provinz, die all ihres Hab und Gutes beraubt wurden. Bei ihrer Ankunft spielt sich immer die gleiche Szene ab: Der Wachposten am Tor überprüft die Identität des Flüchtlings, und wenn er feststellt, dass es sich um einen Juden handelt, versetzt er ihm einen Stoß mit seinem Gewehrkolben als Zeichen, dass er unser Paradies betreten darf. Diese Menschen sind zerlumpt und barfuß und haben die traurigen Augen von Hungernden. Die meisten sind Frauen und Kinder. Sie kommen in die Obhut der Gemeinde, die sie in sogenannten Heimen unterbringt. Dort sterben sie früher oder später."
Von allem gibt es immer zu wenig, doch wer Geld hat, hat größere Chancen zu überleben. Ob eingeschmuggelte Lebensmittel oder Medikamente, warme Kleidung in den bitterkalten Wintern, Unterricht für die Kinder oder das Freikaufen vom Arbeitsdienst. Mary steht bei vielen Entscheidungen vor einem Dilemma: Anderen helfen oder sich selbst retten? Auch die Hilfen, die sie und andere Jugendliche organisieren, sind nur Tropfen auf einen heißen Stein. Für das Dokumentieren des Alltags hat sie sich eine Geheimschrift zugelegt, insgesamt 12 eng beschriebene Notizbücher kann sie später aus dem Getto herausschmuggeln.
Abschätziger Blick auf die "Goldjugend"
Dass es noch andere Chronisten im Getto gibt, weiß sie nicht. Würden die Nazis von den heimlichen Aufzeichnungen erfahren, die Autoren würden auf der Stelle erschossen. Eine Gruppe unter Federführung von Emanuel Ringelblum sammelt unter dem Tarnnamen "Oneg Shabat", Freude am Schabbat, heimlich alle Dokumente über das polnisch-jüdische Leben unter deutscher Besatzung. Dieses Untergrund-Archiv wurde im Getto vergraben, darum ist es in großen Teilen erhalten und heute Bestandteil des Getto-Museums in Warschau. Einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter dieses Museums, Jacek Mlynarczyk, sagt über die Chronistin Mary Berg:
"Sie versucht, sich nicht auf dieses Grauen zu konzentrieren. Dieses Grauen, deren Zeuge sie zwangsläufig jeden Tag wird, wird in diesem Tagebuch so beiläufig vermittelt."
Als Teenager hat sie einen anderen Blick auf die Welt - voller Hoffnung auf Zukunft. Eines der Dokumente aus dem Ringelblum Archiv nimmt auf die privilegierten Jugendlichen im Getto Bezug. Zu dieser Gruppe aus Lodz gehörte Mary Berg, die von den Oneg-Shabat-Chronisten geringschätzig als "Goldjugend" bezeichnet wurde.
"Weil sie zur gehobenen Schicht der jüdischen Gesellschaft im Getto gehörte. Sie hatte Zugang zu vielen Persönlichkeiten aus den Getto-Eliten, sie hat sich zum Beispiel – nur kurz, aber immerhin – mit dem Vorsitzenden des Judenrates Adam Czernikòw getroffen, sie hatte Zugang zu manchen Angehörigen des jüdischen Ordnungsdienstes. Sie konnte sich auch ziemlich frei im Getto bewegen, relativ frei bewegen, denn ab 1942: Auch sie konnte jederzeit auf der Straße erschossen werden."
1942 trifft die Mutter von Mary Berg zufällig einen Bekannten, der guten Kontakt zur Gestapo hat. Ihre amerikanische Staatsbürgerschaft rettet der Familie das Leben. Am 17. Juli 1942, fünf Tage bevor die Massendeportationen in das Vernichtungs-lager Treblinka beginnen, kann die Familie Berg das Getto verlassen. Aber nicht in die Freiheit, sie werden im Pawiak-Gefängnis direkt neben dem Getto interniert. Jacek Mlynarczyk:
"Das war ein Ort des Grauens. Wenn man von Pawiak in Warschau spricht, weiß jeder bis heute, was das war. Aber für die, die damals einfach interniert wurden: Sie haben Hunger gelitten, aber sie haben überlebt. Und drum herum um dieses Gefängnis brannte das Getto, jeden Tag wurden 10.000 Menschen nach Treblinka verfrachtet und ermordet."
Die ersten Augenzeugenberichte aus dem Warschauer Getto
Mary Berg, ihre Familie und die anderen Internierten werden Zeugen dieser täglichen Transporte. Bis zum September 1942 werden über 280.000 Juden aus dem Warschauer Getto getötet. Die im Gefängnis Internierten stehen unter Daueranspannung. Was wird mit ihnen geschehen? Wie lange wird man sie leben lassen?
Im Januar 1943 werden sie mitten in der Nacht aus dem Gefängnis geholt und in einen Zug verfrachtet. Sie können es kaum glauben, dass der Zug nicht Richtung Auschwitz fährt. Es geht quer durch Deutschland in ein Internierungslager nach Frankreich. Ein Jahr später fahren sie mit einem Schiff von Lissabon aus in die USA. Im März 1944 erreicht das Schiff New York.
"Am 14. März schälten sich bei Anbruch der Nacht allmählich die Umrisse der amerikanischen Küste aus dem Nebel … Ich sah die Wolkenkratzer von New York, aber meine Gedanken waren in Warschau."
Wie so viele Überlebende quälte es Mary Berg, dass sie der Shoah entkam, während ihre Verwandten, Freunde, Nachbarn es nicht geschafft hatten.
Ihnen hat sie in ihren Tagebüchern ein Denkmal gesetzt. Im Februar 1945 erschienen ihre Aufzeichnungen in New York als Buch. Es waren die ersten Augenzeugenberichte aus dem Warschauer Getto. Schon zwischen September 1944 und Januar 1945 war eine deutsche Übersetzung in der New Yorker Exil-Zeitung "Aufbau" veröffentlicht worden. Doch erst jetzt, 74 Jahre nach dem Ende des Holocaust, erscheinen Mary Bergs Tagebücher zum ersten Mal als Buch auf Deutsch.
Mary Berg: "Wann wird diese Hölle enden? Das Tagebuch der Mary Berg. Das Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebte". Herausgegeben von Susan Lee Pentlin. Aus dem Englischen von Maria Zettner. Orell Füssli Verlag Zürich, 2019, 356 Seiten, 23 Euro.