Leon Schwarzbaum ist 97 Jahre alt. Er versorgt sich selbst und lebt allein in seiner Berliner Wohnung. Nach Jahrzehnten der Verdrängung, seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren, spricht Leon Schwarzbaum über seine Geschichte: über die Zeit vom August 1943 bis März 1944 im Konzentrationslager Auschwitz. Er hält Vorträge in Schulen. Im vergangenen Jahr drehte der Regisseur Hans-Erich Viet einen Film über ihn: Ein "Roadmovie" mit dem 97-jährigen Holocaust-Überlebenden Leon Schwarzbaum.
"Täglich beschäftigt mich das, das Thema. Mich beschäftigt das Thema: Warum hat man meine Eltern umgebracht? Das waren gute Menschen. Warum hat man das getan? Was war die Pflicht der deutschen Behörden, meine Eltern umzubringen? Ich habe bis heute keine Antwort darauf. Hab keine Antwort."
Neid als Motiv
Leon Schwarzbaum kennt die Antwort: Es war der maßlose Neid der deutschen Mehrheitsbevölkerung auf die jüdischen Deutschen – ein Neid, der umschlug in Rassismus und Vernichtungswahn. Ja, das sei die richtige Antwort, sagt Schwarzbaum. Er hätte sich nur gewünscht, sie von einem Täter zu hören, von einem ehemaligen SS-Mann zum Beispiel. Aber das ist bis heute nicht passiert. Von den nichtjüdischen Zeitzeugen kennt Leon Schwarzbaum immer nur eine und dieselbe Reaktion: Schweigen. Seine Botschaft zum Gedenktag an die Shoah ist eindeutig: Er bittet die Deutschen, sich in den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager ein Bild zu machen, sich ihrer "jüngsten" Geschichte zu erinnern.
"Es ist unbegreiflich und unvorstellbar, was Menschen gelitten haben und was Menschen ausgehalten haben. Was Menschen Menschen antun können, das begleitet mich mein ganzes Leben."
Vergebliches Werben um Empathie
Leon Schwarzbaum wirbt um die Empathie, die ihm bis heute viele verweigern. Er wurde 1921 in Hamburg geboren, aber als er drei Jahre alt war, zog die Familie in die Heimat der Mutter zurück, in den polnischen Teil von Oberschlesien. Als Jugendlicher machte er mit Freunden Musik, liebte amerikanischen Swing. 1939 brach das Unheil über die Familie herein, wie er sagt: die deutsche Besatzung. Seine Heimatstadt Bedzin wurde zum jüdischen Ghetto. Im Juni 1943 wurde Leon Schwarzbaums gesamte Familie ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und ermordet. Zwei Monate später wurde auch Leon Schwarzbaum dorthin verschleppt. Er überlebte als Laufbursche des Lagerältesten, eines brutalen Kriminellen.
"Im Lager haben wir nichts gehabt. Nur Hunger, Läuse und Schläge und Angst vorm Sterben. Das hatte Jeder. Angst vorm Sterben."
Später war Schwarzbaum in Buchenwald und in Berlin-Haselhorst interniert. Am 5. Mai befreiten ihn amerikanische Soldaten auf einem Todesmarsch in der Nähe von Schwerin. Jahrzehntelang wollte Leon Schwarzbaum nichts mehr davon wissen – schwer traumatisiert durch die Brutalität der Erfahrungen in Auschwitz.
"Ich wollte leben, ich wollte leben, und ich wollte auch teils vergessen. Meine ganze Familie ist ermordet worden, wissen Sie. Wenn Sie alle Liebsten verlieren auf einmal, an einem Tag alle. Das waren 35 Menschen, die mir lieb waren. Ich wollte mir das Leben nehmen. Ich habe aber nicht die Kraft und die Entschlossenheit gehabt, das zu tun."
Die Pflicht, zu erzählen
Im Februar wird Leon Schwarzbaum 98. Heute sieht er es als seine Pflicht an, seine Geschichte zu erzählen, als Zeitzeuge des Holocaust aufzutreten. Im Auschwitz-Prozess gegen den SS-Unterscharführer Reinhold Hanning trat er im Februar 2016 als Nebenkläger auf. Schwarzbaum stellte ihm Fragen, schrieb ihm einen Brief. Hanning blieb stumm. Das Schweigen der Täter verfolgt Leon Schwarzbaum. Sie zeigten weder Zweifel an ihren Taten noch Reue. Dieses Schweigen holte ihn einmal auch an einer festlichen Hochzeitstafel ein.
"An unserem Tisch saß noch ein Mann mit einem weißen Jackett. Da sagt er zu fortgeschrittener Stunde, sagt er zu mir: Wo warst Du, Kamerad? Ich war bei der SS. Da sagt meine Frau zu ihm: Mein Mann war in Auschwitz. Da ist er aufgestanden und weggegangen."
Der ehemalige SS-Mann im weißen Jackett habe sich enttäuscht und überrascht von ihm abgewandt, erzählt Leon Schwarzbaum.