"Wir reden mit" - heute mit dem neuen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Herzlich willkommen auf der Volksversammlung auf dem Marktplatz."
Bürgernah im Nieselregen. Anfang Juni drängeln sich etwa 3000 Menschen auf dem Stuttgarter Marktplatz. Volksversammlung nennt sich die Veranstaltung. Unter dem Titel "Wir reden mit" sollen die Bürger zu Wort kommen, so die Idee der Initiatoren. Wie einst im antiken Athen können sie öffentlich Fragen an die Mächtigen stellen. Vier Mikrofone stehen bereit. Zur Premiere ist Winfried Kretschmann gekommen. Gerade drei Wochen ist er zu diesem Zeitpunkt im Amt - der erste Grüne an der Spitze eines Bundeslandes. Er hat den Baden-Württembergern einen neuen Regierungsstil versprochen, eine "Politik des Gehörtwerdens".
"Ich habe die hohen Erwartungen gespürt, dass man einfach - es ist ein bisschen schon abgegriffen, aber ich sage es noch mal - einfach auf Augenhöhe mit den Leuten redet. Ganz normal und sehr ernsthaft mit ihnen bespricht, was es zu besprechen gibt."
Einige Zuhörer rufen Bravo, andere buhen, manche klatschen. Der 63-Jährige ist kein begnadeter Redner, er spricht langsam, nachdenklich, bedächtig. Im Landtagswahlkampf galt er als Kandidat zum Anfassen, der sich am liebsten unter die Leute mischte.
An diesem Abend trägt Kretschmann einen feinen Anzug. Ein Zeltdach schützt ihn vor dem Regen. Vier Bodyguards sorgen zusätzlich für Distanz. Man sieht ihm deutlich an, dass er sich nicht wohlfühlt - oben auf der Rathaustreppe mit dem Volk zu seinen Füßen. Die allermeisten geben sich - mit Stickern am Revers - als entschiedene Gegner von Stuttgart21 zu erkennen.
Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima zwei Wochen vor der Landtagswahl am 27. März hat den Grünen das sagenhafte Ergebnis von 24,2 Prozent beschert. Im konservativen Baden-Württemberg eine Sensation. Hinzu kam: Der auf der Straße eskalierte Konflikt um Stuttgart21 kostete die seit 58 Jahren regierenden CDU Stimmen und letztendlich die Macht.
"Was ich von der Bürgergesellschaft erwarte, ist, dass der Streit zivilisiert bleibt. (Jawohl-Rufe) Weil ich sehe natürlich auch, dass Teile solcher Proteste, die neigen zu Fanatismus. (Ja-/Nein-Rufe) Und wir müssen immer schauen, dass der Streit zivilisiert bleibt. Und das ist eine Bringschuld der Bürgergesellschaft. Wenn wir das nicht erreichen, öffnen wir die Tür Populisten und Demagogen - und das ist gefährlich."
Den Ministerpräsidenten treibt die Sorge um, dass der Streit um die Tieferlegung des Hauptbahnhofs wieder eskalieren könnte - wie am sogenannten Schwarzen Donnerstag. Ende September des vergangenen Jahres war es im Stuttgarter Schlossgarten zu schweren Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen. Auch bei der Volksversammlung auf dem Marktplatz ist die Stimmung gereizt. Befürworter des Tiefbahnhofs, die sich an die Mikrofone trauen, werden mit Pfiffen gestört und niedergebrüllt.
"(Pfiffe, Buhrufe) Wir sind hier auf einer Bürgerversammlung, habe ich gedacht. Und wir werden beschimpft, bespuckt, (wir auch) wir werden jetzt wieder zusammengeschrien, die meisten von uns sind noch nicht mal Mitglied einer Partei. Also, dass jemand, nur weil er für Stuttgart21 ist, angegriffen oder bespuckt wird, (Ruf Lügenpack) ist natürlich (Ruf Lügenpack) völlig indiskutabel."
"Lügenpack", ruft ein Mann in der Menge. Kretschmann ist sichtlich irritiert. Bislang wurde so sein CDU-Vorgänger Stefan Mappus beschimpft. Kretschmann war mit Aussagen zu Stuttgart21 immer vorsichtig, während seine grüne Partei vor der Landtagswahl so getan hat, als sei der Ausstieg aus dem Projekt überhaupt kein Problem. "Lügenpack", schallt es erneut über den Marktplatz. Der besonnene Schwabe ist nur selten aus der Ruhe zu bringen, jetzt ist er aufgebracht.
"Es gibt einfach nicht so etwas wie Lüge und Wahrheit. (Zwischenruf Doch!) Nein, das sehe ich nicht so, tut mir leid. Jede Seite hat gute Argumente. Gute Argumente heißt: Jeder kann die nachvollziehen. Aber die Vorstellung, es gebe in der Demokratie eine Instanz, die sozusagen über allem entscheiden kann, was wahr und falsch ist - ich bitte Sie, verabschieden Sie sich davon.
100 Tage ist die grün-rote Landesregierung morgen im Amt und hat bereits einiges umgesetzt. In Philipsburg und Neckarwestheim sind zwei der vier baden-württembergischen Atommeiler vom Netz. Die Energiewende ist eingeleitet, die Einheitsschule beschlossen, für einbürgerungswillige Zuwanderer wird der Gesinnungstest abgeschafft und für Studenten die Studiengebühren. Nur, dafür interessiert sich so gut wie keiner.
Der Regierungschef und sein Juniorpartner von der SPD, Nils Schmid, werden einzig über ein Thema wahrgenommen: Stuttgart21, der Stolperstein für die Koalition. Denn Grün kämpft gegen, Rot vehement für das maximal 4,5 Milliarden Euro teure Bahnprojekt. Diesen handfesten Krach sollen Ende des Jahres nun die Bürger in einem Volksentscheid lösen.
Kretschmann:
""So ein wichtiger Dissens in einem so entscheidenden Thema ist ja normalerweise Koalitions-verhindernd. Dadurch, dass wir uns geeinigt haben auf eine Volksabstimmung, konnten wir trotzdem miteinander eine Regierung machen. Also, ich bin zufrieden."
Schmid:
"Man hätte sich die eine oder andere Debatte über Stuttgart21 vielleicht sparen können, aber so ist es nun mal."
Schmids Seitenhieb gilt dem Buhmann der Koalition: Verkehrsminister Winfried Herrmann. Im Bundestag, als Vorsitzender des Verkehrsausschusses, war der Grüne ein angesehener Mann. Selbst Bundesverkehrsminister Ramsauer und Bahnchef Grube schätzten ihn als sachkundigen Gesprächspartner, der sich mit Fahrplänen und Taktzeiten auskennt wie kaum ein zweiter. Der Wechsel des Bundestagsabgeordneten nach Stuttgart überraschte im Mai selbst seine Freunde. Sie warnten ihn, er ziehe in eine Schlacht, die er nicht gewinnen könne.
"Man sollte sich nicht überschätzen, ein Minister ist nicht allmächtig, in einer Demokratie schon gar nicht. Natürlich kann vieles schiefgehen, und es wird sicherlich schwer werden."
Der leidenschaftliche Bahnhofsgegner stürzte sich mit Eifer ins neue Amt - und ist nach drei Monaten im Ministersessel doch eher ein Oppositionspolitiker geblieben. Er werde die Zuständigkeit für Stuttgart21 abgeben, falls der Bahnhof gebaut wird, verkündete der 58-Jährige gleich zu Anfang forsch. Was ihm Gelächter und einen leisen Rüffel seines Chefs einbrachte.
"Ich bin Ministerpräsident und kein Folterknecht."
Doch auch in den folgenden Wochen ließ Herrmann kaum ein Fettnäpfchen aus. Als die Bahn kurz nach Pfingsten die Bauarbeiten wieder aufnahm, kam es zu Gewalttaten: 20 Polizeibeamte wurden leicht, zwei schwer verletzt. Herrmann schimpfte öffentlich gegen die Polizei. Der Innenminister, ein Sozialdemokrat, schäumte. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel polterte:
"Dass der Verkehrsminister dieses Projekt nicht mag, ist bekannt. Und an dem Verfahren gibt es nichts zu rütteln. Solange interpretiert halt jeder, wie er sich's denkt und wünscht."
Kurz vor der Präsentation des Stresstests mit Schlichter Heiner Geißler dann die Nachricht, Stuttgart21 hat den Leistungsnachweis bestanden. Die Grünen hatten sich anderes erhofft. Die Bahn drohte der neuen Regierung bei Vertragsbruch prompt mit Schadenersatz- und Regresszahlungen von bis zu 1,5 Milliarden Euro. Herrmann wiederum warf dem Unternehmen vor, seinem Ministerium wichtige Unterlagen vorzuenthalten. Am Ende des Disputs stand die Frage, ob er die Öffentlichkeit belogen hat. Die oppositionelle CDU forderte seinen Rücktritt. Kretschmann musste sich schützend vor seinen Minister stellen:
"Der Minister Winfried Hermann ist ein ehrenwerter Mann, der nicht lügt. Und das völlig abwegig, der Vorwurf. Deswegen wird er auch nicht zurücktreten, weil das haltlose Vorwürfe sind."
Der aus Tübingen stammende Herrmann gehört dem linken Flügel der Grünen an. Unter den Realos, die den baden-württembergischen Landesverband dominieren, hat der 58-Jährige nicht viele Freunde. Und selbst die äußern sich hinter vorgehaltener Hand zunehmend genervt: Der Minister habe nur Stuttgart21 im Kopf, weshalb Grün-Rot mit keinem anderen Thema wahrgenommen werde. Doch Kretschmann lässt ihn nicht fallen. Denn Herrmann ist als Galionsfigur des Widerstands für die Grünen wichtig. Die nichts mehr fürchten, als ihre eigene Klientel zu enttäuschen.
"Ich möchte hier nicht aus dem Raum gehen ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, einen Beitrag zu leisten für eine friedliche Lösung, für eine Kompromisslösung dieses Streites. Denn auch die Volksabstimmung wird ja keine friedliche Lösung bringen, sondern da wird es Sieger und Besiegte geben."
Heiner Geißlers Kompromissvorschlag mit dem pathetischen Titel "Frieden für Stuttgart" nahm Hermann vorübergehend aus der Schusslinie. Die Lösung des Schlichters - eine Kombination aus Kopf- und Tiefbahnhof - sorgte in der Folge aber für den ersten ernsthaften Koalitionskrach.
Es folgte eine Telefonkonferenz zwischen den in den Urlaub verreisten Akteuren. Über zwei Stunden dauerte das Gespräch. Bei dem es - so wird berichtet - sehr laut wurde. Was Kretschmann in den Koalitionsverhandlungen noch eine Liebesheirat nannte, scheint inzwischen ein platonisches Verhältnis zu sein. Grüne und Sozialdemokraten mögen sich nur noch öffentlich. Zu oft hat es wegen des Tiefbahnhofs bereits gekracht. Und selbst der Ministerpräsident glaubt nicht wirklich daran, Stuttgart21 noch verhindern zu können.
Es bedarf schon eines Wunders, die Volksabstimmung zu gewinnen, sagte er im "Stern". Der Volksentscheid könnte am hohen Quorum scheitern; da weit mehr Bürger daran teilnehmen müssten als Grün-Rot bei der Landtagswahl Stimmen hatte. Stand heute sieht es danach aus, als hätten die Befürworter eine Mehrheit.
"Das Volk hat das Wort. Und der Souverän entscheidet das letztlich selber. Und das gilt - fertig, aus, Amen."
Doch das eigentliche Drama, das durch den Streit nur kaschiert wird, spielt sich hinter den Kulissen ab. Kretschmanns Verhältnis zu seinem Vize wird von Insidern als zerrüttet beschrieben. Der Regierungschef und sein um fast 30 Jahre jüngerer Superminister finden keinen Draht zueinander.
Für Wirtschaft und Finanzen zuständig, hat Nils Schmid eigentlich eine machtvolle Position. Dennoch sucht der SPD-Politiker immer noch nach seiner Rolle. Zumal sich viele Sozialdemokraten bis heute mit der Rolle des Juniorpartners nicht abgefunden haben.
"Wir sind in der Sache gut unterwegs, wir sind in der Arbeitsatmosphäre gut unterwegs - im Kabinett, mit den Regierungsfraktionen. Wir haben eine Mehrheit, die gut miteinander harmoniert. Und das wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wenn wir Schritt für Schritt die inhaltlichen Themen abarbeiten werden."
Grün-Rot hat sich für die kommenden fünf Jahre viel vorgenommen. Das Land soll Modell ökologisch orientierten Wirtschaftens werden. In seiner ersten Regierungserklärung erinnerte Winfried Kretschmann an den Erfindergeist der Baden-Württemberger, nannte Gottlieb Daimler und Robert Bosch beim Namen und kündigte an, seine Koalition stünde für eine neue Gründerzeit:
"Nur nichts verkommen lassen, ist das nicht eine überzeugende schwäbische Übersetzung für Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit braucht Veränderung. Verantwortung für Nachhaltigkeit und Erfolg durch Nachhaltigkeit, das ist für mich das Leitmotiv der Politik der grün-roten Landesregierung in den nächsten fünf Jahren. Wo, wenn nicht hier, in diesem wirtschaftsstarken Land, können wir zeigen, dass Ökonomie und Ökologie nicht nur keine Gegensätze sein dürfen, sondern sich gegenseitig bedingen und befruchten."
Auch Musterland für erneuerbare Energien soll der Südwesten werden: Bis 2020 sollen zehn Prozent des Stroms aus Windkraft kommen, auch wenn es Widerstände gegen Windräder gibt.
Ärger droht Grün-Rot bald von Seiten der Kommunen. Viele Bürgermeister kritisieren die geplante Erhöhung der Grunderwerbssteuer von derzeit 3,5 auf fünf Prozent. Es geht die Angst um, junge Familien könnten sich vom "Häuslebau" abschrecken lassen. Immerhin verspricht die Regierung, die Mehreinnahmen in den Ausbau von Krippenplätzen zu investieren. Doch dass die Koalitionäre einerseits Sparsamkeit predigen, andererseits im Nachtragshaushalt des laufenden Jahres 560 Millionen Euro neue Schulden aufnehmen wollen - kommt gar nicht gut an.
Die Unternehmer im Land reagieren dann auch abwartend. Man werde die Neuen in kritischer Solidarität begleiten, erklärt der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags, Peter Kulitz, diplomatisch:
"Was wir sehr begrüßen, ist der unbedingte Wille des Ministerpräsidenten zum Schuldenabbau, aber auch zur Gleichrangigkeit zwischen Ökologie und Ökonomie. Der Weg dorthin, das wird das Interessante sein, da bin ich mir nicht so sicher, ob wir da immer den Gleichklang haben, denn was nicht sein darf ist, dass man durch entsprechende Maßnahmen die Leistungsfähigkeit der baden-württembergischen Wirtschaft einschränkt oder behindert."
Ein Bürgerempfang in Leinfelden-Echterdingen Ende Juli. Winfried Kretschmann mag diese Termine. Er kommt sogar eine Viertelstunde zu früh in der Halle an. Kurze Rede des Oberbürgermeisters, Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, der Ministerpräsident bedankt sich - dann mischt er sich unters Volk. Er plaudert, das Bierglas in der einen, die Laugenbrezel in der anderen Hand. Fast zwei Stunden lang hört der 63-Jährige vor allem zu.
Seine vier Bodyguards bleiben im Hintergrund, der groß gewachsenen Politiker mit dem weißen Bürsten-Haarschnitt ist sowieso nicht zu übersehen. Ein älteres Ehepaar spricht ihn auf seine Umzugspläne an. Kretschmann überlegt, der Villa Reitzenstein den Rücken zu kehren - ein Politikum. Denn bislang residierten alle Ministerpräsidenten in der über dem Stuttgarter Talkessel thronenden Regierungszentrale. Die Villa muss saniert werden, und er will mit seinen Beamten sowieso lieber runter in die Stadt. Er sagt: Näher ans Leben. Ein Herr outet sich als eingefleischter CDU-Wähler. Mit dem grünen Ministerpräsidenten ist er trotzdem hochzufrieden.
"Obwohl ich CDU bin, die älteren Grünen sind heute fast bürgerlicher wie die CDU. Also, ein Wechsel ist immer gut. Ich finde, der macht seine Aufgabe sehr gut. Er steht ja vor großen Herausforderungen. Da müssen die sich selbst noch rein finden, aber ich denke, die können es packen. Ich bin froh, dass er jetzt dran ist: 30 Jahre Opposition, bohren dicker Bretter, der kennt sich richtig gut aus. Er ist ein großes Pfund für die Grünen. Durch seine sachliche, menschliche Art kommt er bei den Leuten an."
Der grüne Landesvater ist weit über die Grenzen seiner Partei hinaus beliebt; wird als bodenständig, bescheiden und wertkonservativ beschrieben. Nicht ohne Grund warnt der Vordenker der Landes-SPD, Erhard Eppler, die Koalition davor, diesen Vertrauensvorschuss der Wähler durch den Dauerstreit um Stuttgart21 zu verspielen. Und in der Tat haben viele Bürger den Clinch um den Tiefbahnhof längst satt. Kretschmann weiß auch um diese Stimmung. Auf dem Bürgerempfang spricht der 63-Jährige das Thema kurz an. Erzählt, dass er lange Jahre in Leinfelden-Echterdingen gelebt, hier seine Karriere bei den Grünen begonnen hat. Hier kämpfte er verbissen gegen den milliardenschweren Bau der neuen Landesmesse. Und kassierte eine herbe Niederlage.
"Es kam ja in einer größeren Zeitung dieser Tage ein großer Bericht über Leinfelden-Echterdingen, und dass es sich jetzt als Messestadt feiert. Und der Artikelschreiber hat sich darüber etwas mokiert. Das ist sozusagen die Haltung, als müsse man, wenn man gegen die Messe war, und sie jetzt doch steht, irgendwie immer drum herum laufen. Das ist die Haltung, die uns alle irgendwie in Fundamentalisten verwandeln würde, sind wir aber nicht. Wir sind praktisch denkende Leute, und auch ich fahre auf Autobahnen gegen die ich war. Ja. Und das finde ich auch ziemlich normal."
Eine Niederlage akzeptieren? Ja, erzählen Parteifreunde, die ihn seit langem kennen, Kretschmann kann das. Ob es seine Partei auch kann? Nicht alle örtlichen Grünen sind sich da so sicher. So manche prominente Grüne würden den Widerstand gegen Stuttgart21 wie ein Mantra vor sich hertragen, schimpfen sie leise. Es sei ein offenes Geheimnis, dass der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer nur darauf warte, Kretschmann zu beerben. Ingrid Grischtschenko, grüne Fraktionschefin im Gemeinderat:
""Stuttgart21 war und ist immer ein Stolperstein. Aber Kretschmann hat intern immer gesagt, weil wir ihn immer gefragt haben: Ja, was machst Du, wenn das anders ausgeht. Dann hat er immer gesagt: Ich kann mir das Volk nicht aussuchen. Dann regiere ich eben dieses Volk."
1.827 Tage dauert die Legislaturperiode des baden-württembergischen Landtages noch. Ein klägliches Scheitern können sich Grüne und SPD kaum leisten.
Morgen zieht Winfried Kretschmann in Berlin 100-Tage-Bilanz. Neben ihm wird Renate Künast sitzen. Sie hofft, dass für sie im Berliner Wahlkampfendspurt etwas von seinem Glanz auf sie abfällt. Der stets eine grüne Krawatte tragende 63-Jährige muss - auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 - beweisen, dass ein Grüner sehr wohl eine Regierung und ein Land führen kann.
Bürgernah im Nieselregen. Anfang Juni drängeln sich etwa 3000 Menschen auf dem Stuttgarter Marktplatz. Volksversammlung nennt sich die Veranstaltung. Unter dem Titel "Wir reden mit" sollen die Bürger zu Wort kommen, so die Idee der Initiatoren. Wie einst im antiken Athen können sie öffentlich Fragen an die Mächtigen stellen. Vier Mikrofone stehen bereit. Zur Premiere ist Winfried Kretschmann gekommen. Gerade drei Wochen ist er zu diesem Zeitpunkt im Amt - der erste Grüne an der Spitze eines Bundeslandes. Er hat den Baden-Württembergern einen neuen Regierungsstil versprochen, eine "Politik des Gehörtwerdens".
"Ich habe die hohen Erwartungen gespürt, dass man einfach - es ist ein bisschen schon abgegriffen, aber ich sage es noch mal - einfach auf Augenhöhe mit den Leuten redet. Ganz normal und sehr ernsthaft mit ihnen bespricht, was es zu besprechen gibt."
Einige Zuhörer rufen Bravo, andere buhen, manche klatschen. Der 63-Jährige ist kein begnadeter Redner, er spricht langsam, nachdenklich, bedächtig. Im Landtagswahlkampf galt er als Kandidat zum Anfassen, der sich am liebsten unter die Leute mischte.
An diesem Abend trägt Kretschmann einen feinen Anzug. Ein Zeltdach schützt ihn vor dem Regen. Vier Bodyguards sorgen zusätzlich für Distanz. Man sieht ihm deutlich an, dass er sich nicht wohlfühlt - oben auf der Rathaustreppe mit dem Volk zu seinen Füßen. Die allermeisten geben sich - mit Stickern am Revers - als entschiedene Gegner von Stuttgart21 zu erkennen.
Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima zwei Wochen vor der Landtagswahl am 27. März hat den Grünen das sagenhafte Ergebnis von 24,2 Prozent beschert. Im konservativen Baden-Württemberg eine Sensation. Hinzu kam: Der auf der Straße eskalierte Konflikt um Stuttgart21 kostete die seit 58 Jahren regierenden CDU Stimmen und letztendlich die Macht.
"Was ich von der Bürgergesellschaft erwarte, ist, dass der Streit zivilisiert bleibt. (Jawohl-Rufe) Weil ich sehe natürlich auch, dass Teile solcher Proteste, die neigen zu Fanatismus. (Ja-/Nein-Rufe) Und wir müssen immer schauen, dass der Streit zivilisiert bleibt. Und das ist eine Bringschuld der Bürgergesellschaft. Wenn wir das nicht erreichen, öffnen wir die Tür Populisten und Demagogen - und das ist gefährlich."
Den Ministerpräsidenten treibt die Sorge um, dass der Streit um die Tieferlegung des Hauptbahnhofs wieder eskalieren könnte - wie am sogenannten Schwarzen Donnerstag. Ende September des vergangenen Jahres war es im Stuttgarter Schlossgarten zu schweren Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen. Auch bei der Volksversammlung auf dem Marktplatz ist die Stimmung gereizt. Befürworter des Tiefbahnhofs, die sich an die Mikrofone trauen, werden mit Pfiffen gestört und niedergebrüllt.
"(Pfiffe, Buhrufe) Wir sind hier auf einer Bürgerversammlung, habe ich gedacht. Und wir werden beschimpft, bespuckt, (wir auch) wir werden jetzt wieder zusammengeschrien, die meisten von uns sind noch nicht mal Mitglied einer Partei. Also, dass jemand, nur weil er für Stuttgart21 ist, angegriffen oder bespuckt wird, (Ruf Lügenpack) ist natürlich (Ruf Lügenpack) völlig indiskutabel."
"Lügenpack", ruft ein Mann in der Menge. Kretschmann ist sichtlich irritiert. Bislang wurde so sein CDU-Vorgänger Stefan Mappus beschimpft. Kretschmann war mit Aussagen zu Stuttgart21 immer vorsichtig, während seine grüne Partei vor der Landtagswahl so getan hat, als sei der Ausstieg aus dem Projekt überhaupt kein Problem. "Lügenpack", schallt es erneut über den Marktplatz. Der besonnene Schwabe ist nur selten aus der Ruhe zu bringen, jetzt ist er aufgebracht.
"Es gibt einfach nicht so etwas wie Lüge und Wahrheit. (Zwischenruf Doch!) Nein, das sehe ich nicht so, tut mir leid. Jede Seite hat gute Argumente. Gute Argumente heißt: Jeder kann die nachvollziehen. Aber die Vorstellung, es gebe in der Demokratie eine Instanz, die sozusagen über allem entscheiden kann, was wahr und falsch ist - ich bitte Sie, verabschieden Sie sich davon.
100 Tage ist die grün-rote Landesregierung morgen im Amt und hat bereits einiges umgesetzt. In Philipsburg und Neckarwestheim sind zwei der vier baden-württembergischen Atommeiler vom Netz. Die Energiewende ist eingeleitet, die Einheitsschule beschlossen, für einbürgerungswillige Zuwanderer wird der Gesinnungstest abgeschafft und für Studenten die Studiengebühren. Nur, dafür interessiert sich so gut wie keiner.
Der Regierungschef und sein Juniorpartner von der SPD, Nils Schmid, werden einzig über ein Thema wahrgenommen: Stuttgart21, der Stolperstein für die Koalition. Denn Grün kämpft gegen, Rot vehement für das maximal 4,5 Milliarden Euro teure Bahnprojekt. Diesen handfesten Krach sollen Ende des Jahres nun die Bürger in einem Volksentscheid lösen.
Kretschmann:
""So ein wichtiger Dissens in einem so entscheidenden Thema ist ja normalerweise Koalitions-verhindernd. Dadurch, dass wir uns geeinigt haben auf eine Volksabstimmung, konnten wir trotzdem miteinander eine Regierung machen. Also, ich bin zufrieden."
Schmid:
"Man hätte sich die eine oder andere Debatte über Stuttgart21 vielleicht sparen können, aber so ist es nun mal."
Schmids Seitenhieb gilt dem Buhmann der Koalition: Verkehrsminister Winfried Herrmann. Im Bundestag, als Vorsitzender des Verkehrsausschusses, war der Grüne ein angesehener Mann. Selbst Bundesverkehrsminister Ramsauer und Bahnchef Grube schätzten ihn als sachkundigen Gesprächspartner, der sich mit Fahrplänen und Taktzeiten auskennt wie kaum ein zweiter. Der Wechsel des Bundestagsabgeordneten nach Stuttgart überraschte im Mai selbst seine Freunde. Sie warnten ihn, er ziehe in eine Schlacht, die er nicht gewinnen könne.
"Man sollte sich nicht überschätzen, ein Minister ist nicht allmächtig, in einer Demokratie schon gar nicht. Natürlich kann vieles schiefgehen, und es wird sicherlich schwer werden."
Der leidenschaftliche Bahnhofsgegner stürzte sich mit Eifer ins neue Amt - und ist nach drei Monaten im Ministersessel doch eher ein Oppositionspolitiker geblieben. Er werde die Zuständigkeit für Stuttgart21 abgeben, falls der Bahnhof gebaut wird, verkündete der 58-Jährige gleich zu Anfang forsch. Was ihm Gelächter und einen leisen Rüffel seines Chefs einbrachte.
"Ich bin Ministerpräsident und kein Folterknecht."
Doch auch in den folgenden Wochen ließ Herrmann kaum ein Fettnäpfchen aus. Als die Bahn kurz nach Pfingsten die Bauarbeiten wieder aufnahm, kam es zu Gewalttaten: 20 Polizeibeamte wurden leicht, zwei schwer verletzt. Herrmann schimpfte öffentlich gegen die Polizei. Der Innenminister, ein Sozialdemokrat, schäumte. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel polterte:
"Dass der Verkehrsminister dieses Projekt nicht mag, ist bekannt. Und an dem Verfahren gibt es nichts zu rütteln. Solange interpretiert halt jeder, wie er sich's denkt und wünscht."
Kurz vor der Präsentation des Stresstests mit Schlichter Heiner Geißler dann die Nachricht, Stuttgart21 hat den Leistungsnachweis bestanden. Die Grünen hatten sich anderes erhofft. Die Bahn drohte der neuen Regierung bei Vertragsbruch prompt mit Schadenersatz- und Regresszahlungen von bis zu 1,5 Milliarden Euro. Herrmann wiederum warf dem Unternehmen vor, seinem Ministerium wichtige Unterlagen vorzuenthalten. Am Ende des Disputs stand die Frage, ob er die Öffentlichkeit belogen hat. Die oppositionelle CDU forderte seinen Rücktritt. Kretschmann musste sich schützend vor seinen Minister stellen:
"Der Minister Winfried Hermann ist ein ehrenwerter Mann, der nicht lügt. Und das völlig abwegig, der Vorwurf. Deswegen wird er auch nicht zurücktreten, weil das haltlose Vorwürfe sind."
Der aus Tübingen stammende Herrmann gehört dem linken Flügel der Grünen an. Unter den Realos, die den baden-württembergischen Landesverband dominieren, hat der 58-Jährige nicht viele Freunde. Und selbst die äußern sich hinter vorgehaltener Hand zunehmend genervt: Der Minister habe nur Stuttgart21 im Kopf, weshalb Grün-Rot mit keinem anderen Thema wahrgenommen werde. Doch Kretschmann lässt ihn nicht fallen. Denn Herrmann ist als Galionsfigur des Widerstands für die Grünen wichtig. Die nichts mehr fürchten, als ihre eigene Klientel zu enttäuschen.
"Ich möchte hier nicht aus dem Raum gehen ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, einen Beitrag zu leisten für eine friedliche Lösung, für eine Kompromisslösung dieses Streites. Denn auch die Volksabstimmung wird ja keine friedliche Lösung bringen, sondern da wird es Sieger und Besiegte geben."
Heiner Geißlers Kompromissvorschlag mit dem pathetischen Titel "Frieden für Stuttgart" nahm Hermann vorübergehend aus der Schusslinie. Die Lösung des Schlichters - eine Kombination aus Kopf- und Tiefbahnhof - sorgte in der Folge aber für den ersten ernsthaften Koalitionskrach.
Es folgte eine Telefonkonferenz zwischen den in den Urlaub verreisten Akteuren. Über zwei Stunden dauerte das Gespräch. Bei dem es - so wird berichtet - sehr laut wurde. Was Kretschmann in den Koalitionsverhandlungen noch eine Liebesheirat nannte, scheint inzwischen ein platonisches Verhältnis zu sein. Grüne und Sozialdemokraten mögen sich nur noch öffentlich. Zu oft hat es wegen des Tiefbahnhofs bereits gekracht. Und selbst der Ministerpräsident glaubt nicht wirklich daran, Stuttgart21 noch verhindern zu können.
Es bedarf schon eines Wunders, die Volksabstimmung zu gewinnen, sagte er im "Stern". Der Volksentscheid könnte am hohen Quorum scheitern; da weit mehr Bürger daran teilnehmen müssten als Grün-Rot bei der Landtagswahl Stimmen hatte. Stand heute sieht es danach aus, als hätten die Befürworter eine Mehrheit.
"Das Volk hat das Wort. Und der Souverän entscheidet das letztlich selber. Und das gilt - fertig, aus, Amen."
Doch das eigentliche Drama, das durch den Streit nur kaschiert wird, spielt sich hinter den Kulissen ab. Kretschmanns Verhältnis zu seinem Vize wird von Insidern als zerrüttet beschrieben. Der Regierungschef und sein um fast 30 Jahre jüngerer Superminister finden keinen Draht zueinander.
Für Wirtschaft und Finanzen zuständig, hat Nils Schmid eigentlich eine machtvolle Position. Dennoch sucht der SPD-Politiker immer noch nach seiner Rolle. Zumal sich viele Sozialdemokraten bis heute mit der Rolle des Juniorpartners nicht abgefunden haben.
"Wir sind in der Sache gut unterwegs, wir sind in der Arbeitsatmosphäre gut unterwegs - im Kabinett, mit den Regierungsfraktionen. Wir haben eine Mehrheit, die gut miteinander harmoniert. Und das wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wenn wir Schritt für Schritt die inhaltlichen Themen abarbeiten werden."
Grün-Rot hat sich für die kommenden fünf Jahre viel vorgenommen. Das Land soll Modell ökologisch orientierten Wirtschaftens werden. In seiner ersten Regierungserklärung erinnerte Winfried Kretschmann an den Erfindergeist der Baden-Württemberger, nannte Gottlieb Daimler und Robert Bosch beim Namen und kündigte an, seine Koalition stünde für eine neue Gründerzeit:
"Nur nichts verkommen lassen, ist das nicht eine überzeugende schwäbische Übersetzung für Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit braucht Veränderung. Verantwortung für Nachhaltigkeit und Erfolg durch Nachhaltigkeit, das ist für mich das Leitmotiv der Politik der grün-roten Landesregierung in den nächsten fünf Jahren. Wo, wenn nicht hier, in diesem wirtschaftsstarken Land, können wir zeigen, dass Ökonomie und Ökologie nicht nur keine Gegensätze sein dürfen, sondern sich gegenseitig bedingen und befruchten."
Auch Musterland für erneuerbare Energien soll der Südwesten werden: Bis 2020 sollen zehn Prozent des Stroms aus Windkraft kommen, auch wenn es Widerstände gegen Windräder gibt.
Ärger droht Grün-Rot bald von Seiten der Kommunen. Viele Bürgermeister kritisieren die geplante Erhöhung der Grunderwerbssteuer von derzeit 3,5 auf fünf Prozent. Es geht die Angst um, junge Familien könnten sich vom "Häuslebau" abschrecken lassen. Immerhin verspricht die Regierung, die Mehreinnahmen in den Ausbau von Krippenplätzen zu investieren. Doch dass die Koalitionäre einerseits Sparsamkeit predigen, andererseits im Nachtragshaushalt des laufenden Jahres 560 Millionen Euro neue Schulden aufnehmen wollen - kommt gar nicht gut an.
Die Unternehmer im Land reagieren dann auch abwartend. Man werde die Neuen in kritischer Solidarität begleiten, erklärt der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags, Peter Kulitz, diplomatisch:
"Was wir sehr begrüßen, ist der unbedingte Wille des Ministerpräsidenten zum Schuldenabbau, aber auch zur Gleichrangigkeit zwischen Ökologie und Ökonomie. Der Weg dorthin, das wird das Interessante sein, da bin ich mir nicht so sicher, ob wir da immer den Gleichklang haben, denn was nicht sein darf ist, dass man durch entsprechende Maßnahmen die Leistungsfähigkeit der baden-württembergischen Wirtschaft einschränkt oder behindert."
Ein Bürgerempfang in Leinfelden-Echterdingen Ende Juli. Winfried Kretschmann mag diese Termine. Er kommt sogar eine Viertelstunde zu früh in der Halle an. Kurze Rede des Oberbürgermeisters, Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, der Ministerpräsident bedankt sich - dann mischt er sich unters Volk. Er plaudert, das Bierglas in der einen, die Laugenbrezel in der anderen Hand. Fast zwei Stunden lang hört der 63-Jährige vor allem zu.
Seine vier Bodyguards bleiben im Hintergrund, der groß gewachsenen Politiker mit dem weißen Bürsten-Haarschnitt ist sowieso nicht zu übersehen. Ein älteres Ehepaar spricht ihn auf seine Umzugspläne an. Kretschmann überlegt, der Villa Reitzenstein den Rücken zu kehren - ein Politikum. Denn bislang residierten alle Ministerpräsidenten in der über dem Stuttgarter Talkessel thronenden Regierungszentrale. Die Villa muss saniert werden, und er will mit seinen Beamten sowieso lieber runter in die Stadt. Er sagt: Näher ans Leben. Ein Herr outet sich als eingefleischter CDU-Wähler. Mit dem grünen Ministerpräsidenten ist er trotzdem hochzufrieden.
"Obwohl ich CDU bin, die älteren Grünen sind heute fast bürgerlicher wie die CDU. Also, ein Wechsel ist immer gut. Ich finde, der macht seine Aufgabe sehr gut. Er steht ja vor großen Herausforderungen. Da müssen die sich selbst noch rein finden, aber ich denke, die können es packen. Ich bin froh, dass er jetzt dran ist: 30 Jahre Opposition, bohren dicker Bretter, der kennt sich richtig gut aus. Er ist ein großes Pfund für die Grünen. Durch seine sachliche, menschliche Art kommt er bei den Leuten an."
Der grüne Landesvater ist weit über die Grenzen seiner Partei hinaus beliebt; wird als bodenständig, bescheiden und wertkonservativ beschrieben. Nicht ohne Grund warnt der Vordenker der Landes-SPD, Erhard Eppler, die Koalition davor, diesen Vertrauensvorschuss der Wähler durch den Dauerstreit um Stuttgart21 zu verspielen. Und in der Tat haben viele Bürger den Clinch um den Tiefbahnhof längst satt. Kretschmann weiß auch um diese Stimmung. Auf dem Bürgerempfang spricht der 63-Jährige das Thema kurz an. Erzählt, dass er lange Jahre in Leinfelden-Echterdingen gelebt, hier seine Karriere bei den Grünen begonnen hat. Hier kämpfte er verbissen gegen den milliardenschweren Bau der neuen Landesmesse. Und kassierte eine herbe Niederlage.
"Es kam ja in einer größeren Zeitung dieser Tage ein großer Bericht über Leinfelden-Echterdingen, und dass es sich jetzt als Messestadt feiert. Und der Artikelschreiber hat sich darüber etwas mokiert. Das ist sozusagen die Haltung, als müsse man, wenn man gegen die Messe war, und sie jetzt doch steht, irgendwie immer drum herum laufen. Das ist die Haltung, die uns alle irgendwie in Fundamentalisten verwandeln würde, sind wir aber nicht. Wir sind praktisch denkende Leute, und auch ich fahre auf Autobahnen gegen die ich war. Ja. Und das finde ich auch ziemlich normal."
Eine Niederlage akzeptieren? Ja, erzählen Parteifreunde, die ihn seit langem kennen, Kretschmann kann das. Ob es seine Partei auch kann? Nicht alle örtlichen Grünen sind sich da so sicher. So manche prominente Grüne würden den Widerstand gegen Stuttgart21 wie ein Mantra vor sich hertragen, schimpfen sie leise. Es sei ein offenes Geheimnis, dass der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer nur darauf warte, Kretschmann zu beerben. Ingrid Grischtschenko, grüne Fraktionschefin im Gemeinderat:
""Stuttgart21 war und ist immer ein Stolperstein. Aber Kretschmann hat intern immer gesagt, weil wir ihn immer gefragt haben: Ja, was machst Du, wenn das anders ausgeht. Dann hat er immer gesagt: Ich kann mir das Volk nicht aussuchen. Dann regiere ich eben dieses Volk."
1.827 Tage dauert die Legislaturperiode des baden-württembergischen Landtages noch. Ein klägliches Scheitern können sich Grüne und SPD kaum leisten.
Morgen zieht Winfried Kretschmann in Berlin 100-Tage-Bilanz. Neben ihm wird Renate Künast sitzen. Sie hofft, dass für sie im Berliner Wahlkampfendspurt etwas von seinem Glanz auf sie abfällt. Der stets eine grüne Krawatte tragende 63-Jährige muss - auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 - beweisen, dass ein Grüner sehr wohl eine Regierung und ein Land führen kann.