Der namenlose Ich-Erzähler in Javier Sebastiáns Roman "Der Radfahrer von Tschernobyl" vertritt seine Heimat Spanien auf der internationalen Generalkonferenz für Maß und Ge-wicht in Paris. Er ist dafür zuständig, dass in seinem Land ein Kilogramm auch exakt dem in Paris festgelegten, offiziellen Kilogramm entspricht. Seine Gedanken ranken sich um seine russische Geliebte und um seine weitere Karriere, bis er in einem Pariser Schnell-restaurant einem alten Mann aufhilft, der offensichtlich vor Schwäche vom Stuhl gefallen ist. Der Mann spricht nicht und hat keine Papiere. In der Annahme, der alte Mann sei der Vater des Spaniers, und dieser habe ihn aussetzen wollen, zwingen die französischen Be-hörden den Ich-Erzähler, den Unbekannten mit nach Hause zu nehmen. Soweit die fiktive Rahmenhandlung des Romans.
In einem zweiten Strang gibt der Erzähler in der dritten Person Episoden aus dem Leben des alten Mannes wieder, wie dieser sie ihm während ihres von den französischen Behörden erzwungenen Zusammenlebens berichtet hat. Der Erzähler erfährt nach einer Weile, dass es sich bei dem Unbekannten um den Atomphysiker Wassili Nesterenko handelt. Nach der Katastrophe des Atomreaktors von Tschernobyl war Nesterenko, genannt Wasja, mit einem Messgerät für radioaktive Strahlung in den verseuchten Gebieten unterwegs gewesen, zunächst im Auftrag der Behörden:
"In drei, vier Minuten hat man die interne Radioaktivität ermittelt, die bei Kindern 10 bis 15 Becquerel nicht übersteigen sollte. Die Gesundheitsbehörden haben aber 50 Becquerel als Grenzwert festgesetzt. Später 70 und dann sogar 110, das war der Höchstwert. 37 Becquerel ist schon zu viel, aber in diesen Zeiten kann es als akzeptabel gelten. Kinder mit Nasenbluten, die nach zwei Treppenabsätzen schlappmachen. Kinder, die nicht in die Pause durften, das war es, was Wasja noch genau in Erinnerung hatte."
Javier Sebastián erzählt in seinem Roman entlang der Biographie von Wassili Nesterenko. Als dieser jedoch in Ungnade fällt, weil den weißrussischen Behörden seine Forderungen zum Schutz der Menschen viel zu weit gehen, und er auf eigene Faust und gegen den Wi-derstand des Staates weiter arbeitet, taucht Autor Sebastián gänzlich in die Fiktion ein: Er lässt Wasja vor dem Geheimdienst in die verseuchte Sperrzone fliehen, in die Stadt Prypjat, unweit des Unglücksreaktors von Tschernobyl, in der der fiktive Wasja nun mit dem Fahrrad unterwegs ist. Der erzählerische Schachzug ist angemessen, nicht nur, weil er es dem Autor erlaubt, vom Alltag im Sperrgebiet zu erzählen, sondern auch, weil Nesterenko tatsächlich große Risiken auf sich genommen hatte, um die Menschen in den verseuchten Gebieten vor Strahlenschäden zu bewahren.
Auch wenn Wasjas Fahrradtouren durch die Sperrzone fiktiv sind, entsprechen die Schilde-rungen über die Zustände dort weitgehend der Realität:
"Immer mehr Menschen kehrten in ihre Häuser zurück. Sie verloren die Angst vor dem Atom. Obwohl sie in Wirklichkeit zurückkehrten, weil man sie anderswo nicht gewollt hatte."
Die Menschen überleben dort ohne Wasser- und Stromversorgung, sie ernähren sich von verstrahlten Konserven, die sie noch in den verlassenen Häusern finden, oder von dem, was ihnen Schmuggler mitbringen. Sie tauschen bei den Schmugglern Lebensmittel gegen Wertsachen ein, die sie in der verlassenen Stadt finden.
"Wasja drehte eine Runde mit dem Fahrrad, um sich in Form zu halten, da hatte er sie entdeckt, wie sie neben den Abflussrohren knieten und mit der Schere in der Erde stocherten. Sie starrten einander an, als sähen sie sich einer Erscheinung gegenüber, keiner sprach ein Wort. Als Wasja schon den Fuß auf die Pedale stellte, sagte Oletschka schnell: Warten Sie doch, wir suchen hier nämlich Regenwürmer. Ganz zartes Fleisch. Sie schmecken wie Frösche, aber man hat es nicht so weit wie zu den Tümpeln. Manche sind so groß wie eine Hand."
Sebastián, der in Spanien seit Langem für seine gründlich recherchierten Romane bekannt ist, lässt Wasja immer wieder das Elend des Strahlentodes beschreiben:
"Während der Professor für Bildhauerei in seiner Werkstatt an der Skulptur arbeitete, war die Zunge von Sawkas Frau immer dunkler geworden, bis sie am Ende ganz und gar schwarz war. Die Haut fiel ihr in Fetzen vom Rücken. Nekrose, diagnostizierte Anna Sorina. Es dauerte drei Tage und drei furchtbare Nächte."
Der Autor geht mit dem Leid der Strahlengeschädigten nüchtern und sachlich um, und das verleiht dem Roman seine Eindringlichkeit, ja Härte. Er bündelt den Horror und das Elend und schockiert deshalb mehr als jeder Bericht über die Ereignisse. Emotionslos beschreibt der Erzähler auch, wie skrupellos der sowjetische Staat damals mit der Gesundheit seiner Bürger spielte:
"Um eine größere Konzentration von radioaktiven Stoffen im menschlichen Organismus zu vermeiden, soll das kontaminierte Fleisch verteilt und in einem Mischverhältnis 1:10 mit nichtkontaminiertem Fleisch in Wurstprodukten und Konserven verarbeitet werden."
Javier Sebastiáns im vergangenen Jahr im Original erschienener Roman erlangt durch den Nuklearunfall im japanischen Fukushima zusätzliche Bedeutung. Die Botschaft des Autors ist klar: Die Folgen eines nuklearen Unfalls sind schlicht nicht beherrschbar, und wer das nicht zugibt, irrt sich oder lügt, wie die sowjetische und später die weißrussische Regierung im Falle Tschernobyls gelogen haben.
Der Roman ist eine Hommage an die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe und an Menschen wie Wassili Nesterenko, die unter Einsatz des eigenen Lebens versucht haben, das Schlimmste zu verhindern. Bleibt noch zu erwähnen, dass "Der Radfahrer von Tschernobyl" ein spannender Roman ist, denn der Leser fragt sich von Beginn an, wie und warum der fiktive Wasja in ein Pariser Schnellrestaurant kam.
Literaturhinweis:
Javier Sebastián: Der Radfahrer von Tschernobyl. Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Wagenbach Verlag, Berlin 2012, 219 Seiten, EUR 19,90.
In einem zweiten Strang gibt der Erzähler in der dritten Person Episoden aus dem Leben des alten Mannes wieder, wie dieser sie ihm während ihres von den französischen Behörden erzwungenen Zusammenlebens berichtet hat. Der Erzähler erfährt nach einer Weile, dass es sich bei dem Unbekannten um den Atomphysiker Wassili Nesterenko handelt. Nach der Katastrophe des Atomreaktors von Tschernobyl war Nesterenko, genannt Wasja, mit einem Messgerät für radioaktive Strahlung in den verseuchten Gebieten unterwegs gewesen, zunächst im Auftrag der Behörden:
"In drei, vier Minuten hat man die interne Radioaktivität ermittelt, die bei Kindern 10 bis 15 Becquerel nicht übersteigen sollte. Die Gesundheitsbehörden haben aber 50 Becquerel als Grenzwert festgesetzt. Später 70 und dann sogar 110, das war der Höchstwert. 37 Becquerel ist schon zu viel, aber in diesen Zeiten kann es als akzeptabel gelten. Kinder mit Nasenbluten, die nach zwei Treppenabsätzen schlappmachen. Kinder, die nicht in die Pause durften, das war es, was Wasja noch genau in Erinnerung hatte."
Javier Sebastián erzählt in seinem Roman entlang der Biographie von Wassili Nesterenko. Als dieser jedoch in Ungnade fällt, weil den weißrussischen Behörden seine Forderungen zum Schutz der Menschen viel zu weit gehen, und er auf eigene Faust und gegen den Wi-derstand des Staates weiter arbeitet, taucht Autor Sebastián gänzlich in die Fiktion ein: Er lässt Wasja vor dem Geheimdienst in die verseuchte Sperrzone fliehen, in die Stadt Prypjat, unweit des Unglücksreaktors von Tschernobyl, in der der fiktive Wasja nun mit dem Fahrrad unterwegs ist. Der erzählerische Schachzug ist angemessen, nicht nur, weil er es dem Autor erlaubt, vom Alltag im Sperrgebiet zu erzählen, sondern auch, weil Nesterenko tatsächlich große Risiken auf sich genommen hatte, um die Menschen in den verseuchten Gebieten vor Strahlenschäden zu bewahren.
Auch wenn Wasjas Fahrradtouren durch die Sperrzone fiktiv sind, entsprechen die Schilde-rungen über die Zustände dort weitgehend der Realität:
"Immer mehr Menschen kehrten in ihre Häuser zurück. Sie verloren die Angst vor dem Atom. Obwohl sie in Wirklichkeit zurückkehrten, weil man sie anderswo nicht gewollt hatte."
Die Menschen überleben dort ohne Wasser- und Stromversorgung, sie ernähren sich von verstrahlten Konserven, die sie noch in den verlassenen Häusern finden, oder von dem, was ihnen Schmuggler mitbringen. Sie tauschen bei den Schmugglern Lebensmittel gegen Wertsachen ein, die sie in der verlassenen Stadt finden.
"Wasja drehte eine Runde mit dem Fahrrad, um sich in Form zu halten, da hatte er sie entdeckt, wie sie neben den Abflussrohren knieten und mit der Schere in der Erde stocherten. Sie starrten einander an, als sähen sie sich einer Erscheinung gegenüber, keiner sprach ein Wort. Als Wasja schon den Fuß auf die Pedale stellte, sagte Oletschka schnell: Warten Sie doch, wir suchen hier nämlich Regenwürmer. Ganz zartes Fleisch. Sie schmecken wie Frösche, aber man hat es nicht so weit wie zu den Tümpeln. Manche sind so groß wie eine Hand."
Sebastián, der in Spanien seit Langem für seine gründlich recherchierten Romane bekannt ist, lässt Wasja immer wieder das Elend des Strahlentodes beschreiben:
"Während der Professor für Bildhauerei in seiner Werkstatt an der Skulptur arbeitete, war die Zunge von Sawkas Frau immer dunkler geworden, bis sie am Ende ganz und gar schwarz war. Die Haut fiel ihr in Fetzen vom Rücken. Nekrose, diagnostizierte Anna Sorina. Es dauerte drei Tage und drei furchtbare Nächte."
Der Autor geht mit dem Leid der Strahlengeschädigten nüchtern und sachlich um, und das verleiht dem Roman seine Eindringlichkeit, ja Härte. Er bündelt den Horror und das Elend und schockiert deshalb mehr als jeder Bericht über die Ereignisse. Emotionslos beschreibt der Erzähler auch, wie skrupellos der sowjetische Staat damals mit der Gesundheit seiner Bürger spielte:
"Um eine größere Konzentration von radioaktiven Stoffen im menschlichen Organismus zu vermeiden, soll das kontaminierte Fleisch verteilt und in einem Mischverhältnis 1:10 mit nichtkontaminiertem Fleisch in Wurstprodukten und Konserven verarbeitet werden."
Javier Sebastiáns im vergangenen Jahr im Original erschienener Roman erlangt durch den Nuklearunfall im japanischen Fukushima zusätzliche Bedeutung. Die Botschaft des Autors ist klar: Die Folgen eines nuklearen Unfalls sind schlicht nicht beherrschbar, und wer das nicht zugibt, irrt sich oder lügt, wie die sowjetische und später die weißrussische Regierung im Falle Tschernobyls gelogen haben.
Der Roman ist eine Hommage an die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe und an Menschen wie Wassili Nesterenko, die unter Einsatz des eigenen Lebens versucht haben, das Schlimmste zu verhindern. Bleibt noch zu erwähnen, dass "Der Radfahrer von Tschernobyl" ein spannender Roman ist, denn der Leser fragt sich von Beginn an, wie und warum der fiktive Wasja in ein Pariser Schnellrestaurant kam.
Literaturhinweis:
Javier Sebastián: Der Radfahrer von Tschernobyl. Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Wagenbach Verlag, Berlin 2012, 219 Seiten, EUR 19,90.