"Ich glaube, was für mich das Beschwerlichste war, war das Grundgefühl, ich kann schon als Pfarrerin in Sachsen arbeiten, wenn ich das möchte, aber bitte nach außen hin im System konform. Also angepasst an das System, angepasst auch an das Bild, das die Kirche von sich selber hat. Und ich hatte das Gefühl, ich passe nicht an allen Stellen. An den Stellen, wo ich nicht kompatibel bin, wurde das nicht als Bereicherung, also als Erweiterung zu einem bereits schönen Bild als weiterer bunter Mosaikstein gesehen, sondern als Beschwernis. Ein Stein des Anstoßes in dem Sinne, als permanentes Problem."
Homosexuelle Pfarrerin in der sächsischen Landeskirche – kein Rückhalt
Im Sommer 2016 hat Pfarrerin Katrin Jell die sächsische Landeskirche verlassen. Sie lebt jetzt in dem kleinen Pfarrsprengel Zahrensdorf im Boizenburger Land. In dem bäuerlichen Gemeindehaus mit der großen Toreinfahrt stapeln sich noch Umzugskartons. An der ehemaligen Stalltür haftet ein Porträt Luthers. Im Pfarrbüro erinnern ein Erzgebirgsengel und eine Kasperfigur an den bisherigen Wirkungsort der Theologin.
Hohnstein in der sächsischen Schweiz. Dort hat sie zehn Jahre lang die Kirchgemeinde betreut, seit ihrem Vikariat. Alle wussten davon, dass sie homosexuell ist.
"Also an Hohnstein hat’s überhaupt nicht gelegen, das muss ich deutlich sagen. Was mir zu schaffen gemacht hat, war das System drum herum. Also im System Landeskirche hab ich nicht die Freiheit und den Rückhalt gespürt, den ich brauche, um glücklich arbeiten zu können. Deswegen habe ich mir einen Ort gesucht, an dem ich leben kann."
Bereits im Frühjahr 2016 hat ein schwules Paar, beide Pfarrer, die sächsische Landekirche verlassen. Ebenfalls in Richtung Nordkirche. Stephan Rost und Ciprian Matefy.
"Wie homosexuell dürfen sächsische Pfarrer eigentlich sein?"
Geschützt, gestärkt und unterstützt in der Nordkirche
Das wurde sogar in den Kirchenzeitungen diskutiert. Das frage in der Nordkirche niemand, meint Katrin Jell:
"Was mir als Allererstes aufgefallen ist, als ich den Kontakt mit der Nordkirche gesucht habe, das war ja ein Kontakt auf institutioneller Ebene, ich hab mich an das Landeskirchenamt in Kiel gewandt, war, dass mir und auch meiner Lebensgefährtin mit einem unglaublichen Respekt begegnet wurde und mich das gelehrt hat, in einer ganz neuen Form wieder aufrecht zu gehen. Das war ein sehr heilsamer Prozess. Und auf der anderen Seite aber auch eine traurige Erfahrung, weil ich gemerkt habe, wie sehr ich mich bereits zurück gezogen hatte, versucht habe, nicht anzuecken, versucht habe, möglichst viel meiner Persönlichkeit zu verstecken, zurück zu nehmen."
Hier in der Nordkirche werde sie nicht nur geduldet, betont die zierliche Frau mit den kurzen, hellen Haaren. hier werde sie als Mensch unterstützt. Ohne Vorbehalt.
"Und auch als Familie, wir sind eine kleine Familie, als zwei Personen, auch in diesem Familienverbund geschützt, gestärkt und unterstützt. Das ist für uns der alles entscheidende Unterschied."
Kompromiss in Sachsen?
Die Dreikönigskirche in der Dresdner Neustadt. Hier tagt zwei Mal im Jahr die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Nicht immer geht es so turbulent zu, wie im Frühjahr 2012. Da stritten die Kirchenparlamentarier über das neue Pfarrerdienstrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland. Strittig war vor allem § 39. Darin wird eine Pfarrer-Familie nicht nur als Verbindung von Mann und Frau beschrieben. Auch homosexuellen Paaren wird dieser Status zuerkannt, weshalb sie auch in der Dienstwohnung leben dürften.
Bereits 2001 war in Deutschland das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft in Kraft getreten. Als Reaktion darauf wurde Bediensteten der Sächsischen Landeskirche eine homosexuelle Beziehung im Pfarrhaus untersagt. Doch 2012 sah sich die sächsische Kirchenleitung genötigt, dem allgemeinen Trend zu folgen, aber nicht kompromisslos.
"Der Kompromiss sieht so aus, dass ein homosexuelles Paar im Pfarrhaus zusammen leben kann unter der Voraussetzung, dass der örtliche Kirchenvorstand einmütig damit einverstanden ist. Der zuständige Superintendent wird gehört. Wir möchten an dieser Stelle auf keinen Fall leichtfertig handeln."
So der damalige Landesbischof Jochen Bohl, der auch stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD war.
Widerstand gegen das liberale EKD-Dienstrecht
Mehr als ein Jahr lang hatte sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema befasst. Die leitenden Theologen waren sich dessen bewusst, dass es heftigen Widerstand geben würde. Erst 2010 hatten acht evangelische Altbischöfe in einem offenen Brief gegen das neue EKD-Dienstrecht protestiert. Sie beriefen sich auf die Heilige Schrift als alleinige Grundlage für den Glauben und das Leben ihrer Mitglieder, sowie für den Dienst und die Lebensführung ordinierter Pfarrerinnen und Pfarrer in der Kirche.
"Nach Römer 1,26 gehört gleichgeschlechtliches Zusammenleben in exemplarisch hervorgehobener Weise zu den gott-widrigen Verhaltensweisen, denen 'die Offenbarung des Zorngerichts Gottes' gilt."
So heißt es in dem Brief. Auch wenn es nur eine Handvoll homosexueller Pfarrerinnen und Pfarrer betraf, es ging um grundsätzliche Positionen - zwischen fundamentalistischer und liberaler Bibelauslegung, zwischen bibeltreuen Auffassungen im sogenannten sächsischen "Bibelgürtel" und demonstrativer Weltoffenheit beispielsweise der evangelischen Kirchgemeinden im Leipziger Land. Der inzwischen emeritierte Landesbischof Jochen Bohl sagte 2012:
"Es steht natürlich allen auf der Kirchen leitenden Ebene vor Augen, dass die Auffassungen außerordentlich unterschiedlich sind. Und eine solche Polarisierung verlangt eben danach, dass man behutsam miteinander umgeht, und insofern hat das etwas Zeit gebraucht. Man könnte auch sagen, es hat relativ viel Zeit gebraucht. Insofern wollten wir es uns mit diesem Thema nicht zu leicht machen."
Zunächst zuversichtlich durch das neue Pfarrdienstrecht
Katrin Jell lebte da bereits seit sechs Jahren in der sächsischen Schweiz, in der Stadt des berühmten Hohnsteiner Kaspers. Die Menschen hier sind nicht sehr kirchlich, anders als im Westerzgebirge oder im Vogtland. Aber sie sind heimatverbunden.
Der Kirchenvorstand war der jungen Pfarrerin wohl gesinnt. Eine geborene Dresdnerin. Ihre Beziehung zu einer Frau war der Kirchengemeinde bekannt und wurde akzeptiert. Noch voller Zuversicht sagte sie 2012:
"Also ich hab ja vorher nachgedacht, bevor ich in den Dienst der Landeskirche gegangen bin. Ich bin ja nicht blauäugig in eine Situation gegangen, von der ich vorher nicht wusste, was sie für mich, auch für meine Partnerschaft bedeutet. Wir sind auch der festen Überzeugung, dass eben in unserer Landeskirche Menschen unterschiedlicher Prägungen ihr zu Hause haben und waren deswegen durchaus in der Hoffnung, dass es für uns auch einen Platz in der Landeskirche geben wird und auch gibt."
Das neue Pfarrerdienstrecht würde nun auch ihrer Partnerin ermöglichen, mit in Hohnstein zu leben. Bis dato in Sachsen ein absolutes Tabu.
Heftiger Protest von der "Sächsischen Bekenntnisinitiative"
Doch die Heftigkeit, mit der konservative Kirchenmitglieder gegen den Beschluss der Kirchenleitung anrannten, übertraf alle Befürchtungen. Besonders Pfarrer im Erzgebirge und im Vogtland, aber auch in der Lausitz bekannten sich zur sogenannten "Sächsischen Bekenntnis-Initiative", kurz SBI. Über 100 Kirchengemeinden und mehrere Tausend Einzelpersonen protestierten gegen eine liberale Auslegung des neuen Pfarrerdienstrechts der EKD.
SBI-Sprecher Gaston Nogrady forderte die Kirchenleitung auf, zum ursprünglichen Beschluss der Landessynode von 2001 zurück zu kehren. Und der untersagte Homosexualität in einem Pfarrhaus.
"Es geht uns um die Schöpfung Gottes, um die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau in ihrem gegenüber und ihrer Zuordnung, und dem besonderen Segen, den Gott auf die Verbindung von Mann und Frau gelegt hat. Es geht uns positiv um die Aufrechterhaltung von der Ehe von Mann und Frau als christliches Leitbild für die Beziehung, für die wir uns einsetzen, und die wir im anderen Fall, jetzt der Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuelle Beziehungen doch relativiert sehen."
Bekenntnisnotstand und drohende Spaltung
Die Sächsische Bekenntnis-Initiative rief den Bekenntnisnotstand aus, den "status confessionis". Wird solch ein außergewöhnlicher Bekenntnisfall erklärt, steht der Fortbestand der kirchlichen Gemeinschaft auf dem Spiel. Es drohte die Spaltung der Landeskirche.
Als Vorbild wurde die Barmer Bekenntnissynode genannt. 1934 hatten sich namhafte Theologen von den nazitreuen Deutschen Christen distanziert. In einer solchen theologischen Zerreißprobe sahen sich nun auch Initiatoren der Sächsischen Bekenntnisinitiative, wie der Chemnitzer Pfarrer im Ruhestand, Theo Lehmann.
"Weil in der Bibel drinne steht, dass es Sünde ist. Punkt."
Lehmann kündigte dem damaligen Landesbischof Jochen Bohl persönlich den Gehorsam auf. Und berief sich auf die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche:
"In unseren Bekenntnisschriften steht drinne, wenn ein Bischof was lehrt, was Irrlehre ist, ist man verpflichtet, gegen den Bischof zu protestieren und ihm den Gehorsam zu verweigern."
Für den Ruheständler Theo Lehmann hatte die Illoyalität keine Folgen. Doch der Leiter des Evangelisationsteams Lutz Scheufler wurde aus dem kirchlichen Dienst entlassen. Andere wurden abgemahnt.
Inzwischen in Einzelfällen geduldet
Inzwischen ist es homosexuellen Pfarrern und Pfarrerinnen in der sächsischen Landeskirche erlaubt, gemeinsam in der Pfarrwohnung zu leben. Allerdings nur in Einzelfällen. Nach außen hin demonstrieren Kirchenparlament und Kirchenleitung jedoch Einigkeit. Dass die Wogen zumindest ein wenig geglättet werden konnten, ist auch Carsten Rentzing zu verdanken, damals Pfarrer in Markneukirchen im Vogtland, ein Ort der durch seine Instrumentenbauer bekannt ist. Rentzing stand der Bekenntnisinitiative zumindest nahe und bezeichnet sich selbst als "konservativ".
2015 wurde der Theologe mit hauchdünner Mehrheit zum neuen Landesbischof gewählt. Er setzte sich gegen drei Kandidaten durch. Ein von ihm mit initiierter Gesprächsprozess in der sächsischen Landeskirche hat seit 2012 kaum zu einer Annäherung geführt. Der Bischof spricht von einem Modus Vivendi, einer Duldung homosexueller Beziehungen.
"Wir wollen niemanden ausgrenzen"
"Um allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich in dieser Kirche zu Hause zu fühlen, und um auch - das erwarten wir - dem heiligen Geist die Möglichkeit zu geben, ein gemeinsames Wort weiterhin an uns alle zu sprechen. Ein gemeinsames Wort zu diesen Fragen, die uns trennen."
Eine Aussage Carsten Rentzings hatte die liberalen Kräfte in der sächsischen Landeskirche kurz nach seiner Wahl aufgeschreckt. In einem Interview bekannte er sich zu einer theologischen Auffassung, wie sie auch die Sächsische Bekenntnisinitiative vertritt:
"Die Bibel sagt, dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht. Diese Aussagen der Bibel machen es mir persönlich schwer, jemandem zu raten, dass er seine Homosexualität leben solle. Dies anzusprechen, müssen wir Christen uns vorbehalten."
Dennoch, Carsten Rentzing betont ausdrücklich, dass er ganz eindeutig zu seinem Versprechen stehe, Bischof aller sächsischen Lutheraner sein zu wollen. Und damit stellt er sich auch gegen fundamentalistische Strömungen in seiner Kirche.
"Wir wollen ja auch keine ausgrenzenden Zeichen setzen, muss man deutlich sagen, wir wollen niemanden ausgrenzen. Niemanden. Und wenn ich niemanden sage, dann meine ich auch tatsächlich niemanden an dieser Stelle."
"Wir dürfen die nicht wegreden"
Doch der von Landesbischof Rentzing erklärte Modus Vivendi stößt in der kirchlichen Praxis immer wieder an Grenzen. Wenn beispielsweise ein schwuler Jugendwart im Kirchenbezirk Aue nicht mehr predigen darf. Oder wenn in Chemnitz-Klaffenbach ein junger Organist nach seinem Coming-Out entlassen wird.
Der Leipziger Pfarrer Christoph Maier befürchtet, dass gerade die weltoffen-liberalen Theologen und Kirchenmitarbeiter Sachsen den Rücken kehren könnten.
"Wir erleben als Kirche, was die Gesellschaft auch erlebt. Wir sind eine sich polarisierende Gesellschaft, und das bildet sich auch in der Kirche ab. Und darüber wurde viel diskutiert heute, wie gehen wir angemessen mit dieser Polarisierung, mit dieser Fragmentierung um, die wir wahrnehmen. Wir dürfen die nicht weg reden, und müssen sehen, wie wir Brücken zueinander finden und wie wir trotzdem auch erkennbar auf unseren Positionen bleiben."
Christoph Maier ist Gründer des innerkirchlichen "Forums für Gemeinschaft und Theologie". Seit Pfingsten 2016 macht die Bewegung auch mit der Internetplattform "frei und fromm" auf sich aufmerksam. Sie versteht sich als Gegenpol zur konservativen Sächsischen Bekenntnis-Initiative.
Bibelverständnis - zeitgemäß statt fundamentalistisch
Im Sommer 2016 trafen sich zahlreiche Vertreter des liberalen Lagers in der Leipziger Peterskirche um über Themen wie Homosexualität oder auch Frauenordination zu diskutieren. Die Teilnehmer warben für ein zeitgemäßes Bibelverständnis. Es genüge doch nicht, die eigene Auffassung mit bestimmten Versen zu begründen, so Maier.
"So ist es, man muss die Frauen aus dem Dienst entlassen, man darf keine Blutwurst essen, man muss die Kinder züchtigen, wir müssen die Sklaverei wieder einführen. Die Bibel ist nicht dazu da, eins zu eins Gesellschaftsbilder in unsere Zeit zu transferieren, sondern die Bibel birgt die lebendige Gottesbeziehung. Dazu braucht es andere Bilder, anderes Verständnis von Heiliger Schrift."
Ein fundamentalistisches Bibel- und Kirchenverständnis wird auch bei den Pegida -Kundgebungen in Dresden oder Chemnitz deutlich. Da wird nicht nur gegen Muslime, Politiker oder Journalisten gewettert, sondern auch gegen die Amtskirche:
"Was die alles zulassen, dass die Schwulen heiraten dürfen, dass sie Kinder adoptieren dürfen. Ich weiß nicht, ob die die Bibel überhaupt noch kennen. Was es eben betrifft mit den Schwulen, mit den Lesben. Das gab’ s schon immer. Aber dass es jetzt solche Ausmaße annimmt, finde ich nicht richtig."
Traugottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare
Tatsächlich hat sich auch in den ostdeutschen Gliedkirchen der EKD viel bewegt. Die Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz hat 2016 beschlossen, dass homosexuelle Paare nicht nur den Segen Gottes bekommen, sondern auch kirchlich heiraten dürfen. Dazu Bischof Markus Dröge:
"Wir haben den Traugottesdienst eingeführt auch für gleichgeschlechtliche Paare, sofern sie in einer eingetragen Lebenspartnerschaft leben, weil wir sagen, es kommt in einer Partnerschaft darauf an, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, und es kommt darauf an, dass man diese Verantwortung auch zum Ausdruck bringt, öffentlich. Wir stehen für einander ein. Und christlich ist eine Beziehung, wenn sie vor Gott dieses Versprechen gegenseitiger Verantwortung ausdrückt."
Auch in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands, also in Sachsen-Anhalt und Thüringen, sind solche kirchlichen Amtshandlungen längst kein Tabu mehr. Und sogar in Sachsen erlaubt die lutherische Kirche seit 2016, Paare in eingetragenen Lebensgemeinschaften zu segnen. Damit legalisierte die Kirchenleitung eine längst gängige Praxis liberal gesinnter Theologen.
Erwartungsgemäß löste dieser von Landesbischof Rentzing mitgetragene Beschluss der Kirchenleitung heftige Reaktionen der Bekenntnisinitiative aus. SBI-Sprecher Gaston Nogrady im Herbst 2016:
"Also dieser Beschluss der Kirchenleitung stellt für mich und andere eine große Belastung dar. Und es erschwert auch das, ja, das Miteinander in der Kirche. Es ist eine Belastungsprobe, erhöht auch die Spannung. Und von daher bedauere ich diesen Beschluss sehr. Gerade wenn Sie den alten Kirchenleitungsbeschluss von 2001 sehen, wo ganz klar gesagt wird, dass solche Segenshandlungen in unserer Landeskirche nicht möglich sind."
Nächstenliebe – für andere bestimmen, was gut ist?
Aber wie verhält es sich mit dem Gebot der Nächstenliebe, mit der zentralen Aussage der Bibel?
"Das sehen wir auch so, dass natürlich die Mitte der Bibel gesehen werden muss: Aber wenn ich jetzt in einem Bilde spreche, wenn ich persönlich der Überzeugung bin, dass eine Verhaltensweise nicht gut ist, in der zwei Menschen leben, dass ich persönlich der Überzeugung bin, das tut ihnen nicht gut, dann wäre es meines Erachtens gerade lieblos oder gleichgültig, wenn ich sagen würde, macht mal weiter so und nicht versuchen würde, sie von einem Weg abzubringen, den ich selbst für nicht gut halte."
Genau dieses Bibel- und Kirchenverständnis hat Katrin Jell veranlasst, den Dienst in der Sächsischen Landeskirche aufzugeben.
"Also, wenn jemand mich davor bewahren möchte, meine Liebe zu leben und das als Nächstenliebe interpretiert, ist das für mich so nicht wahrnehmbar. Das empfinde ich nicht als Nächstenliebe. Aber dass ich das so nicht empfinde, das wird nicht akzeptiert und auch nicht wahrgenommen. Ich hab das Gefühl, es wird noch nicht mal wahrgenommen. Und das ist für mich verletzend."
Die noch unausgepackten Umzugskartons im Pfarrhaus Zahrensdorf im Boizenburger Land zeigen, dass es Katrin Jell schwer gefallen ist, Sachsen und ihre Heimatkirche zu verlassen. Der Lichterengel und der Kasper erinnern sie an ihren langjährigen Wirkungsort in der Sächsischen Schweiz. Und das Plakat mit dem Porträt Martin Luthers lässt sie täglich daran denken, dass sie aus dem Land der Reformation gekommen ist.
Aber die wieder entdeckte Freiheit und das ungestörte Zusammenleben mit ihrer Partnerin sind ihr wichtiger als der Dienst in der so traditionsreichen evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens.
"Zu lieben und meine Liebe auch zu leben und damit auch zu zeigen, ich bin liebesfähig. Ich hab da Talente in mir. Das ist eine Bereicherung, die kann ich nicht unter dem Deckel halten. Da würde ich mich so sehr meiner Lebensqualität beschneiden. Das ist für mich unwürdig."