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Homosexuelle
Der Paragraf 175 und seine juristische Aufarbeitung

Der Paragraf 175 stammt aus dem Kaiserreich und bestrafte Sex zwischen Männern. Die Nationalsozialisten verschärften ihn drastisch und auch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik verblieb die Nazi-Version des Paragrafen. Erst 1994 wurde der Artikel gestrichen - vorbei ist seine Geschichte aber noch immer nicht.

Von Wolfgang Kerler |
    Eine Regenbogenfahne, Symbol der Lesben und Schwulen, hängt in der Innenstadt von Frankfurt am Main.
    Eine Regenbogenfahne, Symbol der Lesben und Schwulen, hängt in der Innenstadt von Frankfurt am Main. Der hessische Landtag gehört zu den Parlamenten in Deutschland, das sich sich für die jahrzehntelange Verfolgung Homosexueller in Deutschland entschuldigt (picture alliance / dpa)
    Mit Klebeband befestigen zwei junge Männer ein Transparent an einem Bauzaun. Darauf steht in roten Buchstaben: "Rehabilitation jetzt – 20 Jahre ohne Paragraf 175". Es ist Ende Mai. Und die "Grüne Jugend München" hat zur Demo aufgerufen, auf dem sonnigen Marienplatz.
    Jamila Schäfer, Grüne Jugend München (durch Megafon):
    "Wir sind heute hier, weil wir es eine Untragbarkeit finden, dass die Verurteilten nach 1945 niemals rehabilitiert wurden und diese Urteile immer noch gültig sind."
    Um Jamila Schäfer am Megafon bildet sich eine kleine Menschentraube. Ein paar Dutzend, vor allem junge Demonstranten, sind gekommen, um für Männer auf die Straße zu gehen, die wegen des Paragrafen 175 verurteilt wurden. Er erklärte die "Unzucht zwischen Männern" zu einem Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wurde.
    "Wir haben hier so Boxen aufgestellt, wo wir zeigen, wie viele Verurteilungen es jeweils gab in den verschiedenen Jahren."
    Auf dem Boden um die Demonstranten steht eine Reihe schwarz angestrichener Kartons. In weißer Schrift ist darauf zu lesen: 1956 – 2993 Verurteilte, 1957 – 3403 Verurteilte, 1958 – 3804 Verurteilte und viele weitere Zahlen.
    "Wir wollten noch mal heute darauf aufmerksam machen, dass die Bundesregierung da endlich was tun muss und eine Rehabilitierung endlich passieren muss."
    Rita Braaz, Rosa Liste (durch Megafon):
    "Denn wer soll uns denn glauben, dass wir gegen die Kriminalisierung von Homosexualität in Russland, in Uganda und anderen Ländern sind, wenn wir es nicht einmal schaffen, den Menschen, die hier kriminalisiert waren, zu sagen: Es war Unrecht, es war Willkür, was euch passiert ist."
    Das ruft Rita Braaz, Politikerin bei der lokalen Partei "Rosa Liste", der Bundesregierung entgegen. Der Paragraf 175. Er stammt aus dem Kaiserreich, also dem 19. Jahrhundert, und bestrafte Sex zwischen Männern. Die Nationalsozialisten verschärften ihn drastisch: Wurde vorher nur Geschlechtsverkehr als Verbrechen eingestuft, reichte nun schon ein Kuss oder gar ein Blick. Tausende Homosexuelle starben in den Konzentrationslagern. Während die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg zur milderen Fassung zurückkehrte, blieb im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik die Nazi-Version des Paragrafen, Zitat: "Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt, wird mit Gefängnis bestraft".
    50.000 Männer wurden verurteilt, bevor die Politik den Paragrafen 1969 entschärfte. Erst 1994 wurde der Paragraf 175 gestrichen. Vorbei ist seine Geschichte aber noch nicht. Denn obwohl die Verurteilten der NS-Zeit mittlerweile rehabilitiert sind, warten die, die es nach dem Krieg traf, bislang vergeblich auf eine Wiedergutmachung. Denn die Frage, ob man Urteile von bundesdeutschen Gerichten per Gesetz aufheben kann, rührt an den Grundfesten des Rechtsstaats.
    Viele bewahrten lange Schweigen
    Ganz sauber klingen die Töne nicht mehr, die seine alte elektrische Orgel von sich gibt. Trotzdem spielt Addy Schmidt-Reimann, heute 88, immer noch gerne auf ihr. Denn Organist war er schon als junger Mann. In seinem kleinen Dorf in der Eifel begleitete er die Gottesdienste. Auf dem Flügel in seinem Wohnzimmer breitet Addy Schmidt-Reimann alte Schwarz-Weiß-Fotos aus. Darauf sieht man ihn in den 50er-Jahren: Ein kleiner, sportlicher Mann mit breitem Gesicht. Die dunklen Haare glatt nach hinten gekämmt. Damals war er beliebt im Dorf. Doch dann kam der Paragraf 175 dazwischen. Wahrscheinlich war es die Frau eines Kollegen, die ihn anzeigte. Mit ihm hatte er einmal eine Affäre. In der Firma nahmen ihn die Beamten fest.
    "Erst mal kamen die beiden Polizisten. Ja, ich musste mit."
    Die Beamten befragten seinen Bekanntenkreis, die Nachbarschaft, schreckten das Dorf auf. Wer hatte etwas mit Addy Schmidt-Reimann gehabt? Hatte er noch jemanden "verführt"?
    "Die sind ins ganze Dorf gegangen. Und dadurch kamen natürlich einige, wo das stimmte. Und andere, wo ich nie was mit hatte."
    Um niemanden in die Sache hineinzuziehen, nahm Addy Schmidt-Reimann alle Schuld auf sich, sagte: Alles ging von ihm aus. Dafür zahlte er einen hohen Preis: Das Urteil fiel härter aus als erwartet.
    "Dann sagte der Richter: Ja in der gut-katholischen Eifel sollen wir so was nicht einreißen lassen ... Und er hat mir drei Jahre gegeben, und davon hab ich zwei Jahre gesessen."
    "Wir sind heute hier zusammen gekommen, weil Sie, Herr Reimann, und Sie, Herr Schmidt, ihren Lebensweg nun auch offiziell gemeinsam gehen wollen."
    Das Bild flimmert und der Ton kratzt. Wahrscheinlich hat er die Videokassette schon zu oft abgespielt. Trotzdem blickt Addy Schmidt-Reimann gebannt auf den Bildschirm. Das Video zeigt ihn und seinen Freund vor dem Standesbeamten. Nach 38 Jahren Beziehung heirateten sie im Jahr 2005. Nur ein Jahr später stirbt sein Mann. Erst jetzt, mit 88 Jahren, verwitwet und gesundheitlich angeschlagen, bricht Addy Schmidt-Reimann sein Schweigen und spricht öffentlich über seine Verurteilung und die zwei Jahren im Gefängnis – wegen des Paragrafen 175.
    "Ich kann nur sagen, wenn du die Urteile siehst, die heute für weitaus größere Fälle gefällt werden, ist das lächerlich."
    Ein schwach beleuchteter Gang voller schwerer Magazinschränke. Der Mitarbeiter des Staatsarchivs München bewegt sich routiniert durch die Reihen, blickt dabei auf den Bestellzettel mit den angeforderten Archivnummern. Hier lagern tonnenweise Unterlagen.
    "In Metern gerechnet ist das ein guter Kilometer nur an Staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten," sagt Andreas Nestl vom Staatsarchiv. Verfahren rund um Mord, Diebstahl, Erpressung – und "Unzucht zwischen Männern". Dutzende Ermittlungsakten aus den 40er, 50er und 60er-Jahren hat das Staatsarchiv aufbewahrt. Bislang fast komplett unberührt.
    Eine Inschrift zum Gedenken an die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus steht auf dem Sockel einer Statue in der Innenstadt von Frankfurt am Main.
    Eine Inschrift zum Gedenken an die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus steht auf dem Sockel einer Statue in der Innenstadt von Frankfurt am Main. (dpa / picture alliance / Eve Goldschmidt / Arne Dedert)
    "In der Adenauerzeit gab es eine systematische Hetzjagd"
    "Bis auf einige spezifische Einzelfallanfragen, die sich jetzt um konkrete Personen handelten, wurden diese Akten seriell noch nie untersucht, noch nie aufgearbeitet."
    Die vergilbten Akten belegen, wie systematisch Polizei und Justiz in der Adenauerzeit gegen Schwule vorgingen. In den wenigen schwulen Kneipen gab es regelmäßig Razzien. Parks und öffentliche Toiletten wurden permanent überwacht. Wurde ein Homosexueller geschnappt, durchforsteten die Beamten oft sein gesamtes Adressbuch, luden bundesweit Männer zum Verhör vor. Vielleicht würden sie ja noch jemanden finden. Eine wahre Hetzjagd. Vor Gericht zählte dann jedes intime Detail. Die Urteile reichten von ein paar Monaten auf Bewährung bis zu mehrjährigen Haftstrafen. Aus Verzweiflung nahmen sich manche Männer das Leben. Auch das ist in den Akten dokumentiert.
    "Das ist doch nicht normal gewesen. Das hat's doch nicht gegeben sowas. Nicht, das war einfach nicht normal. Und wenn welche das machen, dann war das irgendwie 'ne Sünde – oder es war irgendwie was Verbotenes."
    Klaus Born erinnert sich noch genau daran, dass die Mehrheit der Leute so über Homosexuelle dachte, als er ein junger Mann war. Heute ist er 70. Weiße Haare, drei-Tage-Bart. Sein Blick wirkt traurig, selbst wenn er lächelt.
    Kaum eine Hand voll gingen bislang an die Öffentlichkeit
    Mit herabhängenden Schultern geht er langsam voraus, erst durch eine Tankstelle, dann durch ein Parkhaus in Berlin Schöneberg – und bleibt schließlich stehen auf dem kleinen Platz zwischen Parkgarage und S-Bahn-Schienen. Genau hier ist es 1965 passiert. Mit einem anderen jungen Mann, den er beim Spazierengehen getroffen hatte, fuhr er nachts mit dem Auto hierher.
    "Und wie wir richtig schön dabei waren, gingen dann große Taschenlampen an. Dann waren das die Bullen. Die haben reingeleuchtet, geklopft. Anziehen! Mitkommen! Und dann kam ich dann in Einzelhaft."
    Die JVA Moabit sieht heute noch fast genauso aus wie 1965, als Klaus Born hier für 35 Tage einsaß. In den sieben Wochen seiner Haft war Klaus Born vollkommen isoliert.
    "Die haben ja Angst gehabt, dass ich andere anstecke. Ich durfte ja noch nicht mal jemandem die Hand reichen. Die haben immer noch gedacht, wenn man die anfasst, die werden schwul dann die Männer."
    1965 fiel sein Urteil: Mit der Untersuchungshaft war seine Strafe abgegolten. Doch die Probleme hörten nicht auf. Als Vorbestrafter nach Paragraf 175 bekam er jahrelang nur schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs. Das merkt er heute noch – an der Höhe seiner Rente. Er war der erste Verurteilte, der an die Öffentlichkeit ging. Bis heute sind es bundesweit kaum eine Hand voll. Doch Klaus Borns Geschichte brachte etwas ins Rollen. Vor ein paar Wochen wurde er sogar von Bundesjustizminister Heiko Maas, SPD, zu einem Gespräch eingeladen. Dennoch hat er die Hoffnung auf eine Rehabilitierung fast verloren.
    "Die warten jetzt erst mal, wenn sie uns rehabilitieren wollen, bis der letzte gestorben ist. Dann machen sie eine schöne große Feier mit Mittagessen und was da dazu gehört, und dann rehabilitieren sie. Dann haben sie ihre Arbeit gemacht. Fertig."
    "Ich begrüße Sie ganz herzlich zur heutigen Veranstaltung, zur heutigen Pressekonferenz ... "
    Darf eine demokratische Gesellschaft gravierende Fehler stehenlassen?
    Ein paar Journalisten, vor allem von schwul-lesbischen Medien, aber auch Wissenschaftler füllen die Stuhlreihen in dem kleinen, fensterlosen Veranstaltungsraum. Dazwischen sitzen ein paar ältere Männer und Frauen. Es sind Zeitzeugen. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hat eingeladen, die durch Bildungs- und Forschungsprojekte gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung arbeitet. Ein Projektor wirft den Schriftzug "Archiv der anderen Erinnerungen" an die Wand. So heißt das Zeitzeugenprojekt, das die Hirschfeld-Stiftung heute vorstellt. Dabei sollen Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle über ihre Erfahrungen in der Nachkriegszeit interviewt werden. Ans Rednerpult tritt die Berliner Senatorin für Integration, Dilek Kolat. Sie unterstützt das Projekt.
    "Es kam vor, dass schwule Männer nach ihrer Befreiung aus dem KZ zur Verbüßung ihrer Reststrafe erneut inhaftiert wurden. Als ich das erste Mal darüber gehört habe, war ich sehr erschüttert."
    Die SPD-Politikerin startete eine erfolgreiche Bundesratsinitiative: 2012 forderte die Länderkammer von der Bundesregierung: Sie solle prüfen, inwiefern die Rehabilitierung der Verurteilten möglich wäre. Doch die schwarz-gelbe Koalition winkte ab. Schon vorher überstimmten im Bundestag neben Union und FDP auch die SPD, Grüne und Linkspartei, als diese in Anträgen die Rehabilitierung verlangten.
    "Weil einige Juristen der Meinung sind, dass es sich mit dem Rechtsstaat nicht vereinbaren lässt, dass man Urteile, die in der Vergangenheit gefällt worden sind, rückgängig machen kann. Aber dazu gibt es auch einige Expertisen, die auch zeigen, dass es möglich ist."
    Dilek Kolats Bundesratsinitiative stützte sich auf ein Gutachten des Berliner Rechtswissenschaftlers Hans-Joachim Mengel. Er kommt zu dem Schluss: Da mittlerweile Konsens besteht, dass die Urteile die Menschenrechte verletzt hätten, sei es im Sinne der Gewaltenteilung geradezu geboten, die vergangenen Fehlentscheidungen von Justiz und Parlament zu korrigieren – durch ein Gesetz, verabschiedet vom Bundestag. Eine demokratische Gesellschaft müsste in der Lage sein, gravierende Fehler zu beseitigen.
    "Zumal es ja auch für die Opfer bis 45 eine Aufhebung der Urteile gegeben hat. Das hat der Bundestag beschlossen, dort gibt es auch eine Entschädigung. Die Rehabilitierung für diese Menschen ist vollzogen worden und für vom selben Paragrafen nach 45 betroffene Menschen, für die gilt die Rehabilitierung nicht. Das ist nicht in Ordnung."
    Doch auch von neuen Bundesjustizminister hört man nur: Die rechtlichen Möglichkeiten werden geprüft. Warum tut sich die Politik so schwer damit?
    Aufhebung der Urteile könnte einen Präzedenzfall schaffen

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beim Parteitag der Bayern-FDP am 22.11.2013.
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Zwei Legislaturperioden lang Bundesministerin der Justiz. (dpa/Daniel Karmann)
    In Tutzing, am Starnberger See, hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihr Büro. Noch im vergangenen Jahr zeigte sich die damalige Bundesjustizministerin skeptisch, wenn es um die Aufhebung der Urteile nach Paragraf 175 ging – obwohl sie ihn schon damals für Unrecht hielt.
    "Heute würde den alten 175 natürlich das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklären."
    Auf dem Couchtisch vor ihr liegt ein Stapel Papiere. Die einschlägigen Rechtsgutachten zum Thema. Viele Blätter tragen Notizen der FDP-Politikerin. Am Morgen ist sie alle noch einmal durchgegangen. Ihre Position als Ministerin war: Entschuldigen bei den Opfern, ja. Aufarbeitung, ja. Aber eine pauschale Aufhebung von Urteilen, die nicht in einem Unrechtsstaat, sondern in der Bundesrepublik Deutschland gefällt wurden, nein. Denn das wäre ein Eingriff in die Gewaltenteilung.
    "Genau der Gesichtspunkt hat mich immer sehr geprägt bei meinen Überlegungen, dass gerade in einem Rechtsstaat. Und gerade da, wo die Gewalten wirklich unabhängig von Einfluss agieren sollen, also die Justiz auf alle Fälle unabhängig von der Politik – man sieht ja was in anderen Staaten passiert, wenn das nicht der Fall ist – dass man da aber auch nicht den Anschein erwecken darf, man würde hier Justiztätigkeit in Zweifel ziehen."
    Sie, aber auch andere in FDP, Union und SPD hatten Angst, mit der Aufhebung der Urteile einen Präzedenzfall zu schaffen. Würde das Parlament einmal damit anfangen, Entscheidungen der Justiz zu kassieren, wäre die Rechtssicherheit in Deutschland gefährdet. Denn: Wenn Urteile nach dem Paragrafen 175 rückgängig gemacht werden können, wieso nicht auch andere? Das Thema ließ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auch nach ihrer Amtszeit nicht los. Mittlerweile hatte sie mehrere Treffen mit Zeitzeugen.
    "Die wollen Anerkennung, dass sie nicht Kriminelle sind. Die wollen nicht, wie manche so ganz drastisch sagen, als Kriminelle ins Grab gehen. Sondern die wollen attestiert bekommen: Es waren damals Fehlurteile, und das ist auch beseitigt worden."
    Inzwischen kam sie zu dem Schluss: Der Paragraf 175, den die Bundesrepublik unverändert aus der NS-Zeit übernahm, ist ein historischer Sonderfall.
    "Das, was sich alles um den 175, der ja aus der Bismarck-Zeit stammt, rankt, das ist einmalig. Das kann man nicht auf andere Rechtsbereiche und Rechtsfragen übertragen. Und nach vielem Nachdenken bin ich inzwischen fast der Meinung, dass die rechtspolitischen Einwendungen, die ich schon erwähnt habe, dass man die doch in den Griff bekommen kann."
    Ein Gesetz zur Aufhebung aller Urteile wäre aus ihrer Sicht also doch möglich – ohne einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen. Aber wie stehen die politischen Chancen dafür, jetzt, da sie selbst gar nicht mehr im Amt ist?
    "Ich glaube, dass sich auch die Große Koalition damit nach wie vor schwer tut. Aber ich bin absolut unsicher, was das angeht."
    Die politische Diskussion geht weiter. Mehrere Landtage haben sich für die Rehabilitierung der Verurteilten oder zumindest die Aufarbeitung der Homosexuellen-Verfolgung ausgesprochen: in Bremen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Berlin. Die Grünen wollen das Thema bald wieder im Bundestag auf die Tagesordnung setzen. Eine Gruppe von Opfern geht bei den Debatten allerdings etwas unter.
    Die Opfer in der DDR
    Bismarck, ein Dorf in Sachsen-Anhalt. Ein einstöckiges Fachwerkhaus gegenüber der Kirche, die Mauern gelb angestrichen. Hier wohnt Eduard Stapel. Mitte 60, schlank, fast schon hager, mit einem müde wirkenden Lächeln. Er ist ehrenamtlicher Bürgermeister des Ortes – und der Gründer der Schwulenbewegung in der DDR.
    "So viel man bis heute weiß - und da kann sich noch manches dran ändern - hat es diese Jagd der Polizei auf Schwule nicht gegeben in der DDR."
    Trotzdem mussten sich Schwule auch dort verstecken – und in den zensierten Medien und Büchern fanden sich fast keine Informationen über Homosexualität.
    "In der DDR gab es nur das, was es geben sollte. Und was es nicht gab, das sollte es nicht geben, und das durfte es auch nicht geben. Da konnte man sich schon ausdenken, dass die Partei und der Staat das Thema nicht wollten."
    Eduard Stapel sitzt in seinem Arbeitszimmer. In einer Vase steckt eine Regenbogenfahne, das Zeichen der Lesben- und Schwulenbewegung. Ohne Eduard Stapel hätte es die in der DDR vielleicht nie gegeben. Denn er gründete Anfang der 80er-Jahre die "Arbeitskreise Homosexualität" in der evangelischen Kirche, reiste durchs ganze Land.
    "Das Programm ist so Stück für Stück in meinem Kopf gewachsen über Jahre hinweg. Dann haben wir es mal in einer Nacht aufgeschrieben. Und das gilt heute noch für den Lesben- und Schwulenverband. Einfach: Die volle Gleichberechtigung, Gleichstellung und gleiche Teilhabe der Lesben und Schwulen mit Heterosexuellen."
    Öffentlich reagierte die DDR-Führung nie auf die Forderungen. Dennoch wurde der "Schwulenparagraf" 1988 gestrichen. Hatte der Staat also kein Problem mit Homosexuellen? Um diese Frage zu beantworten steht Eduard Stapel auf und geht zu einem seiner Bücherregale. Aktenordner füllen dort mehrere Fächer.
    "Da: Stasi Akten eins ... Also wie viele Ordner sind es ... zwei, vier, sechs, acht, zehn, zwölf ... siebzehn."
    Die Stasi überwachte genau, wie sich innerhalb der Kirche eine Bewegung formierte. 200 Inoffizielle Mitarbeiter waren auf Eduard Stapel angesetzt.
    "Ich heiße After Shave, daneben gibt es Bruder ... Oder dann gibt es Detlef ... Irgendwie hatten sie immer Namen, die irgendwas mit Schwulen zu tun hatten. Also Bruder heißt Warmer Bruder, die Akte Detlef, Schwule werden oft als Detlef bezeichnet."
    Er zieht einen Ordner aus dem Regal. Hunderte Seiten, die belegen: Die Stasi verfolgte seine Auftritte, saß in Sitzungen der Arbeitskreise, spionierte sein Privatleben aus. Außerdem wollte der Geheimdienst die Schwulenbewegung "zersetzen". IMs versuchten, dort Misstrauen zu schüren.
    "Was mir bis heute ein Rätsel ist: Warum für den Staat sofort klar war, das ist Feindeinwirkung, wir sind vom Westen gesteuerte Leute. Die haben über diese sieben Jahre nie mitgekriegt, dass wir nicht vom Westen gesteuert wurden."
    Die Diskriminierung und Verfolgung in der DDR – Eduard Stapel will, dass sie nicht vergessen wird, sollte die Berliner Politik die Rehabilitierung der verurteilten Männer angehen. Allerdings rechnet er nicht so schnell damit.
    "Das, was von den Juristen veranstaltet wird, ist schlichtweg lächerlich. Man weiß heute, dass es menschenrechtswidrig war, Lesben und Schwule zu verfolgen. Nun ist es doch passiert. Und trotzdem gibt es diese erwünschte Rehabilitierung nicht. Es gibt nach wie vor keine Entschädigung. Es zieht sich ja dann weiter, es gibt nach wie vor keine Gleichberechtigung. Und das ist albern, was da die großen Parteien machen."