Lange Zeit galt Homosexualität als Krankheit. Erst 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus der Liste anerkannter psychischer Krankheiten. Bis Ende der 70er-Jahre versuchten Psychiater, die sexuelle Identität unter anderem mit einer Aversionstherapie zu ändern:
"Da hat man homosexuellen Menschen Bilder von gleichgeschlechtlicher Sexualität gezeigt und sie dazu angeregt, sich zu erbrechen oder ihnen auch Elektroschocks verpasst. Das macht man heute, soweit wir wissen, nicht mehr", erläutert Kerstin Lammer.
Die Theologieprofessorin von der Evangelischen Hochschule Freiburg war Mitglied in einer Fachkommission des Gesundheitsministeriums.
Gerhard Kupper wurde nicht mit Elektroschocks behandelt. Er machte eine Konversionstherapie in den 90er-Jahren bei einem evangelikalen Institut im Odenwald. Ihm wurde gesagt:
"Das ist eine frühkindliche Störung, die sich aus dem Genogramm ergibt, das man erstellt - dass man mal schaut, wie sah das Elternhaus aus, welche Störung gab es da. Dann kommt man dahin, dass diese Kindheitsfaktoren zu dieser Störung geführt haben, dass man sich nicht als normaler Mann fühlen kann. Dort wird geguckt, dass man diese psychische Störung bewältigen kann, um dann zu einem ‚normalen Mann‘ im biblischen Sinne zu werden, also heterosexuell."
"Man wächst in diese Anti-Homosexuellen-Haltung hinein"
Die homosexuellen Neigungen sollten als minderwertig bekämpft werden. Kupper, der in einer freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen war[*], setzte auf die vermeintliche Heilung.
"Damals war ich davon sehr überzeugt, dass das funktioniert. Man wächst ja in diese Anti-Homosexuellen-Haltung hinein, und dann ist es fast logisch, was dort als Lösung angeboten wird. Dann habe ich nach ein paar Jahren festgestellt, dass es nicht funktioniert", sagt Kupper.
Gerhard Kupper hat seine Homosexualität lange verdrängt und verheimlicht. Er hat geheiratet, hat zwei Kinder, war in der freikirchlichen Gemeinde voll integriert. Er hat lange gebraucht, bis er sich zu seiner Homosexualität bekennen konnte. Sein Coming-out führte zum Ausschluss aus der Gemeinde, die Ehe ging in die Brüche, Freunde wandten sich ab.
"Ich hatte dann aufgrund dieses Psycho-Programmes und der Einbindung in das gesamtreligiöse Konzept - das hat dann ganz tiefe Spuren hinterlassen, und ich habe einige Jahre gebraucht mit psychologischer Hilfe, dass ich da überhaupt mit klar komme", sagt Kupper.
Tendenziöse Beratung
Auch Uwe Heimowsky hält nichts von den traditionellen Konversionstherapien. Er ist der politische Repräsentant der Deutschen Evangelischen Allianz, einem Netzwerk evangelikaler Christen. Er weiß, dass evangelikale Vereine unter dem Verdacht stehen, diese Therapien anzubieten.
"Es gibt mit Sicherheit Gemeinden, die sagen: Homosexualität ist Sünde", sagt Heimowsky. "Daraus aber abzuleiten, dass sie auch Homosexualität als Krankheit und therapierbar verstehen, das halte ich für schwierig. Ich kenne keine einzige Einrichtung, die sagt: Deine Homosexualität ist ein Krankheitsbild und wir wollen dich behandeln."
Vielleicht würden – so die Theologin Kerstin Lammer - die christlich-fundamentalistischen Anbieter nicht mehr von Homosexualität als Krankheit und von "Heilung" sprechen. Sie würden sich heute "geschickter tarnen", meint die evangelische Theologieprofessorin:
"In ihren öffentlichen Diskussionsbeiträgen verwenden sie politisch korrekte Begriffe wie ‚Die Therapie soll in Krisen die Persönlichkeit stärken; sie soll ergebnisoffen sein‘, aber wir wissen aus Berichten Betroffener und aus Handreichungen, die diese Organisationen an Eltern gleichgeschlechtlich liebender Jugendlicher richten, wie tendenziös sie eingestellt sind und beraten", so Lammer.
"Da wird Stimmung gemacht"
Die Stiftung Magnus Hirschfeld geht davon aus, dass in Deutschland, dass heute noch rund 1.000 Menschen jährlich eine sogenannte Konversionstherapie machen. Uwe Heimowsky hält die Zahl für zu hoch gegriffen:
"Das deckt sich in keiner Weise mit meinen Erfahrungen und das sind vollkommen willkürliche Zahlen. Da wird Stimmung gemacht", sagt Heimowsky.
Zu den Anbietern zählen laut Kerstin Lammer vor allem das Institut für dialogische und identitätsstiftende Seelsorge und Beratung – besser bekannt unter dem alten Namen Wuestenstrom - und das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft in Reichelsheim im Odenwald. Dieses evangelikale Institut ist Mitglied im Diakonischen Werk der EKD. Dort war in den 90er-Jahren auch Gerhard Kupper. Er beobachtet seitdem die Szene jener Organisationen, die Konversationstherapien anbieten:
"Mir ist aufgefallen, dass seit 2016 all diese Gruppierungen, die darauf Bezug nehmen, eine identitätsstiftende Seelsorge zu betreiben und zu beraten, die haben vorher von Heilung gesprochen. Aber inzwischen sprechen sie nur noch von identitätsstiftender Seelsorge und Beratung, wobei sie ja nicht sagen, mit welchen Inhalten sie diese Beratung füllen. Und es bleibt der Verdacht, dass sie das, was früher als Konversionstherapie angeboten wurde, heute in die Beratung integrieren."
"Diese Therapien haben massiv schädigende Folgen"
Auch wenn die Angebote heute nicht mehr als Konversionstherapie bezeichnet werden – Kerstin Lemmer warnt dennoch davor:
"Die Gefahr liegt darin, dass sie suggerieren, Homosexualität sei falsch, schlecht, sei eine Störung, was sie nicht ist. Sie suggerieren den Betroffenen und auch dem sozialen Umfeld diese falsche Einstellung, und die Therapien haben massiv schädigende Folgen."
Dem Argument mancher evangelikaler Christen, die Betroffenen würden doch freiwillig die Angebote in Anspruch nehmen, weil sie selbst unter ihrer Homosexualität leiden würden, kann Gerhard Kupper nicht folgen:
"Wenn ich in einem solchen religiösen Umfeld groß werde und mir ständig gesagt wird, dass das Sünde ist, dann übernehme ich diese Wertehaltung auch. Und wenn ich feststelle, ich bin homosexuell, dass das zu einem Konflikt führt, ist vollkommen klar."
Nicht die Homosexualität sei das Problem, meint Kupper heute, sondern dass sie als sündhaft verteufelt werde.
"Eine Frage der Religionsfreiheit"
Dennoch warnt Uwe Heimowsky von der Deutschen Evangelischen Allianz davor, die Bundesregierung könnte mit einem Gesetz zum Verbot von Konversionstherapien zu weit gehen. Denn man müsse konservativen Christen zugestehen, dass sie beispielsweise Homosexualität als Sünde betrachten:
"Das ist eine geistlich-theologische Bewertung eines bestimmten Sexualverhaltens, das ist eine Frage der Religionsfreiheit", sagt Heimowsky. "Was wir mit Sorge betrachten, ist die Ausgestaltung dieses Gesetzes, wenn dadurch gleichzeitig die Begleitung von Menschen, die eine Veränderung suchen, ausgeschlossen wird. Es gibt Fälle, wo die Sexualität uneindeutig ist. Wenn diese Fälle nicht mehr begleitet werden dürften, das würden wir als Schwierigkeit empfinden."
Strafverfolgung: "Signalwirkung ist enorm wertvoll"
Kerstin Lammer hält dem entgegen: Die Seelsorger, die solche Menschen begleiten, würden von der eindeutigen Prämisse ausgehen, dass Homosexualität Sünde sei. Deshalb seien evangelikale und freikirchliche Seelsorger voreingenommen und in diesem Bereich ungeeignet:
"Sie verstärken, was sie beseitigen wollen, nämlich Identitätskonflikte und Störungen", sagt Lammer.
Die evangelische Theologin würde ein Gesetz gegen Konversionstherapien begrüßen. Allerdings:
"Auf der Ebene der Ahndung von Anbietern wird es wahrscheinlich eine geringe Zahl an Verurteilungen geben, aber die öffentliche Signalwirkung ist enorm wertvoll", so Lammer. "Dass öffentlich klar gemacht wird: Homosexualität ist nicht krank, ist nicht falsch, aber dagegen vorzugehen ist falsch und gesetzeswidrig."
[*] Diese Formulierung hat beim "Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland KdöR (FeG)" den Eindruck erweckt, dass Herr Gerhard Kupper in einer freien evangelischen Gemeinde aufgewachsen sei, die zum Bund Freier evangelischer Gemeinden gehört. Richtig ist, dass die Gemeinde, in der Herr Kupper aufgewachsen ist, zum "Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R." gehört.