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Horrorschule war gestern

Wer denkt, aus Aschenputtel könne in Wirklichkeit niemals eine Prinzessin werden, wird in Berlin-Neukölln eines Besseren belehrt: Bis vor kurzem stand die Rütli-Schule symbolisch für den Kollaps des dreigliedrigen Bildungssystems. Doch nun soll aus der verrufenen Rütli-Anstalt eine vorbildliche Gemeinschaftsschule werden, mit einem eigenen Campus, integrierten Kitas, Jugendclubs und einem Elternzentrum. Eine Ghettoschule stellt man sich eigentlich anders vor. Wer hier in die Rütlistraße kommt, in der die berühmt-berüchtigte Hauptschule liegt, ist verwundert. Geradezu malerisch strahlt der helle Schulbau in der Mittagssonne. Keine Anzeichen von Verwahrlosung, keine von Gewalt, ja, noch nicht einmal Graffiti gibt es hier an den Wänden.

Von Tina Hüttl | 02.08.2008
    Stattdessen grüßen am Eingang der verkehrsberuhigten Rütlistraße zwei riesige Froschskulpturen. Gegenüber der Schule steht ein bunt bemalter Jugendclub mit einer Caféterrasse. Es gibt zwei Kitas, Gärten und einen Spielplatz - und über dem Ganzen wölbt sich das dichte Blätterdach der Akazienbäume.

    "Ja, diese Straße ist so ein Glücksfall, dass hier diese Idee geboren worden ist, das Ganze endlich einmal probieren, was in der Literatur zu finden ist: den Schüler etwas zu zutrauen, die Schüler so zu fördern, dass Defizite möglichst früh ausgeglichen werden. Das ist jetzt hier der Glücksfall, dass hier die Grundstückslage so ist, dass man so etwas auf einem Campus einmal realisieren kann."

    Lange genug hatte Klaus Lehnert das Neuköllner Albert-Einstein-Gymnasium geleitet. Doch statt in den Ruhestand, stürzte er sich ins nächste Abenteuer.

    Lehnert will die Rütlischule - einst Horrorschule der Nation - in eine bundesweit einmalige Vorzeigeschule verwandeln. Dazu werden vom nächsten Schuljahr an, alle Bildungseinrichtungen rund um die Rütlistraße zu einem sogenannten "Campus Rütli" verschmolzen. Kernstück des Konzepts ist die Schaffung einer ganztägigen Gemeinschaftsschule von der 1. bis zur 10. Klasse:

    "Die drei Schulen auf diesem Gelände, die Franz-Schubert-Grundschule, die Rütli-Hauptschule und die Heinrich-Heine-Realschule werden in dieser Form (...) aufhören zu existieren. Sie gehen über in eine Gemeinschaftsschule. Gemeinschaftsschule ist mehr als die bekannte Gesamtschule. Die Schülerinnen und Schüler werden wie zurzeit in der Grundschule alle gemeinsam den gleichen Unterricht genießen, bei dem gleichen Lehrer."

    Was Lehnert da plant, ist radikal, aber andererseits: es gibt nicht viel zu verlieren. Vor zwei Jahren forderten die Lehrer der Rütli-Hauptschule in einem Brief an den Senat selbst das Aus ihrer Anstalt. Die gewalttätigen Übergriffe seien unzumutbar, die Schüler nicht unterrichtbar. Nun sollen lernschwächere und -stärkere Schüler in einem Ganztagsprogramm vor allem voneinander lernen. Während der Sommerferien bilden sich dafür alle Lehrer fort. In Zukunft setzt man hier auf schülerorientiertes und selbstorganisiertes Lernen statt auf Frontalunterricht.

    Cordula Heckmann ist Rektorin der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule, die in der neuen Gemeinschaftsschule aufgeht. In der Fusion sieht sie eine große Chance, auch für ihre Schüler.

    "Klar ist auch, dass wir hier im sozialen Brennpunkt, nicht die Ergebnisse erzielen, die man sich wünscht. Es ist klar, dass wir mehr Schüler zum mittleren Schulabschluss führen wollen und da hatten wir das Gefühl, dieses Ziel zu erreichen. "

    Zufällig fährt Volkan an diesem Tag mit seinem BMX-Rad durch die Rütlistraße. Vor zehn Jahren ging der 26jährige Türke hier selbst auf die berüchtigte Schule. In seiner Freizeit trainiert er Kinder im Fußballclub um die Ecke. Was brauchen seiner Meinung nach die Schüler hier im Bezirk?
    "Da muss so ein Betreuer oder jemand da sein für die Jugend (so),dass er mit die Jugend entweder Hausaufgaben macht oder Sport macht oder mal unterhalten so: Was bedeutet Gewalt? Die machen Gewalt: aber sie wissen nicht die Folgen danach. "

    Möglichst früh bei den Jugendlichen ansetzen und sie auch nach der Schule nicht alleine lassen, so lautet das Gebot der Stunde. Im Campus Rütli-Projekt, für dessen Umsetzung 22 Millionen beantragt sind, ist die Gemeinschaftsschule nur ein Baustein.

    Einige Straßen entfernt sitzt Ilse Wolter im Quatiersbüro Reuterplatz. Die erfahrene Quatiersmanagerin kennt die Probleme der Familien hier, die hohe Arbeitslosigkeit, die Armut, die schlechten Deutschkenntnisse. Für das Projekt "Campus Rütli" arbeitet sie daran, die neue Schule mit anderen Sozial- und Bildungseinrichtungen wie Kitas, Migrantenvereine oder Sprachzentren zu vernetzen. Der Campus soll das ganze Wohnquartier rund um die Schule beflügeln.

    "Soziale Segregation macht sich am Punkt der Schulen fest. Das heißt, wenn man die Situation im Gebiet verbessern will, wenn man Leute halten will, die sonst wegziehen, dann muss man die Situation in den Schulen total verbessern. "

    Die erste Finanzierungsrate von fünf Millionen fließt derzeit schon in den Bau einer neuen Mehrzweck-Mensa, eines Elternzentrums und einer Turnhalle, die einmal alle im Quatier nutzen dürfen. Nicht alles muss neu geschaffen werden: Im Jugendclub Manege gegenüber der Rütlischule stehen den Schülern schon seit langem Hausaufgabenbetreuung, Musikstunden und eine Holzwerkstatt offen. Für Susanne Dähner aus dem Clubbüro fordert das Campus-Modell die Schule vor allem zum Umdenken auf:

    "Hier ist ein Jugendzentrum, hier kann man reingehen, hier kann man Sachen ausprobieren, visionär sein und da dazuzustoßen, das ist, was die Schule noch etwas mehr begreifen muss, um das ganze Konzept Campus Rütli noch erfolgreicher werden zu lassen."