Horst Köhler ist tot
Der Bundespräsident, der mit der Politik fremdelte

Als nahezu Unbekannter wurde Horst Köhler 2004 Bundespräsident. In der Bevölkerung wuchs seine Beliebtheit schnell, doch im Politikbetrieb kam er bis zu seinem überraschenden Rücktritt nie richtig an. Nun ist er im Alter von 81 Jahren gestorben.

Schwarz-weiß Porträt von Horst Köhler.
Horst Köhler war vom 1. Juli 2004 bis zu seinem Rücktritt am 31. Mai 2010 der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (picture alliance / photothek / Thomas Trutschel)
Einen Blues hatte sich Horst Köhler zur feierlichen Verabschiedung aus dem Amt gewünscht. Den St. Louis Blues. Beim großen Zapfenstreich am Abend des 15. Juni 2010 zu seinen Ehren ließ sich wenig ablesen an Köhlers Miene, wenige Tage nachdem er seinen Rücktritt erklärt hatte. Ein überraschender Rückzug, mit dem er im Sommer 2010 nicht nur viele Deutsche, sondern auch den Berliner Politikbetrieb verstört hatte - und Rätsel aufgab.
Denn viele vermuteten als Grund dahinter mehr als die Kritik an einer missverständlichen Äußerung Köhlers zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, einer Äußerung in einem Deutschlandfunk-Interview. Der Mann, der von sich sagte, er habe früh gelernt, nie aufzugeben, hatte das höchste deutsche Staatsamt hingeworfen. Mit sofortiger Wirkung - ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik.

Vom IWF auf die politische Bühne in Berlin

Rückblick: Der 23. Mai 2004 - ein knapper Sieg in der Bundesversammlung über die Sozialdemokratin Gesine Schwan im ersten Wahlgang. Eher scheu wirkte der Mann, der damit die politische Bühne in Berlin betrat. „Deutschland hat mir viel gegeben. Davon möchte ich etwas zurückgeben. Ich liebe unser Land“, sagte Köhler.
Als CDU-Chefin Merkel und der FDP-Vorsitzende Westerwelle den bisherigen Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) als Kandidaten präsentierten, da konnte die Mehrheit der Deutschen mit dem Namen Horst Köhler zunächst wenig anfangen. "Horst wer?" titelte eine deutsche Zeitung. Dabei hatte Köhler mit den Arbeiten an der deutsch-deutschen und der europäischen Währungsunion da längst schon Geschichte mitgeschrieben.

Erster Bundespräsident ohne Politikerkarriere

Die damaligen Oppositionspolitiker Merkel und Westerwelle aber sahen in einem gemeinsamen Kandidaten eine Symbolfigur für die schwarz-gelbe Wunschkoalition. Horst Köhler wurde darauf nicht so gerne angesprochen: „Ich bin Köhler. Ich habe meine eigenen Vorstellungen. Ich habe meine eigenen Urteile. Ich habe meine eigenen Erfahrungen.“  
Horst Köhler (M.), Bundespräsident-Kandidat, spricht mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel (r.) und dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle.
Die Oppositionspolitiker Angela Merkel (CDU) und Gudio Westerwelle (FDP) aber sahen 2004 in Horst Köhler (M.) eine Symbolfigur für die schwarz-gelbe Wunschkoalition (picture alliance / AP Photo / FRITZ REISS)
Köhler war der erste Bundespräsident, der keine Politikerkarriere hinter sich hatte, keiner Seilschaft angehörte. Und er war entschlossen, genau das in einen Trumpf zu verwandeln: „Unter dem Strich, glaube ich, dass jeder Bundespräsident möglicherweise seine Zeit hat. Und die Zeit, wie wir sie jetzt haben, am Anfang des 21. Jahrhunderts, mit der Befindlichkeit der Deutschen, der weltwirtschaftlichen Situation, habe ich das Gefühl, ich könnte sogar ganz gut in diesen Abschnitt der deutschen Geschichte passen.“ 

Köhlers Biografie - ein Spiegel deutscher Geschichte

Seine Biografie, so Köhler, spiegele deutsche Geschichte wider. 1943 wird er im besetzten Polen, nahe Lublin geboren, als Kind deutschstämmiger Eltern, die zuvor von den Nationalsozialisten aus dem rumänischen Bessarabien umgesiedelt worden sind. Köhler ist das siebte von acht Kindern. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen, betreibt Landwirtschaft. 1944 fliehen die Köhlers vor den anrückenden sowjetischen Truppen in die Nähe von Leipzig.
1953 dann die zweite Flucht - aus der DDR in die Bundesrepublik. Es folgen vier Jahre in verschiedenen Auffanglagern, ehe die Köhlers im schwäbischen Ludwigsburg eine Heimat finden. Dort lernt Köhler auch seine spätere Frau, Eva Luise kennen. „Meine Kindheit war immer geprägt von Neuanfang. Meine Eltern haben praktisch drei Mal alles verloren und drei Mal wieder neu angefangen. Das hat mich auch ein Stück geprägt - nie aufzugeben.“ 
Als einziger in der Familie besucht Köhler das Gymnasium, studiert Betriebswirtschaftslehre, arbeitet sich konsequent nach oben: Staatssekretär, Direktor des Sparkassenverbands, Präsident der Osteuropabank in London und im Jahr 2000 Chef des Internationalen Währungsfonds.

Architekt der Europäischen Zentralbank und IWF-Chef

Als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium wird er bald einer der wichtigsten Wirtschaftsberater des damaligen Kanzlers Helmut Kohl. Als sogenannter Sherpa bereitet er internationale Wirtschaftsgipfel vor. Köhler handelt die Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR aus. Und er sitzt im Auftrag der Bundesregierung mit am Tisch, als die Verträge über den Euro ausgehandelt werden.
Als wichtigster Unterhändler Deutschlands setzt Köhler durch, dass das Regelwerk der künftigen Europäischen Zentralbank jenem der Deutschen Bundesbank ähnelt, die Europäer also den strengen deutschen, geldpolitischen Traditionen folgen. Es ist dann Kohls Nachfolger Gerhard Schröder, der den Spitzenökonom Köhler als Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorschlägt – und im Jahr 2000 auch durchsetzt.

Fürsprecher für die Interessen Afrikas

Schon als IWF-Chef mahnt Köhler immer wieder die Interessen Afrikas an. Ein Thema, das er als Bundespräsident konsequent weiterverfolgen wird. Bereits in seiner Antrittsrede kritisiert er die Gleichgültigkeit der Europäer gegenüber Afrika: „Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas.“ Köhler gründet die Initiative "Partnerschaft mit Afrika". Und die meisten seiner Reisen als Bundespräsident werden ihn dorthin führen.
In Deutschland gewinnt Köhler schnell an Beliebtheit. Zwar ist er kein großer Redner, wirkt oft unbeholfen. Aber: Die Deutschen empfinden ihn als authentisch. In Umfragen rangiert er regelmäßig auf Spitzenplätzen. Und er verschafft sich Respekt auf der außenpolitischen Bühne, auch dort, wo deutsche Politiker besonders kritisch betrachtet werden.

Respekt auf außenpolitischer Bühne: "authentisch und offen"

Im Februar 2005 spricht Köhler vor der Knesseth, dem israelischen Parlament. Er erzählt, wie ihn Holocaustüberlebende einen Monat zuvor durch das Lager Auschwitz begleitet haben: „Ich bin durch das Tor gegangen, wir haben die Gleise gesehen, die Rampe. Ich bin von den Gaskammern zu den Krematorien gegangen. Die Überlebenden waren an meiner Seite. Sie haben mir, dem Deutschen, an diesem Ort geholfen. Ich verneige mich in Scham und Demut vor den Opfern und denen, die ihnen unter Einsatz ihres Lebens geholfen haben.“ 
Bundespräsident Horst Köhler (M.) besucht am 1. Februar 2005 mit seiner Frau Eva (l.) die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und geht an einer Fotowand aus einem Nazi-Todeslager vorbei.
Im Rahmen seines Israel-Besuchs im Februar 2005 besuchte Horst Köhler auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (picture-alliance / dpa / dpaweb / Jim_Hollander_ / _Pool)
"Authentisch und offen", urteilen israelische Medien und die deutsche Presse übereinstimmend über Köhlers Auftreten in Israel. Im Berliner Politikbetrieb aber hat Köhler seine Rolle noch nicht gefunden. Die Verfassung räumt dem Bundespräsidenten formal wenig Macht ein. Köhler aber sieht sich als Motor für Reformen. Schröders rot-grüne Agenda 2010 lobt er zwar, lässt aber deutlich durchblicken, dass er sich von einer Kanzlerin Merkel mehr an Reformen versprechen würde.

Die schwierigste Entscheidung seiner Amtszeit

2005 muss Köhler die schwierigste Entscheidung seiner Amtszeit treffen: Kanzler Gerhard Schröder kündigt nach einer herben Wahlniederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen kurzerhand Neuwahlen an. Der Bundespräsident, der laut Verfassung erst einmal prüfen muss, ob Neuwahlen überhaupt berechtigt sind, erfährt davon aus den Medien. Die Verfassung lässt vorzeitige Neuwahlen zu, wenn der Kanzler die Mehrheit im Parlament nicht mehr hinter sich hat.
Doch bis zuletzt hatte die Koalition ihre Gesetze mit den Stimmen von Rot-Grün verabschiedet. Schröders Niederlage bei der Vertrauensfrage am 1. Juli 2005 im Parlament ist also inszeniert. Doch auch Union und FDP wollen Neuwahlen. Sie hoffen auf den Machtwechsel. Berlin wartet auf Köhlers Entscheidung.
„Ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt.“- In einer Fernsehansprache begründet Köhler seine Entscheidung weniger juristisch als vielmehr politisch, spricht von den gewaltigen Aufgaben, die vor dem Land lägen. Für Köhler steht sogar - so wörtlich "die Zukunft unserer Kinder" auf dem Spiel. Der Bundespräsident kann aufatmen, als das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung einige Zeit später bestätigt.

"Super-Horst" - im Volk beliebt, in der Politik nicht angekommen

Nach der Bundestagswahl 2005 ist es dann die Große Koalition, die Regierung Merkel, von der Köhler mehr Reform-Elan sehen will. Der Bundespräsident wartet zunächst ab, kritisiert dann aber mit zunehmender Ungeduld die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Gesundheitsreform. Beides seien falsche Signale. Schnell zeigt sich: Das Verhältnis zwischen Köhler und den Regierungspolitikern der Großen Koalition hat sich deutlich abgekühlt.
In der Bevölkerung dagegen kann Köhler mit dieser Haltung punkten - die Presse liefert einen neuen Titel für Köhler: "Super- Horst". Im konservativen Lager, bei der bayerischen CSU, stößt Köhler hingegen ein weiteres Mal auf Kritik, als er vor der Entscheidung über ein Gnadengesuch den RAF-Terroristen Christian Klar zu einem persönlichen Gespräch trifft. Im Mai 2007 lehnt er Klars vorzeitige Entlassung ab - ebenso wie das Gnadengesuch von Birgit Hogefeld.
"Köhler ist kein Taktierer. Er reibt sich an den Strukturen wund", so schrieb der inzwischen verstorbene Köhler-Biograph Gerd Langguth. Er sei im Volk beliebt, aber in der Politik nicht angekommen, so seine These: „Er ist so etwas wie ein Technokrat geblieben. Das sind ja viele Beamte, die die Politik mit ihrer teilweise hochqualifizierten Expertise begleiten. Und ich denke, er hat nicht so richtig verstanden, wie Politiker ticken. Er hat die Brücke zwischen Politik und der Bevölkerung, die hat er auch nicht so richtig hergestellt. Zwischen ihm und der Politik war so etwas wie eine unsichtbare Wand gewesen.“

Wiederwahl - zum zweiten Mal Symbolfigur für Schwarz-Gelb

Im Frühjahr 2008 endet für Köhler eine Bedenkzeit: „Ich habe mich entschlossen, im kommenden Jahr erneut für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren." Der Politologe und Biograf Gerd Langguth war sich rückblickend sicher: Schon in der ersten Amtszeit habe sich hinter dem Bild des unbequemen Mahners beim doch eher dünnhäutigen Menschen Köhler einiges an Frustration aufgestaut.
Aber für Köhler, der fast sein gesamtes Leben um den Aufstieg gekämpft hat, habe weiter gegolten: "Nie aufgeben". Langguth weiter: „Er ist ja aus den ärmlichsten Verhältnissen nach oben gestiegen und hat in einer bewundernswerten Weise als Beamter sich hoch gearbeitet. Und so jemand vom Typ her, der sich immer nach oben rackert, so einer gibt nicht ohne weiteres die Möglichkeit auf, Bundespräsident zu bleiben.“
Der Bundespräsident wird wenige Monate vor der Bundestagswahl 2009 gewählt. Und für Kanzlerin Merkel steht der seinerzeit von CDU und FDP aufs Schild gehobene Köhler nun zum zweiten Mal als Symbolfigur einer schwarz-gelben Wunschkoalition. Wie schon 2004 tritt Köhler auch diesmal gegen die vom rot-grünen Lager nominierte Gesine Schwan an: „Es entfallen auf Herrn Horst Köhler 613 Stimmen…“

Als Ratgeber auch unter Schwarz-Gelb nicht gefragt

Die unsichtbare Wand zwischen dem Hausherrn im Schloss Bellevue und der Berliner Politik bleibt auch in Zeiten von Schwarz-Gelb bestehen. Köhler geißelt die Gier der Manager und fordert Regeln, um die Auswüchse der Globalisierung zu bekämpfen. Doch im Vergleich zu seiner ersten Amtszeit hält er sich zurück, wohl auch, weil er spürt, dass die Einwürfe des Ökonomen Köhler abperlen am politischen Tagesgeschäft – selbst während der größten Wirtschaftskrise seit dem Krieg.
Gerd Langguth: „Er hätte vielleicht auch erwartet, dass Frau Merkel ihn vielleicht häufiger konsultiert. Jedenfalls war er nicht als Ratgeber der Bundesregierung gefragt. Und das dürfte ihn umso mehr geschmerzt haben, dass es sich auch unter Frau Merkel und Herrn Westerwelle genauso verhielt wie unter der Vorgängerregierung.“ Köhler habe seine Sprache nicht gefunden - und trotz seiner Kompetenz als Ökonom auch keinen roten Faden für seine Präsidentschaft, glaubte Gerd Langguth.
Fernab vom politischen Berlin zeigt sich damals dagegen immer wieder der andere Horst Köhler. In Indien besucht er ein mit deutscher Hilfe finanziertes Bewässerungsprojekt, umringt von indischen Frauen: „Wissen Sie, ich bin da ganz offen gegenüber. Weil ich nämlich in meinem ganzen Leben festgestellt habe: Wenn man offen ist anderen gegenüber, lernt man was. Und warum soll ich hierherkommen und denken ich bin der Größte. Diese Leute können mir auch was sagen.“

Harsche Kritik nach umstrittenem Interview

Kurz darauf beginnt das letzte Kapitel seiner Amtszeit. Auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch bei der Bundeswehr in Afghanistan gibt Köhler ein längeres Interview zur Rolle der Bundeswehr:
„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen, negativ bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“
Das Interview trägt Köhler harsche Kritik der Opposition ein. Von "imperialem Zungenschlag" spricht ein Verfassungsrechtler. Der Bundespräsident lässt klarstellen, er habe nicht den Einsatz in Afghanistan, sondern den am Horn von Afrika zum Schutz vor Piraten gemeint. Doch die Kritik ebbt nicht ab. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin rückt ihn gar in die Nähe des alterskranken Bundespräsidenten Heinrich Lübke.

Köhlers Rücktritt überrascht das politische Berlin

Die Einladung zu einem Pressestatement Köhlers am 31. Mai 2010 kommt so kurzfristig, dass viele Journalisten es nicht ins Schloss Bellevue schaffen. Kurz nach 14 Uhr tritt der Bundespräsident mit versteinerter Miene ans Mikrophon: „Ich bedaure, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen. Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten, mit sofortiger Wirkung.“
Horst Köhler steht am 31. Mai 2010 an einem Rednerpult im Schloss Bellevue und erklärt seinen Rücktritt. Neben ihm steht seine Frau Eva.
Mit seinem Rücktritt am 31. Mai 2010 überraschte Horst Köhler die Berliner Politik (picture alliance / photothek / Thomas Koehler)
Horst Köhler liest den nicht einmal dreiminütigen Text ab. Es sei ihm eine Ehre gewesen, Deutschland zu dienen, endet er, dreht sich um und verlässt am Arm seiner Frau Eva Luise den Saal. Kanzlerin Merkel war von Köhler nur etwa zwei Stunden zuvor über dessen Entscheidung telefonisch informiert worden: „Ich war überrascht von dem Telefonat natürlich und habe versucht, ihn in diesem Telefonat nochmals umzustimmen.“

Rücktritt bringt Kanzlerin Merkel in missliche Lage

Die Kanzlerin bringt Köhlers Rücktritt in eine missliche Lage, mitten in der Wirtschaftskrise, in der ihre Regierung Deutschland Milliardenpakete zur Bankenrettung und unpopuläre Sparpakete abverlangt. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht aus, was viele Kommentatoren in diesen Tagen ähnlich sehen: „Ich halte nun wahrlich das Interview von Horst Köhler nicht für besonders glücklich und richtig. Aber ich kann keinen Grund erkennen, außer dem, dass Horst Köhler offensichtlich den Eindruck hat, dass er bei denen, die ihn ins Amt gebracht haben, nicht ausreichend Rückendeckung bekommen hat.“
Köhler, der Pflichtbewusste, hatte offenbar keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als das höchste deutsche Staatsamt hinzuschmeißen. Als Teil des Berliner Politikbetriebs hatte er sich nie gesehen. Die Distanz zur Politik ertrug er. Doch Köhler, der Bürger-Präsident, der vor allem durch das Wort, durch Reden die Menschen erreichen musste, war auf die Medien angewiesen - und sah sich zunehmend mit schlechter Presse konfrontiert.
Doch ahnten auch Köhlers enge Mitarbeiter im Schloss Bellevue in den Tagen vor dem Rückzug nicht, wie sich ihr Chef am 31. Mai aus dem Amt verabschieden würde. Aus jenem Amt, mit dem er eine glanzvolle Karriere krönen wollte. Vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten hatte Köhler gesagt: "Fügung ist ein großes Wort. Wenn es gut geht, dann werde ich irgendwann sagen, es war Fügung."

Für eine faire Wirtschaft und Warner vor Populisten

Als sein Nachfolger Christian Wulff im Bundestag feierlich den Amtseid leistete, ergriff Köhler nicht das Wort. Später erklärte er in einem Zeitungs-Interview, er sei aus – Zitat – "Respekt und Wahrhaftigkeit" gegenüber der "politischen Kultur unseres Landes" zurückgetreten.
Seine Aufmerksamkeit richtete Horst Köhler seit dem Ausscheiden aus dem Amt insbesondere auf den Kontinent, der ihm stets besonders am Herzen lag: auf Afrika. Von den Industrieländern forderte er den Wandel hin zu einer nachhaltigen und fairen Wirtschaft. Vor Populisten warnte der Alt-Bundespräsident: Man könne die Komplexität der Welt nicht reduzieren, indem man sie ignoriere.