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Hort der kritischen Intelligenz. Ägyptische Intellektuelle und der interkulturelle Dialog. Ein Radioessay

Der Ort ist sehr wichtig. Wer festzustellen will, wie die Stimmung unter den kritischen ägyptischen Intellektuellen ist, muss gerade in Kairo die Geschichte des Ortes kennen, an dem man sich mit ihnen trifft. Jetzt, in den Tagen des Irakkrieges finden sich Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler wieder in den Cafes und Klubs in der Talat Harb Strasse im Zentrum der bevölkerungsreichsten Stadt der arabischen Welt ein: Im Nadi Yunnan, dem griechischen Klub, im Cafe Groppi oder im Cafe Risch. Im letzten Jahrzehnt waren die alten Cafes und Klubs aus den Zeiten des liberalen und nationalen Aufbruchs der 20er bis 60er Jahre verweist, aus der Mode gekommen. Selbst die "Säkularisten", wie die an westlicher Aufklärung orientierten Intellektuellen von den Islamisten beschimpft werden, hatten sich in die einfachen Cafes und Kneipen im Inneren der 1000jährigen Kairoer Altstadt zurückgezogen, in den Chan el Chalili direkt an der Azhar Moschee, dem einflussreichsten Zentrum sunnitisch-islamischer Gelehrsamkeit. Frustriert suchte man dort nach dem baladi Ägypten, der Kultur der einfachen Leute, imitierte die Sprache der Strasse. Verstanden wurde man jedoch nicht. Oder man war ganz einfach zu Hause geblieben, in innerer Emigration erstarrt, zensiert, mundtot gemacht durch die schier endlos erfindungsreichen Repressionen der diktatorisch regierenden Staatseliten und die religiöse Opposition um die Muslimbrüderschaft und ihre militanten Ableger, oder durch beide gemeinsam. Doch seit einigen Wochen hat sich alles verändert. Eine lange unbekannte Aufbruchstimmung hat viele ergriffen. Auch die Schriftstellerin Salwa Bakr erzählt mir mit neuem Selbstbewusstsein im Cafe Risch, dem wohl traditionsreichsten Ort der kritischen Intelligenz, von der Bedeutung eines interkulturellen Dialogs zwischen arabischen und westlichen Schriftstellern.

Christoph Burgmer |
    Ich glaube, dass die meisten ägyptischen und arabischen Schriftsteller niemals von der sozialen und politischen Realität in unseren Ländern abgekoppelt waren. Viele von ihnen sehen sich als Pioniere, die seit dem Unabhängigkeitskampf gegen die Briten ihre Rolle auch als politisch betrachten. Es gehört quasi dazu, dass man sich auch parteipolitisch engagiert. Aber es stimmt, dass es seit dem Irakkrieg eine Art Reflexion darüber gibt, wie man sich selbst in seiner Rolle als Schriftsteller in der Gesellschaft sieht. Die Situation in Palästina und der Irakkrieg führen dazu, dass man Fragestellungen und Ziele neu definiert. Man sieht sich jetzt mehr als diejenigen, die zunächst Forderungen innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften stellen müssen. Zusätzlich aber auch als Protagonisten eines neu zu führenden interkulturellen Dialogs, insbesondere mit Europa. Denn die Demonstrationen in der ganzen Welt gegen den Irakkrieg machten uns deutlich, dass wir in einer Welt leben und es kulturell übergreifend gemeinsame Ziele zu verfolgen gibt. Unser gemeinsamer Hauptfeind ist nicht Ossama Bin Laden und die Fundamentalisten. Vielmehr müssen wir uns gemeinsam gegen eine übermächtige Weltmacht stellen, die versucht, sich eine Welt gemäß der Ansichten ihrer herrschenden Elite zu schaffen, und die Probleme auf eine ihre Art und Weise löst, wie wir es im Irak gesehen haben. Dazu bedürfen wir eines globalen intensiven interkulturellen Dialogs aller.

    Wir haben uns in den hinteren Teil des Raumes zurückgezogen. Mitte der 90er Jahre wurde von Islamisten ein Bombenanschlag auf das Cafe Risch verübt. Danach wurde es umgebaut. Heute ist es von außen nicht mehr so leicht einzusehen. Von unseren Plätzen kann man jedoch die Menschen an den Auslagen der Geschäfte vorbei flanieren sehen. Die Talat Harb Strasse ist die arabische Champs-Elysées der 16 Millionenmetropole am Nil. Salwa Bakr hat Betriebswirtschaft und Theaterkritik studiert und lebte als Film- und Literaturkritikerin in Zypern und im Libanon. Anfang der 90er Jahre kehrte sie in ihre Geburtsstadt Kairo zurück, wo sie begann, in ihrer Literatur die Situation der Frauen in Ägypten zu schildern. Bis heute umfasst ihr Werk vier Bände mit Erzählungen und drei Romane, die in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt sind.

    Zu uns stößt der Sozialanthropologe Assam Fauzy. Zum ersten Mal, sagt Fauzy, haben während der Demonstrationen der vergangenen Wochen verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppen in der Ablehnung des Irakkrieges zusammengefunden und mit einer Stimme gesprochen. Der Wissenschaftler, der im Auftrag amerikanischer Universitäten die Bedeutung des Volksislam in der ägyptischen Gesellschaft erforscht, sieht darin ein ermutigendes Zeichen. Endlich, sagt er mir voller Überzeugung, haben sich die Dinge grundlegend verändert.

    Der Krieg hat in Ägypten ein neues kritisches Bewusstsein in enorm kurzer Zeit erzeugt, aber auch darüber hinaus in vielen anderen arabischen Ländern. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum ersten Mal wurden die verschiedenen Interessen der westlichen Länder für viele Ägypter deutlich. Und damit auch, wie die neue Weltwirtschaftsordnung und die amerikanischen und britischen Demokratien funktionieren. Zum Beispiel, dass es möglich war, dass Großbritannien gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in diesen Krieg eintrat. Man hat in Ägypten aber auch entdeckt, dass die eigene Polizei und der Staat mit seinen vielfältigen Unterdrückungsmechanismen nicht absolut sind. Man steht Polizisten gegenüber, in deren Gesichtern man die Angst deutlich sehen kann. Inklusive der Erfahrung, dass solche absoluten Herrscher wie Saddam Hussein, zu Fall zu bringen sind. Gleichzeitig sahen viele Ägypter, dass der Widerstand gegen den Irakkrieg international war. Das bedeutet eine völlig neue Qualität der Wahrnehmung des Westens in Ägypten. Man fühlt sich den Kritikern im Westen plötzlich emotional sehr nahe. Verschwörungstheorien von dem "Bösen Westen" sind verschwunden. Das hat den Weg für einen neuen Internationalismus eröffnet.

    Die 55 jährige Salwa Bakr ist nicht ganz so optimistisch. Trotz aller Anzeichen eines neuen Selbstbewusstseins glaubt sie, das die Veränderung vor allem darin besteht, dass arabische Intellektuelle ihre Isolation durchbrochen haben. Doch Schriftsteller und Intellektuelle müssen den angestoßenen, kritischen Diskurs erweitern, insbesondere mit europäischen Schriftstellern und Intellektuellen. So wie während ihrer Reise zusammen mit Mahmoud Darwish, Adonis, Günter Grass und anderen arabischen und deutschen Schriftstellern in den Jemen. Diese hatte auch in Ägypten große Resonanz in den Medien gefunden. Man hörte zum ersten Mal wieder zu, wenn ägyptische Intellektuelle etwas sagten. Wichtiger ist Salwa Bakr jedoch die Erfahrung, dass der Austausch zwischen deutschen und arabischen Schriftstellern während der Reise zu einem tieferen Verständnis der besonderen Arbeitsbedingungen arabischer Kulturschaffender bei den Deutschen geführt hat.

    Zunächst einmal muss man sich klar machen, dass es in unserer Gesellschaft keine ausdifferenzierten, vielfältigen, multiplen Diskursstrukturen gibt. Sie existieren einfach nicht. Das ist wichtig zu wissen. Vor einigen Jahren existierte dies noch, auch wenn man die Nasser Zeit in Europa als Diktatur betrachtet. Damals existierte jedoch ein sozialer Diskurs, ein politischer Diskurs geführt aus liberaler, kommunistischer, islamistischer Perspektive heraus. Menschen konnten sich selbst ihre Meinung bilden. Dies existiert seit einigen Jahren nicht mehr. Es gibt nur noch den religiös-islamischen Diskurs, in verschiedenen Tonlagen mit verschiedenen Akteuren. In den Medien versucht jede Partei, egal ob Regierung oder Oppositionen, auf der Klaviatur der religiösen Sprache ihre Ziele zu formulieren, die natürlich unterschiedlicher nicht sein könnten. Für mich sind es jedoch nur die verschiedenen Gesichter einer Seite der Medaille. Dies wird insbesondere in Fragestellungen zu Frauenfragen deutlich. Sie werden ausschließlich im religiösen Vokabular diskutiert. Die Regierung, die Konservativen und die Muslimbrüder, wenn sie alle in dieser Art zum Problem der realen Unterdrückung der Frau reden, so können viele Frauen in Ägypten nur daraus ihre Position bestimmen. Es existiert kein Diskurs zum Beispiel aus einer sozialen oder ökonomischen Perspektive heraus. Deshalb beteiligen sich Frauen häufig nur aus der religiösen Perspektive heraus an diesen Diskussionen. Das ist das Problem.

    Für Salwa Bakr ist die Situation der ägyptischen Frauen Symbol für den Zustand der gesamten ägyptischen Gesellschaft. Doch im Gegensatz zu international bekannten ägyptischen Schriftstellerinnen Nawal As-Sadauwi und Alifa Rifaat steht bei der jüngeren Bakr die Lebenswirklichkeit ägyptischer Frauen im Zentrum ihres Schreibens. Ihr geht es weder um die Befreiung der Frau aus sozialistischer Perspektive, wie bei Sadauwi, noch darum, die Literatur als Vehikel gegen unislamische Praktiken, wie die Beschneidung der Frauen, zu benutzen, wie bei Alifa Rifaat. Protagonistinnen in Bakrs Literatur sind Migrantinnen, vom Land in die Stadt gekommen, abgeschnitten von ihrer sozialen Herkunft in den Großstädten und schutzlos einem männlich dominierten, kleinbürgerlich-moralistisch geprägten islamischen Religionsverständnis ausgeliefert. Durch das Gesetz benachteiligt, ökonomisch und sozial entrechtet, beschreibt Bakr wie sich die Frauen zur Wehr setzen. Diese Diskriminierung zu beseitigen ginge jedoch nicht mit westlichen Konzepten. Das ist das eigentlich Neue seit dem Irakkrieg, dass europäische Intellektuelle langsam begreifen lernen, der gegenwärtigen arabischen Literatur, Kultur und Gesellschaft nicht einfach eine im Westen erdachte Lösung übergestülpt werden könne.

    Dies ist eine Sicht, die ich als typisch europäisch definieren würde. Man sollte sich, bevor man zu einem solchen Urteil gelangt, zunächst einmal die Mühe machen, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Europa und der arabischen Welt klar zu stellen. Zwischen Europa und der arabischen Welt befindet sich, in unserer geographischen Wahrnehmung, inzwischen nur noch ein kleiner See. Das Mittelmeer ist schon längst in unsere Wahrnehmung dazu zusammengeschrumpft. Wir haben ein gemeinsames historisches Erbe, gemeinsame kulturelle und politische Wurzeln. Sprechen wir jedoch über die politische und soziale Wirklichkeit, über politische Regime, Korruption und fehlender Demokratie ergibt sich eine völlig andere Realität. In der arabischen Welt leiden wir unter diesen Krankheiten schon seit dem 19. Jahrhundert. Und obwohl sich unsere Welt verändert hat, weil die Menschen dies ändern wollten, haben wir diese Krankheiten nicht beseitigen können. Denn unsere Regime waren und sind immer noch durch den Westen gestützt. Jeder Schlag gegen einen Demonstranten, jede Korruption durch einen Minister, ist durch und mit Hilfe des Westens gestützt.

    Dennoch gibt sich die kritische ägyptische Intelligenz nicht der Illusion hin, dass die zu erwartende monatelange amerikanische Präsens im Irak zu einer schnellen Veränderung in Ägypten führen wird. Auch nicht, wenn in der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung eine Lösung gefunden wird. Das es gar zu einem politischen Umsturz kommen wird, wie viele Kommentatoren im Westen vermuten, glaubt in Ägypten niemand. Als Folge des Irakkrieges, sagen Salwa Bakr und Assam Fauzy, wird eher ein langsamer Erosionsprozess der Diktatur Platz greifen. Und vielleicht, fügt Salwa Bakr hinzu, können die Schriftsteller ihn, aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen der letzten Wochen, durch einen ernsthaften interkulturellen Dialog beschleunigen.