Christoph Reimann: Die Songs des Great American Songbook stammen von Komponisten wie Burt Bacharach, Arthur Hamilton, Jerome Kern und vielen anderen. Was hat Sie dazu veranlasst, mit Ihrer neuen Platte jetzt noch ein paar hinzuzufügen?
Howe Gelb: Einfach, weil es sonst keiner macht. Wissen Sie, ich komme vom Indie-Rock. Da muss man sich oft beim Musikmachen und Vertrieb um alles selber kümmern. Gelernt haben wir Indie-Rocker das in der Post-Punk-Ära, den späten 70ern. Das hat sich dann zu einem Lebensstil entwickelt, so haben wir ein Rockstar-Gewerbe betrieben. Mit der Zeit habe ich dann mal einen Fuß in die eine oder andere Tür gesetzt und mir so Einblicke in Räume verschafft, die uns Rockmusikern eigentlich verschlossen bleiben. Auf einer meiner Soloplatten habe ich zum Beispiel mit einem Gospelchor gearbeitet. Wir haben keine religiösen Lieder gesungen. Aber sind uns mit einer bestimmten Geisteshaltung begegnet, einem bestimmten Spirit. Und jeder Hörer, für den diese Musik eigentlich zu weit weg ist, aber meine Musik mag, kann sich da ein bisschen reinhören. Und wenn es ihm dann Lust auf mehr macht, gibt es mir das Gefühl, als Türöffner geholfen zu haben. Und ich hoffe, dass mir das jetzt auch mit den Piano-Standards gelingt.
Reimann: Haben Sie denn Lieblingskomponisten aus der damaligen Zeit? Hamilton, Bacharach, Cole Porter?
Gelb: Die Songtexte von Cole Porter sind irre.
Reimann: Warum?
Gelb: Diese Verspieltheit. Und wie er Worte verdreht. Ich liebe das. Ich wusste gar nicht, dass Wortspiele so wichtig bei ihm sind, bis ich mich mehr mit seiner Musik beschäftigt habe. Bei einem anderen Komponisten, Hoagy Carmichael, gefällt mir der freundliche Swing, der in seinen Stücken steckt. Carmichael war einfach cool. Und wenn Sie an die Filme denken, in denen er mitgespielt hat, verstehen Sie, warum er unter jungen Leuten sehr beliebt gewesen sein muss – man ließ ihn ja neben Humphrey Bogart auftreten. Standards werden aber nicht immer als Standards geschrieben. "My Funny Valentine" war kein Standard, bis Chet Baker den Song gesungen hat. Es geht also darum, wie man mit dem Material umgeht. Ich habe das mal mit ein paar alten Songs meiner Band Giant Sand gemacht, mich hingesetzt und sie umgearbeitet...
"Wir entwickelten unseren eigenen Sound"
Reimann: ...und heraus kamen Standards. Verstehe. Aber bei diesem Album haben Sie ja von Vornherein versucht, Standards zu komponieren. Ich denke mal, der Titel "Future Standards" ist zum Teil auch Ihrem Humor zu verdanken. Trotzdem geht es um eine bestimmte Art zu komponieren. Standards sollen zum Beispiel zeitlos sein. Wie sind Sie vorgegangen? Haben Sie zum Beispiel die Stücke anderer studiert? Wie lief das ab?
Gelb: Oh, ich studiere - beziehungsweise lerne - eigentlich nie irgendwas. Ich habe immer geglaubt, dass man, wenn man unbelastet an etwas herangeht, auf etwas Neues stößt. In meiner Heimat Tuscon, wo wir in den 70ern mit dem Musikmachen angefangen haben, gab es kein College Radio und nur einen kleinen Plattenladen, der immer nur wenige Exemplare neuer Platten verkauft hat. Wenn man in den Laden kam, war man also entweder zu spät oder das Album war schon für jemand anderen reserviert, und man musste sich die Platte im Laden anhören. Es gab also kaum Möglichkeiten, neue Entwicklungen mitzumachen. Und so entwickelten wir unseren eigenen Sound.
Reimann: Den Giant-Sand-Sound.
Gelb: Na ja, den Tuscon-Sound. Der war verzerrt, herb, zerrieben von der Hitze. Er trug viel Humor in sich, eine Sorglosigkeit und lebte von wenigen Melodien.
Reimann: In den Standards geht es doch aber im Grunde nur um die Melodie, oder?
Gelb: Tja, das ist meine Schwachstelle. Das ist das Einzige, das ich nicht liefern kann, und deshalb delegiere ich diese Verantwortung wann immer ich kann an Lonna Kelley. Sie ist eine großartige Sängerin. Jedenfalls habe ich das Material für diese Platte ohne großes Herumstudieren entwickelt, eben so, wie wir das damals in Tuscon gemacht haben.
Reimann: Sie haben ja schon vorher Jazz gespielt, aber nie klang Ihr Klavierspiel so präzise. Ich dachte deshalb schon, dass Sie vielleicht ein bisschen geübt haben.
Gelb: Nein, aber was ich getan habe: Ich habe das Klavier meiner verstorbenen Schwester in mein Schlafzimmer gestellt, gleich neben die Tür. Ich habe ja so ein paar Schwächen, zum Beispiel, dass ich immer zu spät bin. Ich glaube, zu diesem Interview kam ich zwei Stunden zu spät.
Reimann: Yes.
Gelb: Ich bin ein Mann mit eingebauter Verspätung. Die Gypsies von Andalusien werden das verstehen...
"Was nicht vor meiner Nase ist, blende ich aus"
Reimann: Was waren das denn für Schwächen, die Ihnen halfen, die Songs zu schreiben? Ich glaube, das wollten Sie sagen.
Gelb: Ja, sehen Sie, ich schweife ab. Jedenfalls: Immer, wenn ich irgendwo in meinem Haus hinwollte, musste ich an meinem Klavier vorbei. Und ich konnte einfach nicht vorbeigehen, ohne ein bisschen darauf herumzuklimpern. Und nach anderthalb Jahren hatte ich dann genug Songs für ein Album zusammen. Alles nur, weil ich clever genug war, mein Klavier an der richtigen Stelle zu platzieren. Denn eine meiner Schwächen ist, dass ich mich nur auf das konzentrieren kann, was direkt vor meiner Nase stattfindet. Alles andere blende ich aus. Es braucht viel Fokus für einen Mann, der eine Konzentrationsschwäche hat.
Reimann: In Berlin haben Sie in einem kleinen Jazzclub gespielt, der aber total voll war. Warum treten Sie in so kleinen Clubs auf, wenn Sie doch viel größere Hallen vollmachen und damit mehr Geld verdienen könnten?
Gelb: Oh, das hört sich fast toxisch an.
Reimann: Gift für die Musik oder...
Gelb: Gift fürs Leben. Die Leute messen Erfolg oft mit Geld. Wenn es um Musik geht, kann Geld ein netter Nebeneffekt sein. Aber der Kunst ist es meistens nicht zuträglich. Mir ist aufgefallen, dass meine besten Auftritte immer in kleineren Clubs waren. Und die neue Platte schreit ja geradezu nach einem traditionellen Jazzclub, also wegen der Intimität, und weil man da auch sehr leise Musik noch hören kann.
Reimann: In den 90ern wurde die Gruppe Calexico ziemlich bekannt, mit Musikern aus ihrer Band Giant Sand. Nur waren Sie eben nicht mit dabei. Hat Sie der Erfolg Ihrer Ex-Kollegen nie frustriert? Immerhin haben Sie fast zwei Jahrzehnte gebraucht, um überhaupt von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden!
Gelb: Stimmt. Aber, sehen Sie, das sind zwei verschiedene Arten zu denken. Ich hatte immer Glück oder war sehr gut darin, tolle Musiker in meine Band zu holen. Und so war es auch bei John Convertino, den ich in den 80ern traf, und bei Joey Burns, dem ich den 90ern begegnet bin. Die lebten beide in Kalifornien, und ich habe sie zurück nach Tuscon geholt. Es war toll zu sehen, wie sie da in meiner Heimat all die Dinge in sich aufgesaugt haben, die ich für so selbstverständlich hielt. Mir fiel dann auf, dass Joey einfach sehr ehrgeizig ist. Anders als ich – ich bin von Natur aus ein fauler Bastard.
Giant Sand als Sprungbrett
Reimann: Sie haben 30, 40 Alben veröffentlicht. Wie können Sie sich da als faul bezeichnen?
Gelb: Das ist sozusagen meine Lizenz zum Töten. Dich mit der Welt zu beschäftigen, ist das Beste, was du tun kannst. Und wenn du das auf eine künstlerische Art machen kannst, dann kannst du du selbst sein und alles machen, was du willst. Jedenfalls war Giant Sand für diese beiden jungen Typen damals eine Art Sprungbrett. Vor Giant Sand hatten sie noch nie selbst Songs geschrieben, und in der Band konnten sie mich dabei beobachten, wie ich die ganze Zeit nichts anderes tat, also das Rocker-Gewerbe, worüber wir schon am Anfang sprachen. Giant Sand haben dann ein musikalisches Menü zusammengestellt, das, glaube ich zumindest, sehr den Vorstellungen entspricht, die Europäer und besonders Deutsche vom amerikanischen Westen haben. Vorstellungen, die von Ennio Morricone geprägt sind, gemischt mit ein paar authentischen Mariachi-Einflüssen. Das haben sie dann Nacht für Nacht nach dem immer gleichen Muster aufgeführt. Ohne dass es je, wie bei mir, chaotisch zuging oder besonders lustig wurde. Und das war gut für sie, hat auch bei ihnen funktioniert. Aber ich würde das nicht jede Nacht machen wollen, und so hat es mich mehr und mehr abgetörnt. Ich mag das manchmal, aber nicht auf die Dauer.
Reimann: Anfang des Jahres haben Sie die Auflösung von Giant Sand bekannt gegeben. Warum denn? Und gibt es vielleicht doch eine Chance auf Wiedervereinigung?
Gelb: Die gemeinsamen Konzerte in den vergangenen beiden Jahren waren die besten, die wir je hatten. Immer, wenn eine Tour vorbei war, dachten wir, dass es noch ein paar Monate so weitergehen könnten. Es gab nie irgendein Problem zwischen den Bandmitgliedern. Aber wir unterscheiden uns sehr, was das Alter angeht. Der eine ist zum Beispiel erst 28. Alles, was ich jetzt sagen kann, ist, dass für mich jetzt das Klavier dran ist. Und wenn wir jemals wieder ein Giant-Sand-Album aufnehmen sollten, wird das eine Greatest-Hits-Platte, auf dem ausschließlich neue Songs sein werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.