Huber: Niemand hat irgendeine Verfügungsgewalt darüber, was Worte bewirken. In der Tat hat die Kirche nur die Macht des Wortes, nicht irgendwelche anderen Mittel, das durchzusetzen, was sie verkündigt. Aber meine Beobachtung im Jahr 2004 war diejenige, dass die Botschaft der Kirche, der Rat der Kirche, die Nähe zu den Menschen dringender gebraucht wird als je. Das ist die Grunderfahrung, von der ich ausgehe.
Damit verändert man nicht von einem Tag auf den anderen die Verhältnisse, aber man ermutigt Menschen darin, das Ihre dazu beizutragen, dass wir uns mit Friedlosigkeit und Ungerechtigkeit nicht abfinden. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Sensibilität dafür zurückginge, auch in unserer Gesellschaft nicht, sondern ich habe das Gefühl, dass die Sensibilität wächst, dass wir wacherere Augen haben auch für diejenigen, die auf der Schattenseite der gegenwärtigen Entwicklung stehen.
Birke: Nun haben wir auch eine zunehmend wachsende Zahl von Menschen, die im eigenen Land auf der Schattenseite stehen. Gerade mit der Umsetzung der Arbeitsmarktreform Hartz IV wird die soziale Not ja zunehmen. Fehlt uns da der Blick auch für die Not in anderen Ländern, wenn man an Darfur, an den Sudan denkt, wo täglich zigtausend Menschen womöglich sterben?
Huber: Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen, aber man muss auch ganz klar sagen, Hartz IV als solches erhöht nicht die soziale Not. Es gibt eine Zahl von Menschen, denen geht es durch Hartz IV schlechter, als es ihnen vorher gegangen ist. Es gibt eine andere Zahl von Menschen, denen geht durch Hartz IV besser, als es ihnen vorher gegangen ist. Möglicherweise haben diejenigen sogar Recht, die sagen, es handelt sich in beiden Fällen um eine vergleichbar große Zahl von Menschen.
Ich habe ganz viel Verständnis und auch Einfühlungsvermögen für Menschen, die sich durch den Übergang zum Arbeitslosengeld II von einem sozialen Abstieg bedroht fühlen. Aber man muss dazu sagen: Menschen, die überhaupt imstande sind, den Fragebogen für das Arbeitslosengeld II auszufüllen und ihre Rechte dann auch in Anspruch zu nehmen, die daraus erwachsen, das sind schon Menschen, die nicht in dem Bereich der absoluten Armut leben.
Deswegen beunruhigt mich etwas anderes mindestens so sehr, und das ist die große Zahl, die wachsende Zahl von Menschen, die keine Sozialhilfe bekommen, die kein Arbeitslosengeld II bekommen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage sind, sich nicht in der Lage fühlen, von solchen Möglichkeiten überhaupt Gebrauch zu machen. Und das ist eine wachsende Zahl von Menschen, die wirklich in absoluter Armut leben, die unter Umständen nach einer langen Biographie, die Erwerbstätigkeit und dergleichen eingeschlossen hat, jetzt auf der Straße liegen – im wahrsten Sinne des Wortes –, für die wir in vielen, vielen Städten Deutschlands Suppenküchen und andere Einrichtungen vorsehen müssen.
"Mit Laib und Seele" – Laib mit "ai" geschrieben – ist eine große Aktion, die wir jetzt gerade zu Weihnachten hier auch in Berlin angefangen haben, zusammen mit der Katholischen Kirche, unterstützt vom RBB. Eine wichtige Aktion, wie ich finde. Sie weist hin darauf, dass wir viel mehr auch auf die Menschen achten müssen, die heute durch das Netz der sozialen Sicherung durchfallen. Und ich kann mir Weihnachten überhaupt nicht vorstellen, ohne eine Aufmerksamkeit für diese Menschen.
Und das darf man nicht ausspielen gegen das andere, das genau so wichtig ist: Brot für die Welt ist für mich das Signalwort für Weihnachten jedes Jahr wieder. Der Sudan, den haben wir ganz bewusst ins Zentrum gerückt, weil da in millionenfacher Weise eine menschliche Tragödie sich abspielt. Und wir dürfen es nicht zulassen, dass wir dann hinterher wieder sagen, wir hätten das zu spät gemacht.
Birke: Die Bereitschaft zum Teilen, Bischof Huber, bedeutet ja auch die Solidarität im eigenen Land. Nun weist der Armutsbericht der Bundesregierung doch eine steigende Zahl von Menschen aus, die von Armut bedroht sind. 1998 waren es noch 12,9 Prozent, mittlerweile sind es nach neuesten Berichten über 15 Prozent, und insbesondere ein Viertel aller ausländischen Mitbürger oder der Migranten in der Bundesrepublik sind akut von Armut bedroht. Wie soll man diesem Phänomen begegnen?
Huber: Die einzige Hilfe an dieser Stelle ist bessere Ausbildung, eine bessere Befähigung dazu, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Bei den Migrantenfamilien ist besonders beunruhigend, dass der schlechte Ausbildungsstand, mit dem sie kommen, sich unter Umständen in die nächste Generation vererbt. Dass Armut erblich ist, ist ein Problem unseres Ausbildungs- und Schulsystems insgesamt, das muss man sowohl im Blick auf Familien mit Migrationshintergrund sehen als auch im Blick auf andere sozial schwache Gruppen in unserer Gesellschaft. Das ist für mich das A und O, besser dazu befähigen, für das eigene Leben sorgen zu können.
Birke: Das Phänomen, dass ja insbesondere auch Migranten betroffen sind von der Armut, führt ja zu dem etwas breiter angelegten Themenkomplex Integration. Integration ist in aller Munde, spätestens seit der Ermordung des holländischen Filmemachers van Gogh vermehrt. Seit drei Jahren, seit dem Terroranschlag auf Türme des World Trade Centers, wird ja davon gesprochen, dass wir auf die andere Kultur, auf den Islam, zugehen müssen. Was haben Sie als EKD-Ratsvorsitzender erreicht in der Suche nach einem Dialog mit dem Islam hier in Deutschland?
Huber: Die Diskussion ist neu aufgebrochen. Es ist dabei auch klarer geworden, dass Dialog einschließen muss die Beschäftigung auch mit den kritischen Fragen. Dialog kann kein Kuscheldialog sein, bestimmte Formen der Naivität in diesem Dialog können nicht einfach fortgesetzt werden. Das haben wir, glaube ich, in diesem Jahr 2004 deutlich gemacht und sogleich erkennbar gemacht, dass es zur Verständigung, zum Verstehen, zur Bereitschaft, den anderen in seiner eigenen Prägung wahrzunehmen keine Alternative gibt.
Ich habe mir vorgenommen, das im Jahr 2005 zu verstärken. Ich habe die Spitzen unterschiedlicher islamischer Verbände eingeladen zu einem Gespräch, zu dem die Initiative von mir ausgegangen ist. Ein Teil dieser Verbände hat darauf auch gleich positiv reagiert. DITIP gehört zu denjenigen, die positiv reagiert haben, andere auch. Erstaunlich war, dass es muslimische Verbände gibt, die zwar öffentlich den Dialog einfordern, die sich öffentlich darüber beklagen, dass die Kirchen nicht dialogbereit wären, gleichzeitig aber einen Einladungsbrief von mir auf den Tisch haben, diesen Brief nicht einmal beantworten und trotzdem das öffentlich sagen.
Das heißt, wir sind noch in einer Phase, in der nicht in jedem Fall die tatsächliche Dialogbereitschaft mit der Dialogforderung zur Deckung kommt. Und das müssen wir ändern.
Birke: Bischof Huber, würden Sie sich eine Dachorganisation auf Seiten der Muslime in Deutschland wünschen – eine, die wirklich so funktioniert, dass möglichst die breite Masse der Muslime mit einbezogen wird?
Huber: Ich bin da insofern zurückhaltend, als ich nicht den Muslimen vorschreiben will, wie sie sich zu organisieren haben. Aber ich bin natürlich beeindruckt davon, dass in der Schweiz beispielsweise ein Koordinierungsrat der islamischen Organisationen in der Schweiz existiert und man da auch einen klaren Ansprechpartner hat. Da kann dann auch so etwas wie ein Rat der Religionen zustande kommen, weil dann der Vorsitzende des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden und der Vorsitzende eines solchen Koordinierungsrates in klarer Weise aufeinander – sozusagen – bezogen sein können und miteinander so etwas in Gang bringen können.
Wir haben das andere Beispiel in Österreich, wo eine solche Dachorganisation sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hat. Wir sehen also aus dem deutschsprachigen Bereich, dass ein solcher Weg nicht ausgeschlossen ist, und ich würde mir sehr wünschen, dass er auch in Deutschland beschritten wird. Aber die islamischen Organisationen, die müssen das selber tun. Wir können das nicht stellvertretend für sie tun. Wir können auch nicht von der Politik erwarten, dass sie – und das würde ja heißen, unter Umgehung des Selbstorganisationsrechts der Religionen – das für die muslimischen Organisationen tun. Sie müssen das selber tun.
Es wäre aber ein wichtiger Beitrag von deren Seite, den Prozess der Integration voranzubringen. Und alles, was ich auch sonst im Laufe dieses Jahres in dieser Richtung vorgeschlagen habe, sind ja eigentlich nur Vorschläge dazu, dass die Muslime und ihre Organisationen in Deutschland ihren eigenen Beitrag zur Integration leisten können. Und das ist genau so wichtig, wie das andere wichtig ist: Dass wir auch als christliche Kirchen unsere Beiträge dazu leisten, dass Integration vorankommt.
Birke: Sollte man das insgesamt bündeln – den Dialog der Religionen in Deutschland, dass man auch Paul Spiegel beispielsweise oder andere jüdische Vertreter, dass man Kardinal Lehmann als den obersten Hirten der Katholischen Kirche mit an den Tisch bittet?
Huber: Das ist sicher ein wichtiger Schritt, aber es hat auch einen guten Sinn, das bilateral zu versuchen und zu sehen, wie weit man kommt, und dann aus diesen Erfahrungen wieder zu lernen für einen nächsten Schritt.
Birke: Was – konkret – würden Sie oder werden Sie den Vertretern des Islam vorschlagen, wo man ansetzen sollte in der Praxis?
Huber: Es gibt ein paar ganz konkrete Punkte, in denen wir weiterkommen müssen. Wir sind immer eingetreten für einen islamischen Religionsunterricht in Deutschland, für einen geordneten ...
Birke: ... auf deutsch? ...
Huber: ... auf deutsch, nach den Maßstäben, die auch für andere Unterrichtsfächer gelten, also auf demselben pädagogischen Niveau, in einer Grundgesetz verträglichen Form, das versteht sich von selbst ...
Birke: ... wobei die Lehrerinnen dann auch Kopftuch tragen könnten? ...
Huber: ... wobei die Lehrerinnen im islamischen Religionsunterricht selbstverständlich Kopftuch tragen könnten, ja, genau so wie Religionslehrer im christlichen Religionsunterricht – im katholischen spielt das eine größere Rolle – selbstverständlich als Priester erkennbar, Religionsunterricht halten können.
Birke: Wir sind bei der Sprache der Religion. Würden Sie auch dafür eintreten, dass Imame in den Moscheen auf Deutsch predigen müssen?
Huber: Dieser Vorschlag ist ja inzwischen sogar von Vertretern des Zentralrats der Muslime und des Islamrates aufgenommen worden. Man muss zweierlei zugleich bedenken, und beides hat sein Recht. Das eine ist: Menschen zählen und beten in ihrer Muttersprache. Interessant beides, und deswegen setzen wir uns ja als Evangelische Kirche sehr dafür ein, dass es deutschsprachige evangelische Gottesdienste in anderen Ländern geben kann für diejenigen Christen deutscher Herkunft, die in anderen Ländern leben. Also, das hat sein gutes Recht.
Das andere aber genau so, wenn Muslime in der zweiten, in der dritten Generation in Deutschland leben, wenn sie mit unterschiedlichen Herkunftssprachen zusammenleben, zusammen Gottesdienst feiern, dann ist auch für sie Deutsch in Wahrheit die "Lingua franca", die Sprache, in der sie sich verständigen.
Jetzt kommt es ja allmählich heraus, dass es schon viele Moscheen gibt, in denen die Predigt entweder auf Deutsch gehalten oder übersetzt wird. Das halte ich für eine gute Maßnahme der Integration und übrigens auch eine Maßnahme der Vertrauensbildung. Ich habe mich dafür ausgesprochen, das, wo immer es geht, zu erweitern ...
Birke: ... aber nicht per Gesetz ...
Huber: ... es ist vollkommen ausgeschlossen, das per Gesetz zu machen. Das wäre ein Eingriff in die Religionsfreiheit, gesetzlich vorzuschreiben, in welcher Sprache gepredigt werden soll. Das konnte man gleich sehen, nachdem Frau Schawan diesen Vorschlag gemacht hat. Deswegen ist dieser Vorschlag, soweit ich sehen kann, auch von niemandem aufgegriffen worden. Aber das dahinterstehende Anliegen in der Form, in der ich es dann selber aufgegriffen habe, das ist vollkommen legitim. Und mein Wunsch ist, dass das im neuen Jahr im größeren Maße praktiziert wird und dass man das auch auswertet, welche Erfahrungen man damit macht.
Birke: Bischof Huber, Sie haben sich ja sehr dezidiert auch für ein Kopftuchverbot in öffentlichen Plätzen ausgesprochen seinerzeit, Sie haben ...
Huber: ... nicht in öffentlichen Plätzen ...
Birke: ... in Schulen ...
Huber: ... sondern nur von Menschen, die im öffentlichen Dienst diesen Staat vertreten und dabei in einem hohen Maß mit Adressaten der Staatsgewalt zu tun bekommen. Die sind nach meiner festen Überzeugung an sich von sich aus dazu verpflichtet, sich Zurückhaltung aufzuerlegen in weltanschaulichen und religiösen Bekenntnissen, so dass es, wenn man es ernst nimmt, eines Kopftuchverbots nicht bedarf, weil die eigentlich von sich aus dazu verpflichtet sind. Wenn sie gegen die Verpflichtung verstoßen und das unverträglich ist mit ihrem staatlichen Auftrag, den sie haben, muss der Staat die Möglichkeit haben, im konkreten Fall das Verbot durchzusetzen.
Und das Missliche ist, dass statt einer solchen auf den Einzelfall bezogenen Regelung, die nach meiner festen Überzeugung zureichen würde, durch einen Gang durch alle gerichtlichen Instanzen nun das Bundesverfassungsgericht sich genötigt gesehen hat, den Gesetzgeber dazu aufzufordern, tätig zu werden.
Das ist der Hergang gewesen, den man sich immer wieder klarmachen muss. Der hat dazu geführt, dass die vernünftige und maßvolle Art und Weise, mit dem Thema umzugehen, so ins Schlingern geraten ist. Das war das Resultat eines Marsches durch alle gerichtlichen Instanzen, der uns dieses Unglück beschert hat. Und jetzt muss man mit dem Unglück wieder möglichst sinnvoll umgehen, muss maßvolle gesetzliche Regelungen in Gang bringen.
Birke: Nur – mit Ihrer Haltung könnten ja jetzt die Muslime auch argumentieren, dass sie eben das Kopftuch nicht in dem Sinne als religiöses Symbol sehen. Glauben Sie, dass das dem Dialog förderlich ist?
Huber: Ich habe gerade erklärt, warum ich das nicht für unbedingt dialogförderlich halte. Aber man muss auch ganz klar machen, der besondere Schutz des Kopftuchs als eines religiösen Symbols, der führt sowieso in die Irre. Ein Kopftuch ist kein religiöses Symbol, ein Kopftuch ist ein Kleidungsstück. Und wenn Muslime sich darauf berufen, dass sie aus einer religiösen Verpflichtung heraus dieses Kleidungsstück tragen, dann wird es dadurch nicht selber zum religiösen Symbol. Es handelt sich um eine religiös bestimmte Handlung, die mit vieldeutigen Botschaften sich verbünden kann, und das genau schafft das Problem. Und deswegen die Aufforderung zur Zurückhaltung.
Und ich würde es noch heute begrüßen, wenn es gelingen würde, diese Diskussion niedriger zu hängen – sage ich mal – durch einen Beitrag auch der Muslime und Musliminnen selber, bei denen ja auch gilt, dass bei der Mehrheit der deutschen Muslime Kopftuchpflicht überhaupt kein positives Echo findet. Dessen muss man sich bewusst sein.
Birke: Auch in der Türkei, einem 99 Prozent muslimischen Land, ist ja das Kopftuch entsprechend in der Trennung von Kirche und Staat verboten oder nicht legitim. Sie haben sich sehr dezidiert geäußert und eine Volksabstimmung zu einem EU-Beitritt der Türkei verlangt. Weshalb?
Huber: Ich bin davon überzeugt, dass die Verhandlungen über einen eventuellen Beitritt der Türkei zur EU sehr grundsätzliche Fragen aufwerfen, die es nicht nur mit der Situation in der Türkei zu tun haben, was jetzt immer so im Vordergrund diskutiert wird, sondern gleichzeitig mit dem Charakter der Europäischen Union. Und ich wundere mich darüber, dass in dem Jahr, in dem wir die Verabschiedung der Europäischen Verfassung erlebt haben, also eines Dokuments, das darauf gezielt ist, die Gemeinschaft in der EU zu vertiefen, ihr auch einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, dass wir gleichzeitig eine Diskussion über den Beitritt der Türkei haben, bei der nur ganz wenig über die Frage geredet wird, welche Auswirkungen das für den Charakter der Europäischen Union haben wird.
Es gibt wichtige Stimmen, Ernst Wolfgang Böckenförde ist ein Beispiel dafür, der frühere Bundesverfassungsrichter, die sagen, ein Beitritt der Türkei wäre überhaupt nur zu machen, wenn die Europäische Union sich zurückentwickelt zu einer bloßen Wirtschaftsunion, einer Art Freihandelszone. Denn als politische Union – im wahrsten Sinne des Wortes, als kulturelle Gemeinschaft – wird die Europäische Union durch einen Türkeibeitritt in einem Maß überdehnt und überstrapaziert, dass dieser Charakter überhaupt nicht aufrecht zu erhalten ist.
Ich möchte gerne, dass diese grundsätzliche Debatte wirklich geführt wird, dass wir ihr nicht ausweichen, und dass es eine wirklich öffentliche Debatte wird. Und dafür ist der Gedanke der Volksabstimmung ein wichtiger und in meinen Augen ein richtiger Gedanke.
Ich weiß, dass das noch immer in Deutschland nicht leicht umzusetzen ist, weil wir das Instrument auf der Bundesebene gar nicht haben. Es gibt aber immer wieder auch Anläufe, zu sagen, das bräuchten wir. Und vielleicht ist dieses Beispiel dafür geeignet, auch die Debatte über Volksabstimmungen generell voranzubringen.
Birke: Bischof Huber, nun werden Politiker für ihre Visionen gewählt, und wenn wir eine Volksabstimmung zum Beispiel zum Euro gehabt hätten, bin ich mir sicher, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dagegen gestimmt hätte. Ist es denn nicht richtig, dass manchmal die Politik dem Volk einen Schritt vorauseilen muss und nicht unbedingt eine solche visionäre Frage auch dann zur Abstimmung dem Volk stellen muss?
Huber: Ich habe auch nicht gesagt, dass jede politische Vision in dem Augenblick, in dem sie entwickelt wird, zur Abstimmung gestellt werden muss. Aber bei wichtigen weichenstellenden Entscheidungen haben Politiker dann auch die Pflicht, diese Vision so plausibel zu machen, dass sie damit auch die Menschen gewinnen können. Und diese Anstrengung will ich der Politik eigentlich nicht ersparen.
Ich spreche mich nicht dafür aus, dass es weniger Visionen in der Politik geben soll. Im Gegenteil, ich finde, dass wir aufs Ganze gesehen, daran ein bisschen einen Mangel haben. Aber ich sage, im Fall des Türkeibeitritts hat bisher nach meiner Kenntnis niemand die Vision wirklich formuliert, nämlich die Vision, wie das Europa aussehen soll, welche Gestalt es haben soll, welche geistige Grundlage es haben soll – das Europa, in dem die Türkei der einwohnerstärkste Staat sein wird. Und das wird nämlich in 15 Jahren der Fall sein. Wenn wir mal einen Augenblick uns ausdenken – das wäre das Datum, zu dem die Türkei Mitglied würde, wäre die Türkei dasjenige Land mit der größten Einwohnerzahl in Europa überhaupt.
Das ist keine Kritik an der Türkei, sondern es ist die Frage: Bitte schildere mir das Europa, das Du dann haben willst. Schildere mir den kulturellen, den geistigen Charakter, das Funktionieren der politischen Mechanismen, die Art von Parlament, in der die Mehrheitsfraktion dann mutmaßlich von 90 oder wievielen Türken aus Erdogans Partei sehr maßgeblich geprägt sein wird.
Eines ist mir klar: Wer immer sich mit dieser Perspektive auseinander setzt, wird vor allem Grund haben, das Christliche in Europa stärken zu müssen, denn ein Europa, dass auf die Frage nach seinen eigenen religiösen kulturellen Grundlagen nur mit dem Wort "Säkularisierung" antworten kann, ein solches Europa wird der Türkei ganz bestimmt nicht gewachsen sein.
Birke: Bischof Huber, lassen Sie uns noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen: Ökumene. Sie waren unlängst beim Papst im Vatikan. Mit welchen Gefühlen beurteilen Sie die Entwicklungsmöglichkeiten, die beiden großen Kirchen des Christentums enger aneinander zu binden?
Huber: Erstens gehört zu den wichtigen Lehren, die man aus der gegenwärtigen Situation ziehen muss, dass man die Christenheit nicht nur in den beiden Seiten der Römisch-Katholischen Kirche und der Evangelischen Kirchen in den Blick nimmt. Es gibt die große Gruppe der Orthodoxen Kirche, die man viel wichtiger nehmen muss, auch aus einer deutschen Perspektive. Viele dieser Orthodoxen Kirchen sind auch mit eigenen Gemeinden, eigenen Diözesen in Deutschland vertreten. Es gibt die besondere angelikanische Kirchengemeinschaft, zu der wir als Evangelische Kirche auch eine besondere Beziehung haben. Wir haben Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit ihr in einem gewissen Umfang verwirklicht. Man sieht also, dass das gehen kann.
Wir haben die wachsende Bedeutung künstlerischer und charismatischer Bewegungen innerhalb des Christentums. Nur wenn man das alles sieht, redet man von christlicher Ökumene zu Recht. Aber ich gebe zu, innerhalb dieses Spektrums spielt die Beziehung zwischen Römisch-Katholischer und Evangelischer Kirche eine besondere Rolle. Das gilt gerade auch für Deutschland mit den ungefähr gleich großen evangelischen und katholischen Kirchen.
Birke: Kann es unter diesem Papst eine Annäherung geben?
Huber: Das ist gar nicht mal nur vom jetzigen Papst abhängig, von dem man ja beides sagen muss: Er hat einen ökumenisch geprägten Pontifikat über mehr als ein Viertel Jahrhundert gestaltet, und er hat innerhalb dieser ökumenischen Ausrichtung das eigene Profil der Römisch-Katholischen Kirche geschärft. Und er hat das offenbar aus der Überzeugung heraus getan, dass beides sich nicht ausschließt. Ich sage als evangelischer Bischof, das stimmt – eigenes Profil und ökumenische Offenheit schließen sich nicht aus, sondern bedienen sich wechselseitig.
Wir sind ja nicht auf dem Weg zu einer Einheitsökumene, das heißt, ökumenische Fortschritte sind nicht ausschließlich daran zu messen, ob es eine engere organisatorische Verflechtung zwischen den Kirchen gibt. Sie sind insbesondere auch nicht daran zu messen, dass die Unterschiede zwischen den Kirchen immer weiter verschwinden. Sie zeigen sich auch darin, dass wir die Leuchtkraft des Evangeliums dadurch stärken, dass wir unsere eigenen Traditionen in Anspruch nehmen und fruchtbar machen dafür, dass das Evangelium im 21. Jahrhundert gehört werden kann.
Birke: Sie würden sich aber ein gemeinsames Abendmahl wünschen?
Huber: Ja, aber das gemeinsame Abendmahl ist aber nicht ein Ausdruck für das Verschwinden der Differenzen, sondern für eine Kultur der Anerkennung in der Verschiedenheit. Und was mich an der jetzigen Situation schmerzt, ist, dass hinter dem Abendmahlsproblem eine Differenz besteht, in der wir das katholische Amt anerkennen in seiner Bedeutung für die katholische Kirche, und die Katholische Kirche das evangelische kirchliche Amt nicht anerkennt. Und diese Differenz finde ich sehr mühsam und sehr beschwerlich.
Und ich glaube, da müssen wir Fortschritte machen, aber nicht dergestalt, dass das evangelische kirchliche Amt kein evangelisches Amt mehr ist, sondern dahin, dass wir werben um eine Kultur des Respekts, der Anerkennung, der Achtung davor, dass der evangelische Typ von Kirche ein eigenständiger Kirchentypus ist.
Und die Folgerungen sind ja deutlich: Als Evangelische Kirche fühlen wir uns verpflichtet zu eucharistischer Gastbereitschaft, zur Offenheit unseres Abendmahls für die getauften Christen aus anderen Kirche, die nach den Regeln ihrer eigenen Kirche zum Abendmahl zugelassen sind. Und wir hoffen darauf, dass auch in dieser Hinsicht durch einen solchen ökumenischen Weg, wie ich ihn jetzt beschrieben habe, Wechselseitigkeit erreicht werden kann.
Birke: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Damit verändert man nicht von einem Tag auf den anderen die Verhältnisse, aber man ermutigt Menschen darin, das Ihre dazu beizutragen, dass wir uns mit Friedlosigkeit und Ungerechtigkeit nicht abfinden. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Sensibilität dafür zurückginge, auch in unserer Gesellschaft nicht, sondern ich habe das Gefühl, dass die Sensibilität wächst, dass wir wacherere Augen haben auch für diejenigen, die auf der Schattenseite der gegenwärtigen Entwicklung stehen.
Birke: Nun haben wir auch eine zunehmend wachsende Zahl von Menschen, die im eigenen Land auf der Schattenseite stehen. Gerade mit der Umsetzung der Arbeitsmarktreform Hartz IV wird die soziale Not ja zunehmen. Fehlt uns da der Blick auch für die Not in anderen Ländern, wenn man an Darfur, an den Sudan denkt, wo täglich zigtausend Menschen womöglich sterben?
Huber: Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen, aber man muss auch ganz klar sagen, Hartz IV als solches erhöht nicht die soziale Not. Es gibt eine Zahl von Menschen, denen geht es durch Hartz IV schlechter, als es ihnen vorher gegangen ist. Es gibt eine andere Zahl von Menschen, denen geht durch Hartz IV besser, als es ihnen vorher gegangen ist. Möglicherweise haben diejenigen sogar Recht, die sagen, es handelt sich in beiden Fällen um eine vergleichbar große Zahl von Menschen.
Ich habe ganz viel Verständnis und auch Einfühlungsvermögen für Menschen, die sich durch den Übergang zum Arbeitslosengeld II von einem sozialen Abstieg bedroht fühlen. Aber man muss dazu sagen: Menschen, die überhaupt imstande sind, den Fragebogen für das Arbeitslosengeld II auszufüllen und ihre Rechte dann auch in Anspruch zu nehmen, die daraus erwachsen, das sind schon Menschen, die nicht in dem Bereich der absoluten Armut leben.
Deswegen beunruhigt mich etwas anderes mindestens so sehr, und das ist die große Zahl, die wachsende Zahl von Menschen, die keine Sozialhilfe bekommen, die kein Arbeitslosengeld II bekommen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage sind, sich nicht in der Lage fühlen, von solchen Möglichkeiten überhaupt Gebrauch zu machen. Und das ist eine wachsende Zahl von Menschen, die wirklich in absoluter Armut leben, die unter Umständen nach einer langen Biographie, die Erwerbstätigkeit und dergleichen eingeschlossen hat, jetzt auf der Straße liegen – im wahrsten Sinne des Wortes –, für die wir in vielen, vielen Städten Deutschlands Suppenküchen und andere Einrichtungen vorsehen müssen.
"Mit Laib und Seele" – Laib mit "ai" geschrieben – ist eine große Aktion, die wir jetzt gerade zu Weihnachten hier auch in Berlin angefangen haben, zusammen mit der Katholischen Kirche, unterstützt vom RBB. Eine wichtige Aktion, wie ich finde. Sie weist hin darauf, dass wir viel mehr auch auf die Menschen achten müssen, die heute durch das Netz der sozialen Sicherung durchfallen. Und ich kann mir Weihnachten überhaupt nicht vorstellen, ohne eine Aufmerksamkeit für diese Menschen.
Und das darf man nicht ausspielen gegen das andere, das genau so wichtig ist: Brot für die Welt ist für mich das Signalwort für Weihnachten jedes Jahr wieder. Der Sudan, den haben wir ganz bewusst ins Zentrum gerückt, weil da in millionenfacher Weise eine menschliche Tragödie sich abspielt. Und wir dürfen es nicht zulassen, dass wir dann hinterher wieder sagen, wir hätten das zu spät gemacht.
Birke: Die Bereitschaft zum Teilen, Bischof Huber, bedeutet ja auch die Solidarität im eigenen Land. Nun weist der Armutsbericht der Bundesregierung doch eine steigende Zahl von Menschen aus, die von Armut bedroht sind. 1998 waren es noch 12,9 Prozent, mittlerweile sind es nach neuesten Berichten über 15 Prozent, und insbesondere ein Viertel aller ausländischen Mitbürger oder der Migranten in der Bundesrepublik sind akut von Armut bedroht. Wie soll man diesem Phänomen begegnen?
Huber: Die einzige Hilfe an dieser Stelle ist bessere Ausbildung, eine bessere Befähigung dazu, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Bei den Migrantenfamilien ist besonders beunruhigend, dass der schlechte Ausbildungsstand, mit dem sie kommen, sich unter Umständen in die nächste Generation vererbt. Dass Armut erblich ist, ist ein Problem unseres Ausbildungs- und Schulsystems insgesamt, das muss man sowohl im Blick auf Familien mit Migrationshintergrund sehen als auch im Blick auf andere sozial schwache Gruppen in unserer Gesellschaft. Das ist für mich das A und O, besser dazu befähigen, für das eigene Leben sorgen zu können.
Birke: Das Phänomen, dass ja insbesondere auch Migranten betroffen sind von der Armut, führt ja zu dem etwas breiter angelegten Themenkomplex Integration. Integration ist in aller Munde, spätestens seit der Ermordung des holländischen Filmemachers van Gogh vermehrt. Seit drei Jahren, seit dem Terroranschlag auf Türme des World Trade Centers, wird ja davon gesprochen, dass wir auf die andere Kultur, auf den Islam, zugehen müssen. Was haben Sie als EKD-Ratsvorsitzender erreicht in der Suche nach einem Dialog mit dem Islam hier in Deutschland?
Huber: Die Diskussion ist neu aufgebrochen. Es ist dabei auch klarer geworden, dass Dialog einschließen muss die Beschäftigung auch mit den kritischen Fragen. Dialog kann kein Kuscheldialog sein, bestimmte Formen der Naivität in diesem Dialog können nicht einfach fortgesetzt werden. Das haben wir, glaube ich, in diesem Jahr 2004 deutlich gemacht und sogleich erkennbar gemacht, dass es zur Verständigung, zum Verstehen, zur Bereitschaft, den anderen in seiner eigenen Prägung wahrzunehmen keine Alternative gibt.
Ich habe mir vorgenommen, das im Jahr 2005 zu verstärken. Ich habe die Spitzen unterschiedlicher islamischer Verbände eingeladen zu einem Gespräch, zu dem die Initiative von mir ausgegangen ist. Ein Teil dieser Verbände hat darauf auch gleich positiv reagiert. DITIP gehört zu denjenigen, die positiv reagiert haben, andere auch. Erstaunlich war, dass es muslimische Verbände gibt, die zwar öffentlich den Dialog einfordern, die sich öffentlich darüber beklagen, dass die Kirchen nicht dialogbereit wären, gleichzeitig aber einen Einladungsbrief von mir auf den Tisch haben, diesen Brief nicht einmal beantworten und trotzdem das öffentlich sagen.
Das heißt, wir sind noch in einer Phase, in der nicht in jedem Fall die tatsächliche Dialogbereitschaft mit der Dialogforderung zur Deckung kommt. Und das müssen wir ändern.
Birke: Bischof Huber, würden Sie sich eine Dachorganisation auf Seiten der Muslime in Deutschland wünschen – eine, die wirklich so funktioniert, dass möglichst die breite Masse der Muslime mit einbezogen wird?
Huber: Ich bin da insofern zurückhaltend, als ich nicht den Muslimen vorschreiben will, wie sie sich zu organisieren haben. Aber ich bin natürlich beeindruckt davon, dass in der Schweiz beispielsweise ein Koordinierungsrat der islamischen Organisationen in der Schweiz existiert und man da auch einen klaren Ansprechpartner hat. Da kann dann auch so etwas wie ein Rat der Religionen zustande kommen, weil dann der Vorsitzende des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden und der Vorsitzende eines solchen Koordinierungsrates in klarer Weise aufeinander – sozusagen – bezogen sein können und miteinander so etwas in Gang bringen können.
Wir haben das andere Beispiel in Österreich, wo eine solche Dachorganisation sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hat. Wir sehen also aus dem deutschsprachigen Bereich, dass ein solcher Weg nicht ausgeschlossen ist, und ich würde mir sehr wünschen, dass er auch in Deutschland beschritten wird. Aber die islamischen Organisationen, die müssen das selber tun. Wir können das nicht stellvertretend für sie tun. Wir können auch nicht von der Politik erwarten, dass sie – und das würde ja heißen, unter Umgehung des Selbstorganisationsrechts der Religionen – das für die muslimischen Organisationen tun. Sie müssen das selber tun.
Es wäre aber ein wichtiger Beitrag von deren Seite, den Prozess der Integration voranzubringen. Und alles, was ich auch sonst im Laufe dieses Jahres in dieser Richtung vorgeschlagen habe, sind ja eigentlich nur Vorschläge dazu, dass die Muslime und ihre Organisationen in Deutschland ihren eigenen Beitrag zur Integration leisten können. Und das ist genau so wichtig, wie das andere wichtig ist: Dass wir auch als christliche Kirchen unsere Beiträge dazu leisten, dass Integration vorankommt.
Birke: Sollte man das insgesamt bündeln – den Dialog der Religionen in Deutschland, dass man auch Paul Spiegel beispielsweise oder andere jüdische Vertreter, dass man Kardinal Lehmann als den obersten Hirten der Katholischen Kirche mit an den Tisch bittet?
Huber: Das ist sicher ein wichtiger Schritt, aber es hat auch einen guten Sinn, das bilateral zu versuchen und zu sehen, wie weit man kommt, und dann aus diesen Erfahrungen wieder zu lernen für einen nächsten Schritt.
Birke: Was – konkret – würden Sie oder werden Sie den Vertretern des Islam vorschlagen, wo man ansetzen sollte in der Praxis?
Huber: Es gibt ein paar ganz konkrete Punkte, in denen wir weiterkommen müssen. Wir sind immer eingetreten für einen islamischen Religionsunterricht in Deutschland, für einen geordneten ...
Birke: ... auf deutsch? ...
Huber: ... auf deutsch, nach den Maßstäben, die auch für andere Unterrichtsfächer gelten, also auf demselben pädagogischen Niveau, in einer Grundgesetz verträglichen Form, das versteht sich von selbst ...
Birke: ... wobei die Lehrerinnen dann auch Kopftuch tragen könnten? ...
Huber: ... wobei die Lehrerinnen im islamischen Religionsunterricht selbstverständlich Kopftuch tragen könnten, ja, genau so wie Religionslehrer im christlichen Religionsunterricht – im katholischen spielt das eine größere Rolle – selbstverständlich als Priester erkennbar, Religionsunterricht halten können.
Birke: Wir sind bei der Sprache der Religion. Würden Sie auch dafür eintreten, dass Imame in den Moscheen auf Deutsch predigen müssen?
Huber: Dieser Vorschlag ist ja inzwischen sogar von Vertretern des Zentralrats der Muslime und des Islamrates aufgenommen worden. Man muss zweierlei zugleich bedenken, und beides hat sein Recht. Das eine ist: Menschen zählen und beten in ihrer Muttersprache. Interessant beides, und deswegen setzen wir uns ja als Evangelische Kirche sehr dafür ein, dass es deutschsprachige evangelische Gottesdienste in anderen Ländern geben kann für diejenigen Christen deutscher Herkunft, die in anderen Ländern leben. Also, das hat sein gutes Recht.
Das andere aber genau so, wenn Muslime in der zweiten, in der dritten Generation in Deutschland leben, wenn sie mit unterschiedlichen Herkunftssprachen zusammenleben, zusammen Gottesdienst feiern, dann ist auch für sie Deutsch in Wahrheit die "Lingua franca", die Sprache, in der sie sich verständigen.
Jetzt kommt es ja allmählich heraus, dass es schon viele Moscheen gibt, in denen die Predigt entweder auf Deutsch gehalten oder übersetzt wird. Das halte ich für eine gute Maßnahme der Integration und übrigens auch eine Maßnahme der Vertrauensbildung. Ich habe mich dafür ausgesprochen, das, wo immer es geht, zu erweitern ...
Birke: ... aber nicht per Gesetz ...
Huber: ... es ist vollkommen ausgeschlossen, das per Gesetz zu machen. Das wäre ein Eingriff in die Religionsfreiheit, gesetzlich vorzuschreiben, in welcher Sprache gepredigt werden soll. Das konnte man gleich sehen, nachdem Frau Schawan diesen Vorschlag gemacht hat. Deswegen ist dieser Vorschlag, soweit ich sehen kann, auch von niemandem aufgegriffen worden. Aber das dahinterstehende Anliegen in der Form, in der ich es dann selber aufgegriffen habe, das ist vollkommen legitim. Und mein Wunsch ist, dass das im neuen Jahr im größeren Maße praktiziert wird und dass man das auch auswertet, welche Erfahrungen man damit macht.
Birke: Bischof Huber, Sie haben sich ja sehr dezidiert auch für ein Kopftuchverbot in öffentlichen Plätzen ausgesprochen seinerzeit, Sie haben ...
Huber: ... nicht in öffentlichen Plätzen ...
Birke: ... in Schulen ...
Huber: ... sondern nur von Menschen, die im öffentlichen Dienst diesen Staat vertreten und dabei in einem hohen Maß mit Adressaten der Staatsgewalt zu tun bekommen. Die sind nach meiner festen Überzeugung an sich von sich aus dazu verpflichtet, sich Zurückhaltung aufzuerlegen in weltanschaulichen und religiösen Bekenntnissen, so dass es, wenn man es ernst nimmt, eines Kopftuchverbots nicht bedarf, weil die eigentlich von sich aus dazu verpflichtet sind. Wenn sie gegen die Verpflichtung verstoßen und das unverträglich ist mit ihrem staatlichen Auftrag, den sie haben, muss der Staat die Möglichkeit haben, im konkreten Fall das Verbot durchzusetzen.
Und das Missliche ist, dass statt einer solchen auf den Einzelfall bezogenen Regelung, die nach meiner festen Überzeugung zureichen würde, durch einen Gang durch alle gerichtlichen Instanzen nun das Bundesverfassungsgericht sich genötigt gesehen hat, den Gesetzgeber dazu aufzufordern, tätig zu werden.
Das ist der Hergang gewesen, den man sich immer wieder klarmachen muss. Der hat dazu geführt, dass die vernünftige und maßvolle Art und Weise, mit dem Thema umzugehen, so ins Schlingern geraten ist. Das war das Resultat eines Marsches durch alle gerichtlichen Instanzen, der uns dieses Unglück beschert hat. Und jetzt muss man mit dem Unglück wieder möglichst sinnvoll umgehen, muss maßvolle gesetzliche Regelungen in Gang bringen.
Birke: Nur – mit Ihrer Haltung könnten ja jetzt die Muslime auch argumentieren, dass sie eben das Kopftuch nicht in dem Sinne als religiöses Symbol sehen. Glauben Sie, dass das dem Dialog förderlich ist?
Huber: Ich habe gerade erklärt, warum ich das nicht für unbedingt dialogförderlich halte. Aber man muss auch ganz klar machen, der besondere Schutz des Kopftuchs als eines religiösen Symbols, der führt sowieso in die Irre. Ein Kopftuch ist kein religiöses Symbol, ein Kopftuch ist ein Kleidungsstück. Und wenn Muslime sich darauf berufen, dass sie aus einer religiösen Verpflichtung heraus dieses Kleidungsstück tragen, dann wird es dadurch nicht selber zum religiösen Symbol. Es handelt sich um eine religiös bestimmte Handlung, die mit vieldeutigen Botschaften sich verbünden kann, und das genau schafft das Problem. Und deswegen die Aufforderung zur Zurückhaltung.
Und ich würde es noch heute begrüßen, wenn es gelingen würde, diese Diskussion niedriger zu hängen – sage ich mal – durch einen Beitrag auch der Muslime und Musliminnen selber, bei denen ja auch gilt, dass bei der Mehrheit der deutschen Muslime Kopftuchpflicht überhaupt kein positives Echo findet. Dessen muss man sich bewusst sein.
Birke: Auch in der Türkei, einem 99 Prozent muslimischen Land, ist ja das Kopftuch entsprechend in der Trennung von Kirche und Staat verboten oder nicht legitim. Sie haben sich sehr dezidiert geäußert und eine Volksabstimmung zu einem EU-Beitritt der Türkei verlangt. Weshalb?
Huber: Ich bin davon überzeugt, dass die Verhandlungen über einen eventuellen Beitritt der Türkei zur EU sehr grundsätzliche Fragen aufwerfen, die es nicht nur mit der Situation in der Türkei zu tun haben, was jetzt immer so im Vordergrund diskutiert wird, sondern gleichzeitig mit dem Charakter der Europäischen Union. Und ich wundere mich darüber, dass in dem Jahr, in dem wir die Verabschiedung der Europäischen Verfassung erlebt haben, also eines Dokuments, das darauf gezielt ist, die Gemeinschaft in der EU zu vertiefen, ihr auch einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, dass wir gleichzeitig eine Diskussion über den Beitritt der Türkei haben, bei der nur ganz wenig über die Frage geredet wird, welche Auswirkungen das für den Charakter der Europäischen Union haben wird.
Es gibt wichtige Stimmen, Ernst Wolfgang Böckenförde ist ein Beispiel dafür, der frühere Bundesverfassungsrichter, die sagen, ein Beitritt der Türkei wäre überhaupt nur zu machen, wenn die Europäische Union sich zurückentwickelt zu einer bloßen Wirtschaftsunion, einer Art Freihandelszone. Denn als politische Union – im wahrsten Sinne des Wortes, als kulturelle Gemeinschaft – wird die Europäische Union durch einen Türkeibeitritt in einem Maß überdehnt und überstrapaziert, dass dieser Charakter überhaupt nicht aufrecht zu erhalten ist.
Ich möchte gerne, dass diese grundsätzliche Debatte wirklich geführt wird, dass wir ihr nicht ausweichen, und dass es eine wirklich öffentliche Debatte wird. Und dafür ist der Gedanke der Volksabstimmung ein wichtiger und in meinen Augen ein richtiger Gedanke.
Ich weiß, dass das noch immer in Deutschland nicht leicht umzusetzen ist, weil wir das Instrument auf der Bundesebene gar nicht haben. Es gibt aber immer wieder auch Anläufe, zu sagen, das bräuchten wir. Und vielleicht ist dieses Beispiel dafür geeignet, auch die Debatte über Volksabstimmungen generell voranzubringen.
Birke: Bischof Huber, nun werden Politiker für ihre Visionen gewählt, und wenn wir eine Volksabstimmung zum Beispiel zum Euro gehabt hätten, bin ich mir sicher, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dagegen gestimmt hätte. Ist es denn nicht richtig, dass manchmal die Politik dem Volk einen Schritt vorauseilen muss und nicht unbedingt eine solche visionäre Frage auch dann zur Abstimmung dem Volk stellen muss?
Huber: Ich habe auch nicht gesagt, dass jede politische Vision in dem Augenblick, in dem sie entwickelt wird, zur Abstimmung gestellt werden muss. Aber bei wichtigen weichenstellenden Entscheidungen haben Politiker dann auch die Pflicht, diese Vision so plausibel zu machen, dass sie damit auch die Menschen gewinnen können. Und diese Anstrengung will ich der Politik eigentlich nicht ersparen.
Ich spreche mich nicht dafür aus, dass es weniger Visionen in der Politik geben soll. Im Gegenteil, ich finde, dass wir aufs Ganze gesehen, daran ein bisschen einen Mangel haben. Aber ich sage, im Fall des Türkeibeitritts hat bisher nach meiner Kenntnis niemand die Vision wirklich formuliert, nämlich die Vision, wie das Europa aussehen soll, welche Gestalt es haben soll, welche geistige Grundlage es haben soll – das Europa, in dem die Türkei der einwohnerstärkste Staat sein wird. Und das wird nämlich in 15 Jahren der Fall sein. Wenn wir mal einen Augenblick uns ausdenken – das wäre das Datum, zu dem die Türkei Mitglied würde, wäre die Türkei dasjenige Land mit der größten Einwohnerzahl in Europa überhaupt.
Das ist keine Kritik an der Türkei, sondern es ist die Frage: Bitte schildere mir das Europa, das Du dann haben willst. Schildere mir den kulturellen, den geistigen Charakter, das Funktionieren der politischen Mechanismen, die Art von Parlament, in der die Mehrheitsfraktion dann mutmaßlich von 90 oder wievielen Türken aus Erdogans Partei sehr maßgeblich geprägt sein wird.
Eines ist mir klar: Wer immer sich mit dieser Perspektive auseinander setzt, wird vor allem Grund haben, das Christliche in Europa stärken zu müssen, denn ein Europa, dass auf die Frage nach seinen eigenen religiösen kulturellen Grundlagen nur mit dem Wort "Säkularisierung" antworten kann, ein solches Europa wird der Türkei ganz bestimmt nicht gewachsen sein.
Birke: Bischof Huber, lassen Sie uns noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen: Ökumene. Sie waren unlängst beim Papst im Vatikan. Mit welchen Gefühlen beurteilen Sie die Entwicklungsmöglichkeiten, die beiden großen Kirchen des Christentums enger aneinander zu binden?
Huber: Erstens gehört zu den wichtigen Lehren, die man aus der gegenwärtigen Situation ziehen muss, dass man die Christenheit nicht nur in den beiden Seiten der Römisch-Katholischen Kirche und der Evangelischen Kirchen in den Blick nimmt. Es gibt die große Gruppe der Orthodoxen Kirche, die man viel wichtiger nehmen muss, auch aus einer deutschen Perspektive. Viele dieser Orthodoxen Kirchen sind auch mit eigenen Gemeinden, eigenen Diözesen in Deutschland vertreten. Es gibt die besondere angelikanische Kirchengemeinschaft, zu der wir als Evangelische Kirche auch eine besondere Beziehung haben. Wir haben Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit ihr in einem gewissen Umfang verwirklicht. Man sieht also, dass das gehen kann.
Wir haben die wachsende Bedeutung künstlerischer und charismatischer Bewegungen innerhalb des Christentums. Nur wenn man das alles sieht, redet man von christlicher Ökumene zu Recht. Aber ich gebe zu, innerhalb dieses Spektrums spielt die Beziehung zwischen Römisch-Katholischer und Evangelischer Kirche eine besondere Rolle. Das gilt gerade auch für Deutschland mit den ungefähr gleich großen evangelischen und katholischen Kirchen.
Birke: Kann es unter diesem Papst eine Annäherung geben?
Huber: Das ist gar nicht mal nur vom jetzigen Papst abhängig, von dem man ja beides sagen muss: Er hat einen ökumenisch geprägten Pontifikat über mehr als ein Viertel Jahrhundert gestaltet, und er hat innerhalb dieser ökumenischen Ausrichtung das eigene Profil der Römisch-Katholischen Kirche geschärft. Und er hat das offenbar aus der Überzeugung heraus getan, dass beides sich nicht ausschließt. Ich sage als evangelischer Bischof, das stimmt – eigenes Profil und ökumenische Offenheit schließen sich nicht aus, sondern bedienen sich wechselseitig.
Wir sind ja nicht auf dem Weg zu einer Einheitsökumene, das heißt, ökumenische Fortschritte sind nicht ausschließlich daran zu messen, ob es eine engere organisatorische Verflechtung zwischen den Kirchen gibt. Sie sind insbesondere auch nicht daran zu messen, dass die Unterschiede zwischen den Kirchen immer weiter verschwinden. Sie zeigen sich auch darin, dass wir die Leuchtkraft des Evangeliums dadurch stärken, dass wir unsere eigenen Traditionen in Anspruch nehmen und fruchtbar machen dafür, dass das Evangelium im 21. Jahrhundert gehört werden kann.
Birke: Sie würden sich aber ein gemeinsames Abendmahl wünschen?
Huber: Ja, aber das gemeinsame Abendmahl ist aber nicht ein Ausdruck für das Verschwinden der Differenzen, sondern für eine Kultur der Anerkennung in der Verschiedenheit. Und was mich an der jetzigen Situation schmerzt, ist, dass hinter dem Abendmahlsproblem eine Differenz besteht, in der wir das katholische Amt anerkennen in seiner Bedeutung für die katholische Kirche, und die Katholische Kirche das evangelische kirchliche Amt nicht anerkennt. Und diese Differenz finde ich sehr mühsam und sehr beschwerlich.
Und ich glaube, da müssen wir Fortschritte machen, aber nicht dergestalt, dass das evangelische kirchliche Amt kein evangelisches Amt mehr ist, sondern dahin, dass wir werben um eine Kultur des Respekts, der Anerkennung, der Achtung davor, dass der evangelische Typ von Kirche ein eigenständiger Kirchentypus ist.
Und die Folgerungen sind ja deutlich: Als Evangelische Kirche fühlen wir uns verpflichtet zu eucharistischer Gastbereitschaft, zur Offenheit unseres Abendmahls für die getauften Christen aus anderen Kirche, die nach den Regeln ihrer eigenen Kirche zum Abendmahl zugelassen sind. Und wir hoffen darauf, dass auch in dieser Hinsicht durch einen solchen ökumenischen Weg, wie ich ihn jetzt beschrieben habe, Wechselseitigkeit erreicht werden kann.
Birke: Vielen Dank für dieses Gespräch.