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Hügel mit Geschichte

Am Samstag jährt sich der Aufstand im Warschauer Getto zum 65. Mal. Dieser Tage reihen sich die Gedenkfeiern aneinander, danach kehrt der Alltag zurück in den Stadtteil Muranow. Florian Kellermann berichtet.

    Ein Spielplatz auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Gettos: Das Stadtviertel Muranow, wie es eigentlich heißt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als sozialistische Mustersiedlung wieder aufgebaut - mit viel Grün, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Kulturhäusern. Trotzdem vergessen die Bewohner nie, was hier einmal passierte, sagt eine Rentnerin, die mit ihrer Enkelin auf den Spielplatz gekommen ist.

    "Wir in unseren Familien haben immer darüber gesprochen. Das muss so sein. Nur wenn wir das Böse im Gedächtnis behalten, können wir uns um ein besseres Leben bemühen. Wir Polen haben auch sehr unter der deutschen Besatzung gelitten, aber die Juden waren besonders betroffen. Die wollte Hitler ganz auslöschen."

    Aber ihrer Enkelin will sie lieber erstmal nichts über das Getto und den Aufstand erzählen.

    "Das wird sie doch in der Schule lernen. Auch die Zeitungen schreiben ja ständig darüber."

    Vielleicht ist die Rentnerin da ein bisschen zu optimistisch. Gerade viele junge Bewohner von Muranow wissen nicht so genau Bescheid über die Geschichte ihres Stadtviertels.

    Da vorne, der kleine, mit Gras bewachsene Hügel sei "irgendein Denkmal", meint Maciej. Der 18-Jährige führt gerade seinen Hund aus. Dabei ist der Hügel in Wahrheit ein mit Erde bedeckter Trümmerhaufen. Hier liegen die Reste des Mietshauses mit der Adresse Mila-Straße 18. Als die deutschen Besatzer es in Schutt und Asche legten, befand sich darin der Kommandostab des Getto-Aufstandes. Die Erde hier birgt die Leichen von Mordechaj Anielewicz und mehr als ein Dutzend anderer Kämpfer.

    In Muranow gibt es viele solche Hügel, denn in ersten Jahren nach dem Krieg wurde der Schutt nicht abtransportiert. Manche der Neubauten, die etwas erhöht stehen, wurden direkt auf den Überresten zerstörter Häuser errichtet.

    Auch bei den Fakten ist Maciej sich unsicher, obwohl er mit der seiner Schulklasse alle Vernichtungslager besuchte und auch im Getto-Gelände unterwegs war.

    "Sollen wirklich über 400.000 Menschen im Getto gelebt haben? Ich kann das gar nicht glauben, so viel Platz ist hier doch gar nicht."

    Muranow ist ein beliebtes Warschauer Viertel. Zu Fuß ist es nur eine halbe Stunde in die Altstadt. Der Quadratmeterpreis für Wohnungen ist hier in den letzten Jahren auf knapp 3000 Euro gestiegen.

    Das Zentrum des Stadtteils ist ein großer Platz mit einem monumentalen Denkmal für den Aufstand. Hier ist Muranow am lebendigsten. Jugendliche lassen Disko-Musik aus einem Auto dröhnen, ein paar Arbeiter stehen im Kreis und trinken aus Plastikbechern Wodka. Direkt neben ihnen: eine Gedenktafel für Willy Brandt. Der Bundeskanzler kniete hier bei seinem Staatsbesuch 1970 nieder.

    Ein Skandal war das damals, peinlich für die kommunistischen Machthaber. Denn sie hatten die Feiern zum Getto-Aufstand längst abgeschafft - aus Protest gegen den israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg. Das ist sicher einer der Gründe, warum manche Warschauer nur wenig über den Getto-Aufstand wissen. Der polnisch-jüdische Historiker Jerzy Halbersztadt:

    "Seit der Wende erweitern wir die Infrastruktur des Erinnerns Stück für Stück. Gerade sind fünf Gedenksteine aufgestellt worden, die die Grenze des ehemaligen Gettos markieren. Das größte Projekt wird ein Museum sein, dessen Bau wir noch in diesem Jahr beginnen wollen. Es wird die ganze Geschichte der polnischen Juden umfassen und uns die Möglichkeit geben, die gemeinsame Vergangenheit ins kollektive Bewusstsein der Polen zurückzuholen."

    Jerzy Halbersztadt ist der Direktor des Museumsprojektes Es soll eine Ausstellungsfläche von 4000 Quadratmetern bekommen und mitten auf dem zentralen Platz von Muranow stehen. Nicht alle hier freuen sich über den Bau.

    Das werde bestimmt ein ziemlicher Lärm, meint die 17-jährige Katarzyna, die gerade Hand in Hand mit ihrem Freund spazieren geht. Und die Arbeiter mit ihrem Wodka sind noch ablehnender. "Ich begreife nicht, was wir Polen mit der Sache zu tun haben", sagt einer von ihnen.

    Dabei hat es der polnische Premier Donald Tusk bei seinem jüngsten Israel-Besuch klar formuliert: Es gebe keine polnische Kultur ohne jüdische Kultur, sagte er. Wenn das Museum erst steht, werden sich die Bewohner von Muranow und die Touristen davon überzeugen können.