Am 23. Juni 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, wurde in Zürich die Lyrik revolutioniert. In der Künstlerkneipe Cabaret Voltaire trug Hugo Ball feierlich das erste Lautgedicht des Dadaismus vor.
"gadji beri bimba
glandridi lauli lonni cadori
gadjama bim beri glassala
glandridi glassala tuffm i zimbrabim
blassa galassasa tuffm i zimbrabim . ."
glandridi lauli lonni cadori
gadjama bim beri glassala
glandridi glassala tuffm i zimbrabim
blassa galassasa tuffm i zimbrabim . ."
"Verse ohne Worte", so nannte der damals 30-jährige Dichter die von ihm erfundene Lyrik. Auf den Missbrauch der Sprache durch Politik und Propaganda reagierte die Kunst, indem sie von der Sprache nur noch die Klangwerte übrigließ. Auch heute noch hört sich das Resultat so verrückt und rätselhaft an, als würden hier von einem Zauberkünstler okkulte Mächte beschworen. Tatsächlich hatte sich Hugo Ball zu seinem legendären Auftritt als "magischer Priester" verkleidet. Wie abenteuerlich sein Kostüm aussah, kann man in seinem großen Erinnerungsbuch "Die Flucht aus der Zeit" nachlesen.
"Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, dass ich ihn durch Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut."
"Aus einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen"
Das Foto des verkleideten Ober-Dadaisten fehlt heute in kaum einer illustrierten Darstellung der deutschen Literatur. Kaum bekannt ist dagegen, dass Hugo Ball das Interesse an der Avantgarde-Lyrik praktisch umgehend wieder verlor. Zwar hatte er in dem von Exilanten, Spionen und Diplomaten bevölkerten Zürich der Kriegsjahre den Dadaismus maßgeblich mitbegründet, zusammen mit Freunden wie Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara oder seiner späteren Ehefrau Emmy Hennings. An dessen Aufstieg zu einer internationalen Kunstbewegung mit spektakulären Auftritten und Ausstellungen in Berlin, Paris oder New York hatte Hugo Ball jedoch keinen Anteil mehr. Denn wie er schon früh notierte, wollte der vor dem Kriegsdienst in die Schweiz Geflohene – Zitat – "aus einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen". Bereits im November 1916, also nur wenige Monate nach seinem Auftritt in dem von ihm gegründeten Cabaret Voltaire, unterlief Ball eine fatale, aber bezeichnende Fehlleistung. Tristan Tzara hatte ihm seine neueste Gedichtproduktion zur Beurteilung in die Hand gedrückt, doch als Ball zuhause ankam, waren die Manuskripte seines Freundes auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
"Ich habe gar keine Erinnerung mehr, wo ich die Verse könnte gelassen haben, schlafe schlecht, stehe auf und bin morgens um vier in Niederdorf, um mit den Straßenkehrern im Rinnstein nach den Gedichten zu suchen. Umsonst. Fundbüro, Zeitung, alles umsonst. Die Manuskripte sind verloren; ich wage kaum, es ihm zu sagen. Frank meint: 'Unterbewußtsein. Es liegt Ihnen nichts mehr dran.'"
Wenige Jahre später lag Hugo Ball nicht nur am Dadaismus nichts mehr, sondern im Grunde an der ganzen Literatur der Moderne. Romane wurden ihm sogar schon im September 1917 unlesbar, folgt man seinen tagebuchähnlichen Einträgen in "Die Flucht aus der Zeit". Und während es seine Dada-Freunde nach dem Krieg wieder in die Metropolen zog, lebte Ball zusammen mit Emmy Hennings zurückgezogen und unter einfachsten Lebensumständen im Tessin und beschäftigte sich mit Fragen des Kirchenrechts und den Lebensläufen von Mönchen und Heiligen. Seinen befremdeten Freunden und Bewunderern präsentierte er sich nach seiner religiösen Neubesinnung sogar selbst in der Rolle eines frommen Asketen. Den einzigen Ausweg aus der Krise Europas sah Hugo Ball nun in der katholischen Kirche.
"9. VIII. 1920 […] Es gibt nur eine Macht, die der auflösenden Tradition gewachsen ist: den Katholizismus. Aber nicht der Katholizismus der Vorkriegszeit und der Kriegsjahre, sondern ein neuer, vertiefter, ein integraler Katholizismus, der sich nicht einschüchtern läßt; der die Interessen verachtet; der den Satan kennt und die Rechte verteidigt, koste es, was es wolle."
Attraktiver Katholizismus
Nun ist die Anziehungskraft des Katholizismus auf Intellektuelle bekanntlich ein Phänomen der deutschen Geistesgeschichte. Man denke nur an Romantiker wie Friedrich Schlegel oder Joseph Görres oder, in der Gegenwart, an Martin Mosebach. Auch suchten gerade im Chaos der Nachkriegszeit viele Künstler und Intellektuelle nach weltanschaulicher Orientierung. Viele wandten sich der Psychoanalyse zu, andere dem Marxismus oder fernöstlichen Weisheitslehren, wie etwa Balls späterer Freund Hermann Hesse. Für den Katholizismus erwärmten sich in dieser Zeit vor allem österreichische Schriftsteller wie Joseph Roth oder Franz Blei. Hugo Balls Reversion – seine Rückkehr zur Kirche seiner Kindheit – war in ihrer gedanklichen und existenziellen Radikalität dennoch singulär.
1886 in Pirmasens geboren und getauft, war Ball in einer gutbürgerlich-katholischen Familie aufgewachsen. In der Boheme der Vorkriegszeit entdeckte er dann Nietzsche; Künstler wie Picasso oder Kandinsky galten ihm als "Priester" einer gottlosen Moderne. Jetzt aber, nach dem Krieg, praktizierte Hugo Ball seinen wiedergefundenen Glauben mit kindlich-ernsthafter Frömmigkeit und mystischer Inbrunst.
"Heute abend sang ich das Credo unvermittelt, wie es mir immer wieder in diesen letzten Wochen durch den Sinn geht. […] Die Worte berauschen mich. Die Kinderwelt steht auf. Es kämpft und tobt in mir. Ich beuge mich tief, ich fürchte, diesem Leben, diesem Überschwang nicht gewachsen zu sein. Das hätte ich früher nicht glauben können. Glauben können, glauben können. Vielleicht sollte man alles glauben: was einem zu glauben vorgestellt, und was einem zu glauben zugemutet wird. Und sollte sich selbst, zu glauben, täglich unglaublichere Dinge zumuten."
"Generalbeichte" in München
1922 dann legte Hugo Ball in München eine "Generalbeichte" ab und besiegelte so offiziell seinen Wiedereintritt in die Kirche. Oder sollte man besser sagen: seine Unterwerfung? Denn in der neuen Edition des Wallstein Verlages werden erstmals 28 Typoskript-Seiten mit Fragmenten veröffentlicht, die sich von den Vorstufen zu "Die Flucht aus der Zeit" erhalten haben. Darin findet sich ein ungeheuerlicher Satz:
"Ich habe keinen Gedanken, der mir selbst gehört, sie gehören alle der Kirche."
1927 starb Hugo Ball nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von nur 41 Jahren. Emmy Hennings erinnerte sich später, wie leicht sich ihr Mann noch auf dem Sterbebett von ein paar Tropfen Weihwasser beruhigen ließ, von einem Rosenkranz oder einer kleinen Heiligenfigur. Selbst auf Hermann Hesse, der seinem asketischen Freund und Biografen in "Narziß und Goldmund" ein anrührendes Denkmal setzte, wirkte Balls Mischung aus christlichem Fundamentalismus und naiver Frömmigkeit bizarr. Manchmal aber auch einfach nur ärgerlich. So etwa wenn Hugo Ball dem Freidenker Hesse treuherzig empfahl, ein Gebet zur Jungfrau Maria könne seine ständigen Augenbeschwerden lindern. Doch war das Gebet für Hugo Ball eben alles andere als billiger Trost. In den schon erwähnten Vorstufen-Fragmenten zu "Die Flucht aus der Zeit" heißt es:
"Jedermann hält das Gebet für eine harmlose Sache. Das ist es weder für den Einzelnen, noch für die Gesamtheit. Das Gebet kann sein ein Selbstgericht und auch der Posaunenschall, der die Jerichomauern zum Einsturz bringt."
"Die Flucht aus der Zeit" erschien 1927, nur wenige Monate vor Balls Tod. Auf viele Leser wirkte das Buch daher wie ein Vermächtnis. Schon der Titel zitiert das Motiv der mönchischen Weltflucht, für den Autor eine Form des Widerstands. Doch wollte Ball seiner Epoche nicht einfach den Rücken kehren, sondern vielmehr – Zitat – "sich so weit als möglich aus der Zeit entfernen, um sie zu überblicken". "Die Flucht aus der Zeit" besteht im Wesentlichen aus tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Persönliches findet sich hier neben Exzerpten, etwa aus anarchistischen oder mystischen Klassikern; ästhetische, politische oder theologische Reflexionen stehen neben herrlich verrückten Aphorismen wie diesem:
"9.1.1917 Man sollte die Bibliotheken verbrennen und nur noch gelten lassen, was jeder davon auswendig weiß. Ein schönes Zeitalter der Legende würde beginnen."
Entstanden sein sollen all diese Notate in den Jahren von 1913 bis 1921. Sie vereinen somit all die disparat erscheinenden Aspekte von Hugo Balls Leben: den Bohemien, Theatermenschen und Avantgardisten. Den politisch engagierten Publizisten. Und endlich den Schmerzensmann und katholischen Zeit- und Kulturkritiker. Eben das war die Aufgabe dieses Buches: dem Nachkriegspublikum Hugo Balls geistige Neuorientierung verständlich zu machen. Schon 1919 hatte der bekehrte Künstler ausgerechnet Luther und Kant als geistige Ahnherren für Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg ausgemacht; entsprechend bescheiden war die Resonanz auf Balls Studie "Zur Kritik der deutschen Intelligenz". Vier Jahre später erntete Ball erneut Kopfschütteln, selbst in kirchennahen Zeitschriften: Als eine Art Laientheologe beschäftigte er sich in dem Band "Byzantinisches Christentum" mit exemplarischen Heiligen der Spätantike, darunter der Kirchenvater Dionysos Areopagita oder der Säulenheilige Symeon Stylites. So wie Letzterer auf seiner steinernen Plattform in der Einsamkeit seinen Besuchern predigte, wollte auch der fromme Dichter selbst seiner Epoche den Weg weisen.
Mehr Deutung als Dokument
In "Die Flucht aus der Zeit" kann man all die Themen des späten Hugo Ball wiederfinden. Der "preußische Despotenstaat" erscheint ihm etwa als eine Folge ausgerechnet von Kants Sittengesetz. Was Balls theologische Reflexionen angeht, so würde man ihn heute wohl als religiösen Extremisten bezeichnen. So beschäftigte er sich mit der Frage einer zeitgenössischen Form des Exorzismus und träumte angesichts einer von Atheisten, Protestanten und nicht zuletzt Juden bevölkerten Moderne von Zwangstaufen:
"23. VII. 1920: Solange der Staat die überlegene Autorität einer unfehlbaren Kirche nicht anerkennt und seine Bürger nicht nötigt, solcher Kirche anzugehören oder das Land zu verlassen, solange muß man mit einem latenten Zustand der Rebellion rechnen; denn es ist nicht einzusehen, weshalb die Gesamtheit solle [!] gegen die geistige Autorität rebellieren dürfen, der einzelne aber nicht gegen den Generalverband der Interessen."
Für die Herausgeber der neuen Edition hat Balls Erinnerungsbuch somit eine Janusgestalt: Einerseits ist es das exemplarische Bekenntnis seiner persönlichen Bekehrung. Andererseits aber eben auch der Versuch einer Zeitanalyse, um die politische, moralische und religiöse Entfremdung der Nationen zu beenden. In Briefen bezeichnete Ball "Die Flucht aus der Zeit" gern als "Tagebuch"; viele Forscher haben diese Gattungszuweisung später aufgriffen. Dabei äußerten schon erste Rezensenten Zweifel an der Authentizität dieser Aufzeichnungen. Zudem hatte Emmy Hennings das Buch später in einem Brief als "sehr bearbeitetes Tagebuch" charakterisiert. Die Einträge seien von ihrem Mann – Zitat – "keineswegs etwa unmittelbar abgeschrieben". Wie ist es also um den Quellenwert von "Die Flucht aus der Zeit" bestellt?
Eckhard Faul und Bernd Wacker haben dieses Erinnerungswerk jetzt im Rahmen der Hugo-Ball-Gesamtausgabe erstmals kritisch ediert, kommentiert und mit einem kenntnisreichen Nachwort versehen. Eine editorische Großtat, bei der die Herausgeber auf umfangreiche Vorarbeiten Ernst Teubners aufbauen konnten. Alle Fragen beantworten können die Ball-Spezialisten freilich nicht – schon deshalb, weil die Originaltagebücher, die der "Flucht aus der Zeit" zugrunde liegen, verschollen sind. Nach dem Zeugnis von Balls Witwe wurden sie vom Autor "verbrannt"; nur seine späteren Tagebücher sind erhalten geblieben.
Heiligenlegende in eigener Sache
Was die neue Edition dennoch deutlich macht: "Die Flucht aus der Zeit" ist mitnichten ein authentisches Diarium. Sie bietet "mehr Erzählung als Ereignis", wie die Herausgeber resümieren, mehr "Deutung" als "Dokument". Und weil sie dies in philologischer Detektivarbeit nachweisen, ist ihre Edition ein Sonderfall: Hier ist der Anmerkungsapparat spannender als der mitunter reichlich sperrige, wenn nicht gar obskure Haupttext. Für die Herausgeber zeigt sich der "genuin literarische Charakter" von "Die Flucht aus der Zeit" zum Beispiel an nicht gekennzeichneten Selbstzitaten Balls, etwa aus seiner "Kritik der deutschen Intelligenz". Oder an den zahlreichen Übernahmen aus fremden Werken, die in der neuen Ausgabe erstmals nachgewiesen werden. Umfangreiche Passagen von Schiller, Tolstoi oder längst vergessenen Autoren wie Rudolf von Gottschall hat Ball einfach übernommen, ohne sie jedoch als Zitate zu kennzeichnen. Und in mehr als 90 Fällen hat der Autor später entstandenes Tagebuchmaterial einfach rückdatiert – und somit spätere Einsichten und Überzeugungen seinem früheren Ich in den Mund gelegt. Hinzu kommen noch Balls biografische Erfindungen. Wie seine Behauptung, er habe sich im August 1914 gleich mehrmals freiwillig gemeldet. Oder habe sich im Folgejahr seiner diversen militärischen Auszeichnungen entledigt:
"20. X. [1915] Den schwarzen Adlerorden, die Tapferkeitsmedaille, das Verdienstkreuz I., II. und III. Klasse, all das habe ich heute abend samt meiner Kriegsbeorderung in den Zürichsee versenkt. Es ist meine Meinung, daß jeder an seinem Platze zu fechten hat. Man kann das Eiserne Kreuz auch auf dem Rücken tragen. Es muß nicht gerade die Brust sein."
Tatsächlich hatte sich Hugo Ball nur einmal, zu Kriegsbeginn, freiwillig gemeldet, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen zunächst zurückgestellt. Vor seiner Flucht ins Schweizer Exil sah er die Front nur einmal im Rahmen eines Besuchs; für irgendwelche militärischen Heldentaten gab es somit schlicht gar keine Gelegenheit. Doch hatte Hugo Ball für seine Stilisierungen ein nachvollziehbares Motiv, so die Herausgeber. Denn in Deutschland galt der Dichter in rechten Kreisen als "Vaterlandsverräter" und als bezahlter Agent Frankreichs, vor allem wegen seiner pazifistischen Artikel während der Kriegsjahre in der republikanischen "Freien Zeitung". Immer wieder bekam Ball Morddrohungen; auf seinen Lesungen sollen Steine geflogen sein. Mit seinen Schutzbehauptungen wollte Hugo Ball offenbar verhindern, seinen Kritikern zusätzliche Angriffsflächen zu bieten.
In anderer Hinsicht stellt die stilisierte Version von Balls Erwachsenenleben jedoch gleichsam seine eigene Hagiographie dar. Denn vieles bleibt in dieser autobiografischen Konstruktion ausgeblendet: dass Hugo Ball einst antikirchliche Gedichte wie "Der Henker" schrieb. Dass er sich vor dem Krieg in einem Münchner Polizei-Meldebogen als "konfessionslos" bezeichnet hatte. Oder dass er 1917 in einem Vortrag über Kandinsky Nietzsches Epochendiagnose als Voraussetzung modernen Künstlertums gesehen hatte:
"Gott ist tot. […] Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. Kirchen sind Luftschlösser geworden. Überzeugungen Vorurteile. […] Die Künstler dieser Zeit sind nach innen gerichtet. […] Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos." (zit. n. Anz/Stark, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, 124 f.)
Wie sehr "Die Flucht aus der Zeit" einer religiös fundierten Selbstpoetik verpflichtet ist, zeigt sich gerade an Balls Umgang mit seiner dadaistischen Phase. Als er wie eingangs erwähnt im Cabaret Voltaire das erste Lautgedicht vortrug und ihn dabei vorübergehend aller Mut verließ, habe er dabei an die Kirchenbesuche seiner Kindheit gedacht.
"Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es, nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen. Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt."
So kann man es in "Die Flucht aus der Zeit" nachlesen, in einem Eintrag, datiert auf den 23. Juni 1916. Schon zeitgenössische Rezensenten erkannten hier die überraschende Verbindung zwischen Dadaismus und Katholizismus. Eine verblüffend ähnliche Tagebuchstelle aus dem Jahr 1922 legt für die Herausgeber jedoch nahe, dass es sich auch bei dieser angeblichen Erinnerung Balls um eine Rückdatierung handelt. Ball habe die Erinnerung an seine "gottlose" Phase, sein "Leben voller Verfehlungen", wie er schrieb, so geschmerzt, dass er den dadaistischen Urknall im Cabaret Voltaire nachträglich in eine unbewusste Konversionsgeschichte verwandelte. Sogar das Nonsens-Wort "Dada" versuchte der späte Hugo Ball zu christianisieren. Im Rückblick wollte er damit zweimal den von ihm bewunderten spätantiken Theologen Dionysos Areopagita angerufen haben: D.A. – D.A. Dada eben.
Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Fuga saeculi. (Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3)
Herausgegeben und kommentiert von Eckhard Faul und Bernd Wacker.
Wallstein Verlag, Göttingen. 728 S., 44,- Euro.
Herausgegeben und kommentiert von Eckhard Faul und Bernd Wacker.
Wallstein Verlag, Göttingen. 728 S., 44,- Euro.