Christiane Florin: "Es begab sich aber zu der Zeit" – so beginnt ein Stück Weltliteratur. Und für Christinnen und Christen ein Glaubensbekenntnis: die Menschwerdung Gottes in Gestalt eines kleinen Kindes aus prekären Verhältnissen. Mehr als 40 Millionen Menschen in Deutschland gehören noch einer der beiden Kirchen an, aber die Zahl der Konfessionsfreien steigt. Manche organisieren sich dezidiert nicht religiös, in einer Weltanschauungsgemeinschaft.
Ich bin jetzt verbunden mit Anika Herbst von der Humanistischen Vereinigung. Anika Herbst hat Philosophie studiert und ist Schauspielerin. "Seit 1848 für Menschlichkeit und Vernunft", lautet der Slogan der Humanistischen Vereinigung. Wie feiern Sie menschlich und vernünftig Weihnachten?
Anika Herbst: Vernünftig war auch für uns, unsere Veranstaltung abzusagen. Unsere Feierlichkeit zur Wintersonnenwende oder zu Weihnachten ist das Lichtfest. Das haben wir abgesagt. Menschlich, indem wir die Werte leben, für die wir stehen, die humanistischen Grundwerte: Frieden, Selbstbestimmung, Offenheit – die kann man natürlich auch ohne eine dezidierte Veranstaltung leben.
"Mit Feuerschale und besinnlichen Worten auf hellere Tage zusteuern"
Florin: Was wäre gewesen, wenn das Fest stattgefunden hätte?
Herbst: In den meisten humanistischen Gemeinschaften oder frei-religiösen Gemeinden wird ein Sonnenwendfeuer entzündet. Man feiert den Sieg des Lichtes über die Dunkelheit damit. Licht ist etwas, was in allen anderen Religionsgemeinschaften, nicht nur im Christentum, eine große Rolle spielt: Kerzenlicht, am Weihnachtsbaum. Bei uns wäre es so gewesen: mit Feuerschale, besinnlichen Worten. Wir feiern die Tatsache, dass wir wieder auf hellere Tage zusteuern, das der Frühling irgendwann wiederkommt.
Florin: Das klingt nach der Suche nach Trost und Hoffnung. Trösten Vernunft und Menschlichkeit?
Herbst: Ich denke, dass menschliche Nähe tröstet. Wir können einander trösten. Dieses Zusammenkommen ist etwas, was uns tröstet und warum sich viele freuen. Da kann ich für viele sprechen. Man freut sich, alte Bekannte und Verwandte zu sehen. Das fällt in diesem Jahr aus. Wir müssen versuchen, diesen Trost in anderen Sachen zu finden.
Florin: In welchen zum Beispiel?
Herbst: Man kann sehr gut anderweitig in Verbindung bleiben. Zum Beispiel indem man über ein Zoom-Meeting über mehrere Kilometer entfernt das Weihnachtsessen miteinander kocht. Verbindende Rituale sind auch gemeinsames Singen oder Musikhören. Das handhabe ich in der Familie so, dass wir gemeinsam singen und musizieren.
"An Weihnachten kommt keiner vorbei"
Florin: Sie haben im Vorgespräch von einem Weihnachtslied ohne religiösen Bezug erzählt. Es heißt: "1000 Sterne sind ein Dom". Wir haben da ein paar Takte vorbereitet.
Die Strophe, die wir gerade gehört haben, lautet: "Tausend Sterne sind ein Dom/in stiller weltenweiter Nacht./Ein Licht blüht auf im Kerzenschein/Das uns umfängt und glücklich macht." Ein Weihnachtslied ohne "Christ, der Retter ist da" – ist das nicht ein bisschen wie Champagner ohne Alkohol?
Herbst: Der Auffassung kann man sein, wenn man meint, Weihnachten sei ein rein christliches Fest. Dieser Auffassung bin ich nicht und das entspricht auch nicht der heutigen Realität. Weihnachten ist das wichtigste Kulturereignis unseres Landes, so hat es der Landesbischof von Hannover Ralf Meister in dem vorangegangen Beitrag genannt. Das würde ich bestätigen. Jeder hat irgendeine Verbindung zu Weihnachten. Man kommt an Weihnachten gar nicht vorbei. Sei es im Einzelhandel an Lebkuchen oder im Betrieb mit der Weinachtsfeier – zu normalen Nicht-Pandemie-Jahren.
Aber was ich nicht bestätigen kann, ist, dass der Ursprung ein christlicher ist. Die Wintersonnenwende ist auf der Nordhalbkugel ganz unabhängig vom Christentum ein Wendepunkt im Jahreskreis, heutzutage ganz unabhängig davon "Wer hat's erfunden?" mit Bedeutung aufgeladen, ganz individuell, sei es bei Konfessionsfreien oder bei religiösen Menschen.
Florin: "Stille Nacht" singen Sie nicht?
Herbst: Wenn es irgendwo gesungen wird und stehe im Chor, singe ich es mit. Aber in der Familie singe ich weltliche Weihnachtslieder. Da gibt es ja auch viele. Dieses "1000 Sterne sind ein Dom" ist ein sehr schönes Lied oder gerade für Kinder gibt es Lieder, die nicht Christ, den Retter in den Mittelpunkt stellen. "Morgen Kinder, wird's was geben" oder "Morgen kommt der Weihnachtsmann".
"Ein Privileg für religiös empfindende Menschen"
Florin: Schon im 19. Jahrhundert ging es materiell zu. Es ist nicht so, wie es oft in Predigten dargestellt wird, dass die Konsumgesellschaft eine moderne Erscheinung ist. Wir haben im ersten Beitrag gehört wie, Kirchen und Politik darum ringen, Gottesdienste ja oder nein. Finden Sie, dass die Kirchen in diesem Punkt bisher privilegiert sind, zum Beispiel im Vergleich zur Kultur, zum Konzertbetrieb?
Herbst: Ja, es werden Rechte gegeneinander abgewogen. Dem Recht auf freie Religionsausübung wird ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt. Das lässt sich natürlich kritisieren. Für mich persönlich ist es nicht so wichtig, Weihnachten in eine Kirche zu gehen. Ich würde lieber in ein Theater gehen oder in ein Konzert. Das ist ein Privileg, ohne Frage. Da wird religiös empfindenden Menschen ein Privileg eingeräumt. Ob sie es wahrnehmen, das ist eine andere Frage, die gerade zu recht diskutiert wird.
Florin: Und was hätten Sie davon, wenn jetzt keine Gottesdienste stattfänden? Ein Gefühl von Gerechtigkeit?
Herbst: Mich selbst tangiert es gar nicht so. Die Kirchen täten sich selbst einen Gefallen, das abzusagen. Einfach deshalb, weil nach Weihnachten die Infektions- und Todeszahlen steigen, ähnlich wie in den USA nach Thanksgiving. Das muss gar nicht an dem einzelnen Gottesdienst liegen. Sondern das liegt vielelicht an der Begegnung im privaten Raum, die weniger Infektionsschutz und Abstand hat. Trotzdem müssen sich auch die Kirchen fragen lassen: Was habt ihr in der Zeit getan? Wäre ich jetzt die Kriche, würde ich drauf verzichten.
"Persönliche Weihnachtsgeschichte"
Florin: Ich habe die Moderation mti der Weihanchtsgeschichte aus der Bibel angefangen. Gibt es für Sie ein Buch, das gerade jetzt für Sie besonders wichtig ist?
Herbst: Tatsächlich ist es kein Buch, es sind ritualisierte Texte, Lieder, Gedichte. Dass man gemeinsame Worte hat. Aber ich rufe auch Menschen an, die sich sonst nicht so oft spreche, ich schreibe Karten. Für mich ist das die Weihnachtsgeschichte, den Faden der persönlichen Geschichten und Beziehungen wieder aufzunmehmen.
Florin: Waren Sie einmal gläubig und haben sich vom Christlichen entfernt oder sind Sie humanistisch aufgewachsen?
Herbst: Ich bin in einer christlichen Familie aufgewachsen. Für mich war der Weihnachtsgottesdienst als Kind ganz wichtig, des Krippenspiels wegen. Ich bin Schauspielerin geworden. Das zeigt noch mal, dass für ganz viele Personen Weihnachten nicht unbedingt etwas Christliches ist und auch religiöse Rituale nicht unbedingt mit einem religiösen Empfinden zusammenhängen, sondern mit individuellen Werten. Das sollten wir auch in der öffentlichen Diskussion anerkennen. Ich finde es schön, das darauf Bezug genommen wird.
Ich habe letztens in DLF Nova einen Beitrag gehört, da ging es auch um die Gottesdienste. Da sagt der Moderator: "Das Allerwichtigste an Weihnachten ist doch – Spannungspause – die Geburt Jesu". Das sagt er vielleicht für sich und ist vielleicht die scheinbar richtige Wahrnehmung von Weihnachten. Aber die Wirklichkeit ist viel vielfältiger. Darauf sollten wir Bezug nehmen, daraus sollten wir lernen. Das interessiert uns auch, wie andere Weihnachten feiern. Mich interessiert es. Da sollten wir die Augen offen halten und kreativ werden und schauen: Wie kann ich noch das Fest begehen? Wie begehen andere dieses Fest? Und kann ich nicht das Fest dieses Jahr auf ganz andere Weise begehen und trotzdem ein schönes Fest feiern?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.