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Humanitäre Situation in Gaza
"Es spielen sich dramatische Szenen ab"

Als "sehr schwierig" beschreibt Riad Othman von der Hilfsorganisation Medico International die Lage für Helfer in Gaza. Sie gerieten unter Beschuss trotz humanitärer Waffenruhen, sagte er im DLF. Israel wie auch die bewaffneten Palästinensergruppen verletzten das Gebot, Zivilisten zu schützen.

Riad Othman im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Verwandte von getöteten Palästinensern vor ienem Krankenhaus in Gaza-Stadt
    Verwandte von getöteten Palästinensern vor ienem Krankenhaus in Gaza-Stadt (.AFP PHOTO/MARCO LONGARI)
    Thielko Grieß: Die Flugbehörde der Vereinigten Staaten erlaubt wieder Flüge von US-Fluggesellschaften zum Flughafen in Tel Aviv. Das ist vor wenigen Minuten bekannt geworden. Ob deutsche Fluggesellschaften nachziehen, ist noch nicht bekannt. Die Gewalt im Gazastreifen allerdings hält derweil an.
    Am Telefon begrüße ich Riad Othman, Büroleiter der Hilfsorganisation Medico International, heute Morgen in Ramallah im Westjordanland. Guten Morgen, Herr Othman.
    Riad Othman: Guten Morgen, Herr Grieß!
    "Das Gebot, Zivilisten zu schützen, wird verletzt"
    Grieß: Sie stehen in enger Verbindung mit Hilfskräften im Gazastreifen. Was können Sie uns sagen, wann und wie verletzen die Konfliktparteien das Gebot, Zivilisten zu schützen?
    Othman: Na ja, ich denke, die bewaffneten Palästinensergruppen im Gazastreifen verletzen es natürlich dadurch, dass sie Raketen nach Israel unterschiedslos abfeuern, ohne zwischen Zivilisten und Militär zu unterscheiden. Ich denke, sie können in vielen Fällen auch gar nicht wirklich unterscheiden, weil die Raketen, wie man jetzt die letzten drei Wochen gesehen hat, ja sehr ungenau sind. Die sind nicht gut gezielt. Und ich denke, die israelische Armee und dadurch auch die israelische Regierung, die verletzen natürlich eigentlich auch systematisch das Gebot, Zivilisten zu schützen. Es werden Krankenhäuser angegriffen, es werden Schulen angegriffen, und keineswegs sind alle Schulen und Krankenhäuser Abschussbasen von Hamas-Raketen oder Raketenbatterien des islamischen Dschihad.
    Grieß: Wen schicken Sie in den Gazastreifen, um dort zu helfen?
    Othman: Wir schicken keine Mitarbeiter dort hin. Medico International implementiert grundsätzlich ja die Projekte nicht selbst, sondern wir unterstützen lokale Partnerorganisationen. Das heißt, unsere Partner in Gaza, das sind drei palästinensische Organisationen, und die arbeiten jetzt dort und die sind natürlich auch mit ihren Mitarbeitern im Gazastreifen gefangen, wie die anderen 1,8 Millionen Bewohner.
    Othman: Humanitäre Waffenruhe bedeutet nicht, dass Helfer nicht unter Beschuss geraten
    Grieß: Gibt es irgendeine Art von Absprache mit etwa der israelischen Armee, oder mit der Hamas, die dazu dient, bestimmte Regionen zu bestimmten Zeiten zu schonen, dass dort nicht geschossen wird, dass dort geholfen werden kann?
    Othman: Ja, natürlich. So was wird in der Regel hier durch die Vereinten Nationen gemacht für alle NGOs, nicht nur für Medico, sondern für wirklich alle. Aber es ist im Moment sehr schwierig. Was ich mitbekomme auch von anderen internationalen Hilfsorganisationen ist schon so, dass sich sehr dramatische Szenen abspielen. Selbst wenn eine kurze humanitäre Waffenruhe vereinbart wird, heißt das nicht unbedingt, dass die Leute, die dann dort reingehen, nicht unter Beschuss geraten.
    "Ausstattung der Krankenhäuser sehr schlecht"
    Grieß: Gleichwohl wird ja versucht zu helfen. Was sind Ihre Informationen darüber, wie gut Krankenhäuser noch ausgestattet sind, wie gut die Ärzte noch helfen können?
    Othman: Was ich höre und was ja auch täglich berichtet wird über die Weltgesundheitsorganisation und das Büro der Vereinten Nationen für die Koordination humanitärer Angelegenheiten, ist die Ausstattung sehr schlecht. Der Verbrauch ist natürlich im Moment auch sehr hoch, weil es mittlerweile über 4.000 Verletzte gibt. Aber der Nachschub kommt nicht so schnell rein, wie er reinkommen sollte. Man hat mittlerweile zwar große Zusagen bestimmter Geberländer. Ich glaube, Kuwait hat gestern zehn Millionen Dollar alleine zugesagt. Aber bis diese Hilfe ankommt, das dauert natürlich auch.
    Grieß: Über welche Kanäle kann denn der Nachschub in den Gazastreifen gelangen? Wir hören ja – und das haben Sie gerade ja auch noch einmal gesagt -, dass der Gazastreifen praktisch vollständig abgeriegelt sei.
    Othman: Ja, das ist er natürlich, vor allen Dingen für Menschen, aber auch für Güter, die den Gazastreifen verlassen wollen. Nach Gaza hineinzukommen, ist beträchtlich einfacher, als aus dem Gazastreifen rauszukommen. Es gibt den Güterübergang Kerem Shalom. Das ist an der Westgrenze des Gazastreifens. Wo man als Mitglied der Hilfsorganisationen reingeht, das ist ja im Norden, und Kerem Shalom ist auf der westlichen Seite. Da kommen dann im Prinzip die Hilfsgüter rein. Wir haben mit unseren Partnern, Ärzte für Menschenrechte Israel, dort Lastwagen mit Medikamenten hingeschickt. Das heißt, der Lastwagen kommt dort an, er stellt sich in eine lange, lange, lange Schlange von anderen Lastwagen, und irgendwann kommt er rein. Dann muss aber natürlich alles erst umgeladen werden und auf der palästinensischen Seite wird es dann auf palästinensische Lastwagen geladen und von dort dann an den Bestimmungsort in Gaza weitertransportiert.
    Grieß: Eine Strategie der Hamas ist in der Vergangenheit stets gewesen, soziale Leistungen, auch Krankenversorgung für die Bevölkerung im Gazastreifen selbst bereitzustellen. Geschieht das jetzt noch immer?
    Othman: Ich nehme an, in bescheidenem Umfang. Dass die Hamas nicht nur eine Terrororganisation mit bewaffnetem Arm ist, das muss man natürlich ganz klar sagen. Es ist auch eine soziale Bewegung und es ist eine politische Partei und sie unterstützt, denke ich, die Leute, wo sie kann. Aber Fakt ist natürlich auch, dass nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mursi und der Zerstörung der Tunnel durch die ägyptische Armee die Hamas faktisch ganz geringes Einkommen nur noch hatte. Die Hamas war im Prinzip quasi bankrott, als sie sich dann dazu durchgerungen hat, mit der Fatah den Aussöhnungsprozess anzugehen. Ich denke, der Hauptgrund hierfür war, dass die Hamas mit dem Rücken zur Wand stand, was darauf schließen läst, dass sie im Moment vermutlich nicht besonders viele Gesundheitsdienste anbieten kann.
    "Es gibt keine Hilfsanfrage der israelischen Regierung"
    Grieß: Ganz kurz noch, Herr Othman. Die israelische Seite benötigt Ihre Hilfe nicht?
    Othman: Nein. Das ist ja ein funktionierender Staat. Es gibt auch keine Hilfsanfrage der israelischen Regierung. Unsere israelischen Partner benötigen unsere Unterstützung, weniger materiell als in Form politischer Solidarität, weil die werden natürlich jetzt regelmäßig als Verräter und Nestbeschmutzer angegriffen, weil sie die militärische Eskalation kritisieren.
    Grieß: Danke schön, Riad Othman in Ramallah, Büroleiter der Hilfsorganisation Medico International. Sie haben es gehört: Die Telefonleitung war nicht allererster Güte, aber dafür bitten wir um Verständnis.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.