Vater, Mutter und drei Kinder, das älteste gerade mal zehn Jahre alt: Sie fliehen im Oktober 2016 aus ihrer schwer umkämpften Heimatstadt, dem syrischen Aleppo, nach Beirut im Libanon. In der belgischen Botschaft dort beantragen die Eltern humanitäre Visa für sich und ihre Kinder zur Einreise nach Belgien. Dort wollen sie dann Asyl beantragen. In ihrer Heimat fürchtet die Familie – orthodoxe Christen – wegen ihres Glaubens um ihr Leben. Der Vater war bereits von einer bewaffneten Gruppe entführt und misshandelt worden und nur gegen ein Lösegeld wieder frei gekommen. Dieser Fall wird nun exemplarisch verhandelt.
Theoretisch ist ein humanitäres Visum eine der wenigen Möglichkeiten, auf sicherem Weg nach Europa zu kommen. Denn Flug- und Schifffahrtsunternehmen lassen Flüchtlinge nur mit gültigen Einreisepapieren an Bord – weil ihnen nach EU-Recht sonst hohe Strafzahlungen drohen. Praktisch aber werden humanitäre Visa nur sehr selten vergeben.
EU schottet sich immer mehr ab
Flüchtlingsorganisationen und unabhängige Wissenschaftler fordern seit Langem mehr legale und sichere Wege für Schutzsuchende in die EU. Wie etwa der Jurist Sergio Carrera vom Brüsseler Forschungsinstitut "Centre for European Policy Studies", kurz CEPS.
"Das würde die Zahl der irregulären Einreisen deutlich verringern. Und es würde Leben retten. Denn die Menschen müssen ja sehr risikoreiche Routen nehmen - und viele von ihnen sterben bei dem Versuch. 5.000 Tote gab es laut der Internationalen Organisation für Migration letztes Jahr im Mittelmeer."
Der Fall, über den die Richter am Europäischen Gerichtshof morgen entscheiden, wirft ein Schlaglicht auf eines der größten Probleme der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik: Die Abschottung der EU-Außengrenzen – sie macht es nicht nur Wirtschaftsmigranten, sondern auch Flüchtlingen mit Bleibeperspektive schwer, überhaupt nach Europa zu gelangen. Die italienische EU-Abgeordnete Elly Schlein von der sozialdemokratischen Fraktion:
"Wir sollten sicherstellen, dass es für Menschen auf der Flucht sichere und legale Wege gibt, nach Europa zu gelangen. Sonst akzeptieren wir das Risiko, dass sie schon tot an unseren Küsten ankommen – was ja bereits passiert, wie man leider regelmäßig aus den Nachrichten erfährt. Aber damit sagen wir im Grunde: Das Recht, in Europa Asyl zu suchen, existiert nicht."
Pflicht oder Nicht-Pflicht bei Visa-Erteilung
Die syrische Familie, deren Fall nun verhandelt wird, bekam keine humanitären Visa zur Weiterreise nach Belgien. Gegen den offiziellen Ablehnungsbescheid der Behörden wehrte sie sich mithilfe eines Brüsseler Anwalts vor dem zuständigen belgischen Gericht. Dieses schaltete die höchsten Richter der EU ein – und sie entscheiden morgen im Grunde über die Frage: Sind die EU-Staaten mit ihren Botschaften nach EU-Recht verpflichtet, humanitäre Visa zu erteilen, wenn die Antragsteller glaubhaft machen können, dass ihnen ansonsten Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung droht?
Nein, das seien sie nicht – argumentierten etwa ein Dutzend EU-Staaten während der Verhandlung, darunter Deutschland: Sie könnten nach geltendem EU-Recht humanitäre Visa ausstellen, müssten es aber nicht.
Der Generalanwalt am EuGH dagegen sieht die Mitgliedsstaaten eindeutig in der Pflicht, humanitäre Visa zur Einreise in die EU auszustellen. Flüchtlingsorganisationen begrüßen diese Haltung. Maximilian Pichl, rechtspolitischer Referent bei ProAsyl.
Geschäftsmodell der Menschenschmuggler beenden
"Der Generalanwalt hat ganz klar gesagt: Diese Asylanträge sollen nicht in den Botschaften geprüft werden, sondern die Menschen sollen einen sicheren und legalen Weg nach Europa bekommen, um hier in Europa ihr rechtsstaatliches Verfahren durchführen zu können. Ich halte das für einen sehr sinnvollen Vorschlag in dieser Zeit, wo immer mehr Abschottung versucht wird zu realisieren und auf die eigentlichen rechtsstaatlichen Grundsätze der EU kein Blick mehr verwendet wird."
Ob sich die Richter morgen vollständig der Haltung des Generalanwalts anschließen, ist offen. Falls ja, würden weniger Flüchtlinge ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren. Und das hätte einen positiven Nebeneffekt, sagt Sergio Carrera vom Brüsseler Forschungsinstitut CEPS:
"Das wäre auch der effektivste Weg, die Schlepper zu bekämpfen: reguläre Wege nach Europa zu schaffen. So kommt man weg vom Geschäftsmodell der Menschenschmuggler."