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"Hummerseelen, denen der Magen im Kopfe sitzt"

Fast 60 Jahre lang notierte der Hamburger Jurist Ferdinand Beneke ab 1792 täglich, was ihn selbst und die hanseatische Gesellschaft bewegte. Eine Gruppe von Wissenschaftlern arbeitet derzeit an der Herausgabe seiner Tagebücher. Sie verheißen manche neue Erkenntnis über die bürgerliche Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert.

Von Ursula Storost |
    Tagebuchaufzeichnung des Hamburger Juristen Ferdinand Beneke vom 22. Januar 1797.

    Um 10 Uhr, eingeladen zu Sievekings. Die Pracht in den Zimmern war blendend. Sonst traf ich noch da die ganze Familie Reimarus, den Dichter Klopfstock und dessen Frau – nebst dem französischen Gesandten Reinhard. Alles verräth Feinheit und Geschmack. Alles athmet Reichthum, und hohe Kultur. Alles – Luxus. Nichts für mich. Das Wesen ist mir hier zu weitläufig. Froh bin ich hier nie, so recht.

    Aus preußischen Diensten war der gebürtige Bremer 1796 aus Minden nach Hamburg gekommen. Die starren Regeln des Preußentums hatten ihn angewidert, erzählt der Historiker Dr. Frank Hatje, Privatdozent an der Universität Hamburg. Von der Stadtrepublik Hamburg erhoffte sich der glühende Republikaner Beneke Freiheit und Bürgersinn.

    "Ist in dieser besseren Hamburger Gesellschaft ganz schnell etabliert, hat aber auch Kontakte zu allen möglichen anderen. Und hat dadurch, dass ist für diese Tagebücher so spannend, einerseits diesen bisschen distanzierten Blick des Newcomers, des Emigranten, ist aber gleichzeitig drin genug, um auch die Dönekes erzählen zu können. Und das macht den großen Reiz dabei aus. Es ist immer so dieses Spiel aus Distanz und Nähe dabei."

    Frank Hatje beschäftigt sich seit 2001 mit den Beneke Tagebüchern. Er ist fasziniert und amüsiert von den Beschreibungen der besseren Hamburger Gesellschaft.

    Hummerseelen, denen der Magen im Kopfe sitzt. Pfahlbürger, die statt von republikanischen Bürgerpflichten, von diesem und jenem fremden Könige, als ihrem Abgotte mit käuendem Maule reden. Erzphilister, denen der kleinste Vorfall an der Börse, oder auf dem Markte wichtiger ist, als Thatsachen, von denen das Wohl ganzer Nazionen abhängt. Junge Hamburger der fadesten Art, deren Arroganz alle Unterhaltung beßrer Art verweigert.

    1792, als 18-Jähriger, beginnt Ferdinand Beneke mit den Tagebuchaufzeichnungen. Genauer gesagt mit der Beschriftung loser Seiten, die er in Mappen ablegte.

    Frank Hatje: "Er hat einen Vorbericht zu seinem Tagebuch geschrieben in dem er sagt, er braucht einen Freund. Er benützt das Tagebuch gewissermaßen als den Freund, den er nicht hat zu diesem Zeitpunkt. Er hat natürlich auch die ganz klassischen Motive darin, den Tag noch mal durchzugehen mit seinen Freuden, wie er es formuliert, mit seinem erlittenen Ungemach. Auch seine Fehler noch einmal Revue passieren lassen, um sich selbst zu vervollkommnen, zu verbessern. Das ist so dieser aufklärerische Anspruch, der da so mit drinsteckt."

    Bis zum 28. Februar 1848, zwei Tage vor seinem Tod, schreibt Beneke täglich mehrere Seiten. Heftet auch Briefe und Dokumente, die er empfangen hat, mit ein. Ein besessener Schreiber. Und ein Chronist seiner Zeit.

    Frank Hatje: "Juni 1792 ist praktische zeitgleich zu dem Zeitpunkt, wo die Marseillaise in Frankreich gedichtet wird, ihren Siegeszug antritt. Und 28. Februar das ist eine knappe Woche bevor die Märzrevolution losgeht in Berlin. Und es ist ein wirklich ganz seltener Glücksfall, dass wir tatsächlich 56 Jahrgänge eines Tagebuchs haben. In denen er wirklich tagtäglich geschrieben hat."

    Alle politischen Ereignisse hat Beneke kommentiert. Aus der Sicht seiner Zeitgenossen und aus seiner Sicht. Zum Beispiel, dass im Jahr 1801 manch einer Napoleon mit Christus verglich. Und auch Beneke selbst glühte vor Bewunderung für den Feldherrn.

    Möge ich mich in dem Republikaner Bonaparte nicht geirrt haben! Er tritt sicher über kurz oder lang in den Stand des simpeln Bürgers zurück. Er wird das thun, weil er die Eitelkeit besitzt, alle andren Menschen an Größe übertreffen zu wollen!

    Beneke schreibt über die beginnende Industrialisierung, die Wirren des Vormärz, über Pressefreiheit und neue Formen einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Und als Armenpfleger berichtet er über die Zustände in den Hamburger Gängevierteln.

    Diese Gänge, Höfe, Säle, usw. sind eben soviel finstre, ungesunde, elende Höhlen, in welche die Menschen, wie in Sklavenschiffen, oder Heringstonnen bey einander gepackt sind, Und es ist unglaublich, wie viel davon in einem einzigen Gange wohnen.

    Die Tagebücher erzählen auch vom Alltagsleben der bürgerlichen Familie. Manche gesellschaftlichen Zustände sind verblüffend neu, sagt die Historikerin Dr. Ariane Smith, seit zehn Jahren mit im Forscherteam.

    "Wir haben festgestellt, es gibt nicht nur reihenweise geschiedene Frauen sondern eben auch unverheiratete Töchter. Und unser Bild von der Gesellschaft ist, glaube ich, noch sehr bestimmt von der Einschätzung, die man gegen Ende des 19. Jahrhunderts getroffen hat. Da war eben die Idee, Frauen müssen verheiratet sein. Oder sie waren arme Anhängsel, die in der Familie durchgeschleppt wurden und nichts zu sagen hatten. Wir haben hier eine ganze Reihe von nicht verheirateten Frauen, die durchaus nicht armselige Anhängsel waren. Und es scheint so zu sein, dass die Gesellschaft das akzeptierte, wenn eine Frau nicht verheiratet war. Genauso wenn jemand sich scheiden ließ. Das kam so häufig vor, dass man sagen muss, es war kein Skandal."

    Ariane Smith spricht von einer Quelle, die unzählige Fenster zu einer vergangenen, bislang verborgenen Zeit aufmacht. Durch die Lektüre sei ihr klar geworden, welche engen Bande es in der Großfamilie gab, dass es schon damals Juristen gab, denen es ums Geld und solche, denen es um Gerechtigkeit ging, dass auch schon damals Menschen sich individuell verwirklichen konnten und dass Väter im beginnenden 19. Jahrhundert keineswegs die schrecklichen Patriarchen waren. Beneke hatte eine partnerschaftliche Beziehung mit seiner Frau und war ein außerordentlich liebevoller Vater.

    Ariane Smith: "Sein Interesse an den Kindern und ihrer Entwicklung ist außerordentlich groß. Da trifft er sich aber auch mit den Familien, mit denen sie engen Kontakt pflegen. Da scheint es ähnlich zu laufen."

    Faszinierend für die Historikerin sind auch die genauen Beschreibungen des ganz alltäglichen Tagesablaufs.

    "Damals aß man ja gegen vier Uhr nachmittags die Hauptmahlzeit. Vorher hatte man einen kleinen Imbiss genommen. Und dann saß man ein, zwei Stunden am Mittagstisch und es kamen ständig Freunde vorbei, die dann mit aßen. Und das war eine Runde in der man sich natürlich auch intensiv austauschen konnte. Da erlebte man dann auch die Kinder, die so groß waren, dass sie mit am Tisch sitzen konnten. Und es gab lebhafte Gespräche. Wie konsequent das durchgehalten wurde, das hab ich erst aus den Tagebüchern erfahren."

    Gegessen, erzählt Ariane Smith, wurde damals deftig und ungesund.

    "Viel zuviel Fleisch, viel zu viel Fett, viel zu viel Rotwein. Ferdinand erwähnt auch den Bremer Braunkohl. Also unseren Grünkohl, so wie wir das traditionell essen mit Wurst und Kartoffeln. Man aß sehr gerne Gans mit Maronen. Und in den Kriegsjahren, 1813/14 sieht das dann schon ganz anders aus. Da wird sukzessive die Üppigkeit zurückgefahren bis Ferdinand sich dann pro Abend nur noch ein halbes Glas Wein gönnt. Und seine Frau bekommt ein viertel Glas."

    Besonders verblüfft hat Ariane Smith die Offenheit der damaligen Hamburger Gesellschaft. Für Menschen aus anderen Regionen, war es kein Problem dazu zukommen. Sofern man einen ähnlichen Bildungsstandard hatte.

    "Und wenn man sich bewährte als jemand, der höflich war, guter Unterhalter, ein gebildeter Mensch, freundlicher Mensch, dann war man dazu geladen. Es hieß nicht, also der kommt aus Berlin, der darf hier nicht mitmachen. Oder, sein Vater war nur ein kleiner Landmann, den nehmen wir nicht auf. Die Gesellschaft war offener für Leistung als heute."

    Dass seine Tagebücher einmal für die Nachwelt von Interesse sein können, hat der Advokat, Armenpfleger und mächtige Syndikus der Hamburger Bürgerschaft schon zu seinen Lebzeiten geahnt, resümiert der Historiker Frank Hatje. Seine Schriften könnten später einmal ein "namentlich bezeichnetes Erbstück" sein, lässt Beneke wissen. Und dann wendet er sich explizit an seine posthumen Leser.

    "Wenn er das dann alles sorgfältig gelesen hat, dann wird er dermal einst, wenn er dann in den Himmel kommt, jemanden treffen, den er schon so einigermaßen kennt aus den Tagebüchern."