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Humus-Rückgang
Wurzeln, die in die Luft starren

Forstwissenschaftler warnen: Die Wälder in den Alpen und im Mittelgebirge verlieren schleichend ihre wertvolle Humusauflage. In dieser Bodenschicht steckt dunkles, organisches Material, reich an Pflanzennährstoffen. Schwindet der Humus, dann hat das Ökosystem ein Problem.

Von Volker Mrasek |
    Herbst in der Monbachtal-Schlucht im Nord-Schwarzwald
    Förster befürchten, dass die Gebirgswälder ihre Grundlage verlieren (picture alliance / dpa / Ronald Wittek)
    Der Walchensee liegt südlich von München in den Bayerischen Voralpen, auf 800 Metern Höhe, und ist ein bekannter Touristen-Magnet. Im Bergwald dort stieß Axel Göttlein zum ersten Mal auf das Phänomen:
    "Da gehe ich seit vielen Jahren mit Studenten hin. Es war immer dunkler Wald. Und auf einmal ist mir der so hell vorgekommen. Und da habe ich gedacht: Da stimmt doch was nicht! Und habe dann da Wurzeln gesehen, die nicht in der Erde sind, sondern in der Luft - in Gänsefüßchen - fliegen, schweben."
    Einst steckten sie verborgen in der Erde, wie es für Wurzeln üblich ist. Jetzt gucken sie quasi in die Luft. Ein Indiz dafür, dass der Wald seine Humusauflage verliere, so der Professor für Waldernährung und Wasserhaushalt an der TU München:
    "Der untersuchte Bestand ist einer, der löst sich im Moment auf. Das ist einer der dramatischeren Fälle."
    Und es ist keineswegs der einzige.
    "Es gibt Standorte sowohl in den Alpen - vor allem in den Kalkalpen, aber auch in den Zentralalpen -, als auch in den höheren Lagen der deutschen Mittelgebirge, wo der Humus das dominierende Medium des Bodens ist. Es ist der große Nährstoffspeicher. Es ist der große Wasserspeicher. Und es ist der Wurzelraum an sich. Und wenn dieser Humus schwindet, dann hat das Ökosystem ein Problem."
    An solchen Standorten herrschen Hartkalk oder Dolomit vor, also ein Gestein, das nur schlecht verwittert und kaum Boden bildet. Dort trägt der Fels dann nur eine Humus-Auflage. Weitere Bodenschichten, die die Bäume durchwurzeln könnten, fehlen.
    Der Wald verliert seine Grundlage
    In vielen Bergmischwäldern und reinen Fichtenbeständen auf Hartkalk oder Dolomit schwindet die Humusschicht, wie man inzwischen weiß:
    "Das macht ungefähr 40 Prozent der Waldstandorte im bayerischen Alpenraum aus. Es geht im Prinzip im Allgäu los und hört in Berchtesgaden auf. In den Mittelgebirgen haben wir vor allem die höheren Mittelgebirge. Also, in Bayern wär's der Bayerische Wald. Aber auch aus dem Schwarzwald sind Phänomene beschrieben. Auch dort wieder höhere Lagen mit Blockschutt drauf."
    Göttleins Arbeitsgruppe hat freiliegende Fichten-, Tannen- und Buchenwurzeln vermessen und zum Teil auch ihr Alter bestimmt. Das erlaubt Rückschlüsse darauf, wie lange der Humusschwund in den Bergwäldern schon andauert, so Göttlein:
    "Also, es ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte, verstärkt ein Phänomen der letzten 20 Jahre so ungefähr."
    Auf der Suche nach den Ursachen
    Doch wie kommt es, dass die Bodenauflage schwindet und immer mehr Wurzeln in der Luft hängen? Als Gründe dafür nennt Waldexperte Göttlein Umweltverschmutzung und Klimawandel. Durch den Autoverkehr und die Ausbringung von Agrar-Dünger gelangen enorme Mengen Stickstoff in die Atmosphäre. Nach Regenfällen landet ein großer Teil davon am Ende in Waldböden:
    "Das heißt, wir düngen alle Wälder. Wenn ich aber mit Stickstoff dünge, hat das vielfältige Auswirkungen. Wenn viel Stickstoff im System ist, baut sich organische Substanz besser ab."
    Ganz ähnlich wirkt die Erwärmung der Luft und des Bodens: Auch höhere Temperaturen beschleunigen die sogenannte Mineralisation, also die Zersetzung des Humus in seine einzelnen Bestandteile, die sich dabei förmlich in Luft auflösen.
    Die wertvolle Bodenauflage der Bergwälder könnte natürlich auch durch Erosion schwinden. Also dadurch, dass Wind und Regen sie nach und nach abtragen. Dagegen spricht aber, dass der Humus oft Hohlräume aufweist, die bis zu 30 Zentimeter groß sind, wie die Untersuchungen zeigten.
    "Und das heißt, das ist kein Erosionsphänomen, sondern ein Mineralisationsphänomen, weil's unter der Bodenoberfläche passiert. Und man sieht es erst überhaupt nicht."
    Stoppen lässt sich der Verlust des Humus auf jeden Fall nicht. Und ersetzen kann man ihn auch nicht, warnt Göttlein:
    "Wir haben auch mal das Alter von einem bestimmen lassen. 6.000 Jahre. Und man kann so ein Ding in relativ kurzer Zeit vernichten. Also, die Natur braucht lange, bis es da ist. Und der Mensch braucht wenig lange, bis es weg ist."
    Förster empfehlen Neupflanzungen
    Axel Göttlein hat das Problem jetzt auch in der "Allgemeinen Forstzeitschrift" beschrieben. Der Forscher empfiehlt Förstern, vermehrt Jungbäume in den betroffenen Bergwäldern zu pflanzen und so die Feinwurzel-Masse im Boden zu erhöhen. Der Humus sei dann stabiler, wie die Untersuchungen gezeigt hätten. Die große Frage ist nur, ob es für solche Maßnahmen nicht schon zu spät ist:
    "Ich bin kein Orakel, aber ich fühle mich nicht gut. Wenn ich durch Wälder gehe, wo ich meine fliegenden Wurzeln sehe, dann ist dort auf jeden Fall der Wald in Gefahr. Wenn der Humusschwund extrem ist, habe ich am Schluss Karst. Dann ist der Standort nicht mehr waldfähig."