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Hung-Min Krämer: "Alles außer Haiku"
Die Wundermomente des Alltags

Hung-Min Krämer schraubt nicht gern lange an ihren Werken herum und bedichtet auch Profanes wie Plastikverpackungen, Kondensstreifen oder Thrombosestrümpfe. Mit klarer Sprache und scharfem Blick entdeckt sie überall Poesie im Alltag. Dabei orientiert sie sich an der japanischen Haiku-Dichtung.

Buchcover: Hung-Min Krämer: „Alles außer Haiku“
Der Magie des scheinbar Gewöhnlichen auf der Spur: die Dichterin Hung-Min Krämer (Foto: privat, Buchcover: Elif Verlag)
Die Haiku-Dichtung, im Japan des 16. und 17. Jahrhunderts ausgebildet, wurde über mehrere Jahrhunderte lang ausschließlich im Land überliefert. Ob ihrer Kürze typisch für die gesamte Literatur Japans, hat sie sich heute längst zur kürzesten aller prominenten lyrischen Formen der Weltliteratur entwickelt. Strenge Regeln charakterisieren diese Dichtung, auf die bis heute immer wieder zurückgegriffen wird.

Im japanischen Urtext besteht ein Haiku aus drei Wortgruppen, die zusammen nicht mehr als siebzehn Silben umfassen. Die Verteilung der Silbenzahl auf die drei Wortgruppen ist fünf - sieben - fünf. Häufig wird im Haiku ein Naturbezug hergestellt.
Angelehnt an die strenge Form des japanischen Haiku
Wenn Hung-Min Krämer ihren ersten Gedichtband "Alles außer Haiku" nennt, könnte man zunächst annehmen, die Texte des Bandes lehnten sich gegen die dichterischen Konventionen und Regeln des japanischen Kurzgedichts auf. Wie aber passt das zu einem Gedicht wie dem folgenden?
"Im Hof geht Licht an
Wenn ich nur schlafen könnte
Mein Schatz schnarcht und schnarcht."
Hier stimmt der Bauplan des Gedichts mit dem eines Haiku überein: Denn das Gedicht besteht aus drei Wortgruppen mit siebzehn Silben in der Silbenfolge fünf - sieben - fünf. Ein Naturbezug ist aber nicht auszumachen. Was Hung-Min Krämer im Gedicht allerdings einsetzt - und was ebenfalls typisch für die Haiku-Dichtung ist - das ist der Spaß beziehungsweise die Komik. Genau das bedeutet "Haiku" nämlich in der wörtlichen Übersetzung: "Spaß, Komik". Diese Dichtung leitet sich nicht aus der aristokratischen, sondern aus der Alltagsdichtung ab.
Mal humorvolle, mal melancholische Alltagsbetrachtungen
Mit beiden Aspekten, dem Aspekt der Komik, die im eben gehörten Gedicht entsteht, indem der Zauber einer nächtlichen Szenerie durch das Schnarchen des Geliebten gebrochen wird, und mit dem Aspekt des Alltäglichen, hier des allnächtlichen Schlafrituals, ist man ganz nah am Ton von "Alles außer Haiku".

Und klar ist damit nun auch: Der Titel des Bandes ist sicherlich ein wenig ironisch gemeint. Anders gesagt: Regeln sind auch dazu da, sie zu lockern, mit ihnen zu spielen, wie mit dem Sprachmaterial selbst. Und zugleich sind Regeln für die Dichtung auch hilfreich, was im folgenden Gedicht "AUFRICHTEN, DURCHATMEN" gut zum Ausdruck kommt:
"AUFRICHTEN, DURCHATMEN
Ich richte mich auf
gegen die inneren Dämonen.
Ich lege mich hin
gegen die inneren Dämonen.
Ich atme ein
gegen die inneren Dämonen.
Ich atme aus
gegen die inneren Dämonen.
Ich setze mich auf
gegen die inneren Dämonen.
Ich nehme den Stift."
Auch hier haben wir es mit einem streng gebauten Gedicht zu tun, das in seiner mantrenartigen Selbstansprache in Anaphern -- "Ich lege mich hin" -- "Ich atme ein" -- "Ich atme aus" -- "Ich setze mich auf" -- "Ich nehme den Stift" -- das Ich im Gedicht performativ in die Rolle der Autorin drängt und einen Appell gegen die immer wiederkehrenden, die geistig-seelischen Kräfte behindernden, die "inneren Dämonen", setzt, so lange, bis sie verstummen. Mit derart einfachen Mitteln, die Krämer elegant beherrscht, entsteht oft ein reizvoller Schwebezustand. Hier geschieht das, indem der Zustand der Sprachlosigkeit in der Artikulation das Wirken dunkler innerer Kräfte diese im Gedicht bannen, aus dem Schreiben verbannen.
Unprätentiöse Gedichte ohne Wortgeklingel
Hung-Min Krämers Gedichte schauen auf Jahreszeiten, auf die Liebe in allen, auch erotischen Spielarten, wie in dem Kapitel "eine schlafende riesin". Sie schauen auf die Natur, auf die Mühen der Ebene und auf die Höhenflüge im Alltagstrott. Sie sind nicht nur nahe an der Einfachheit der japanischen literarischen Formen. In ihrer Unverstelltheit und ihren Anklängen an alltägliche Rede lassen sie sich auch verorten in den Traditionslinien der amerikanischen Beat-Poeten – oder auch denen eines Bertolt Brecht oder Erich Fried.
Die Gedichte in "Alles außer Haiku" kommen der Welt nahe und lassen sich mit ihr ein. Sie sind manchmal melancholisch, hin und wieder ein bisschen sentenziös, aber nie pathetisch oder gar verstiegen. Es sind Gedichte, die kleine Geschichten erzählen und den Blick darauf lenken, dass - in Fortführung eines Gedankens der romantischen Universalpoesie - ein Lied in allen Dingen schläft. Ihre Autorin ist eine aufmerksame und geduldige Archivarin des Besonderen im Beiläufigen. Eine, der alles Zwanghafte und Erzwungene zuwider ist.
"Gedichte
wachsen nicht auf Bäumen,
sie drängen
sich auch nicht auf.
Gedichte liegen auf der Straße,
stehen neben dir.
Lieben Thrombosestrümpfe
und die Gartentür.
Gedichte klopfen leise an
und gehen wieder weg,
manchmal kommen sie wieder;
dann lade sie ein zu bleiben."
Hung-Min Krämer: "Alles außer Haiku"
Gedichte. Elif Verlag, Nettetal. 102 Seiten, 15 Euro