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Hunger nach Wissen

In Äthiopien ist der Zugang zu Bildung bis heute ein Privileg. In jüngster Zeit jedoch hat Premier Meles Zenawi das Bildungswesen zur Chefsache gemacht und das Budget massiv erhöht. In der Folge ist die Einschulungsquote gestiegen; die Qualität des Unterrichts jedoch ist nach wie vor miserabel. Eine Möglichkeit, hier wirksam zu intervenieren, verkörpert das Projekt "One laptop per child", das jetzt an zunächst wenigen Schulen des Landes eingeführt wird.

Von Thomas Kruchem |
    Eine Schule der katholischen Kirche außerhalb Adigrats im Norden Äthiopiens. Etwa hundert Kinder in grünen Uniformen sitzen auf dem Boden eines grauen Beton-Pavillons und wiederholen Vorgesagtes. Kinder, deren Familien alltäglich ums Überleben kämpfen - berichtet achselzuckend die Lehrerin.

    "Für jeden Schüler berechnen wir pro Jahr hundert Birr, 14 Euro, Schulgebühren. Bitten wir aber die Eltern darum, die Gebühren zu zahlen, hören wir nur Klagen: "Wir haben kein Geld. Wir müssen jetzt schon unsere Kinder ohne Essen zur Schule schicken." Tatsächlich schlafen manche Kinder im Unterricht - weil sie offensichtlich morgens nichts gegessen haben. Und vor ein paar Tagen kam eine Frau zu mir und sagte, sie könne drei ihrer Kinder gar nicht in die Schule schicken - weil die zu schwach seien vor lauter Hunger."

    Äthiopien zählt zu den fünf ärmsten Ländern der Welt; 50 Prozent der rasant wachsenden Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze; die Hälfte ist unter 15 Jahre alt; und Zugang zu Bildung ist bis heute ein Privileg. Fast 40 Prozent aller Kinder besuchen keine Schule. - In jüngster Zeit jedoch hat Premierminister Meles Zenawi das Bildungswesen Äthiopiens zur Chefsache gemacht und das Budget massiv erhöht. Mit dem Geld wurden in den letzten Jahren tausende Grundschulen gebaut; die Einschulungsquote stieg auf fast 90 Prozent. Kaum investiert jedoch wurde bislang in die Qualität der Schulbildung - berichtet Bernd Sandhaas, der für den Deutschen Volkshochschulverband Erwachsenenbildung in Äthiopien organisiert.

    "Es gibt genügend Klassen, die haben 120 Schüler, hier. Und wenn Sie sich das vorstellen und die Gebäude dann mit Wellblechdach - wenn der Regen darauf trommelt, versteht kein Mensch mehr irgendein Wort des Lehrers. Hinzu kommt, dass die Ausstattung mit Schulbüchern sehr schlecht ist."

    Kein Wunder, dass die meist notdürftig ausgebildeten Lehrer völlig überfordert sind. Die meisten beschränken sich auf reinen Frontalunterricht; kopieren Texte, schreiben Regeln und mathematische Formeln aus dem Lehrbuch an die Tafel; lassen repetieren und auswendig lernen. Gelegenheit, Stoff zu hinterfragen und so die Schüler zu selbständigem Denken zu erziehen, gibt es nicht. Die Lernerfolge sind entsprechend: Nur jedes zweite Kind schließt die achtjährige Grundschule überhaupt ab; von den Absolventen sind 50 Prozent immer noch funktionale Analphabeten. Versuche, die Qualität des Unterrichts zu verbessern, werden überdies durch die Bürokratie behindert, berichtet in Addis Abeba der erfahrene Schulleiter Taklu Tafesse. Lehrer wie Schüler seien gefangen in den autoritären Strukturen der äthiopischen Gesellschaft, wo der Einzelne nur auf Befehl handelt oder mit ausdrücklicher Genehmigung; wo selbständiges Denken und Entscheiden entsprechend verpönt sind - auch und gerade im Bildungswesen.

    "Unser Bildungswesen ist traditionell darauf ausgerichtet, den Interessen der jeweiligen Regierung zu dienen - und nicht in erster Linie die Entwicklung unserer Kinder zu fördern. Das heißt: Wir erziehen unsere Kinder zu gehorsamen Untertanen - anstatt aus ihnen selbständig denkende Staatsbürger zu formen, die dann dem Gemeinwesen in vielerlei Funktion dienen könnten."

    Ein deprimierendes Bild - wären da nicht Kinder wie die achtjährige Imsaraj Ishatu, die in einer Grundschule in Addis Abeba emsig in ein kleines grünes Notebook tippt. Eine Blase mit der Frage "sechs mal vier" sinkt den Bildschirm herunter; flink gibt Imsaraj "24" ein; und ein munteres Glöckchen beschert ihr einen weiteren Punkt. - Alle 67 Schüler in Imsarajs Klasse besitzen so ein grünes Notebook, das ihnen die "Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit" GTZ zur Verfügung gestellt hat - im Rahmen eines Testprojekts. Ein Billig-Notebook voll freier Software, das derzeit 100 Euro kostet. Die Idee zu diesem Notebook hatte der amerikanische Bildungsforscher Nicholas Negroponte, erklärt GTZ-Mitarbeiter Thomas Rolf. Sein Projekt "One Laptop per child", also "ein Notebook in die Hand jedes Schülers", will Kindern in armen und autoritär strukturierten Gesellschaften helfen, sich möglichst früh Wissen selbst zu erarbeiten und so einen sonst meist ausbleibenden Quantensprung in ihrem Leben zu vollziehen - den Sprung hin zu kritisch-analytischem und kreativem Denken.

    "Man könnte sagen: Stell Dir mal einen Ball vor, den ich auf den Boden werfe. Also, der springt, bis er liegen bleibt." Was ein Kind macht, und die können das, sie setzen das um: Es wird ohne die physikalischen exakten Begriffe zu kennen, die Realität modellieren, es wird Dinge begreifen wie Gravität, Erdanziehungskraft, wie Verlust von Energie."

    In seinem Speicher hält das grüne Notebook dafür allerhand Software bereit: mit Fragen und Aufgaben angereicherte Schulbücher; Lern-Software, die zu geometrischen und physikalischen Experimenten anregt; Ausspracheprogramme, mit denen der Schüler solange "apple" und "orange" spricht, bis ein Smiley auftaucht.

    "Das Umdenken von instruierendem zu konstruierendem Erlernen ist der entscheidende Punkt in der Schule. Konstruieren heißt hinterfragen, nicht nur einfach Wissen absorbieren und auswendig lernen, sondern ausprobieren. Das ist das, wodurch kritisches Denken erzeugt wird. Kritik heißt immer eine Frage stellen: wie funktioniert das eigentlich? Wie klappt das?"

    Dafür, dass nicht bei der interessantesten Frage Schluss ist, sorgt die Ausstattung des Notebooks: Der Akku hält, aufgeladen mittels einer Solarzelle oder eines Jojos, über zehn Stunden; das Gerät besitzt keine Festplatte, sondern einen stoßunempfindlichen Flash-Speicher.

    Während Imsaraj und ihre Klassenkameraden Rechnen und Tonleitern üben, zeigt sich auch die anfangs skeptische Lehrerin Helina Dalahun begeistert über das neue Medium. In speziellen Kursen hat Helina gelernt, das neue Notebook ergänzend zum traditionellen Unterricht einzusetzen - in kritischem Dialog mit den Kindern.

    "Natürlich bereitet mir der Unterricht mit diesem Laptop eine Menge zusätzlicher Arbeit. Aber wenn ich sehe, wie der Umgang damit die Kinder verändert, ist es mir das wert. Viele, die bisher schweigend in der Bank saßen, machen jetzt begeistert mit; kaum einer vergisst seine Hausaufgaben; und die Kinder sind plötzlich unglaublich kreativ: Sie zeichnen, schreiben, konstruieren und komponieren auch in ihrer Freizeit und sind berechtigter maßen stolz auf die Ergebnisse."