"Ich habe den Titel 'Grabstein' gewählt, weil er für unumstößliches Gedenken steht. Ich hatte dabei vier Aspekte im Sinn. Ich wollte an die 36 Millionen Menschen erinnern, die verhungert sind. An meinen Vater. Ich habe den Gedenkstein aber auch für das System errichtet, das zu der Katastrophe führte, damit man die Ursachen nicht vergisst. Und schließlich sollte es auch ein Grabstein für mich selbst sein, sollte mir irgendetwas zustoßen."
Der Hunger kam nur wenige Jahre nach Ausrufung der Volksrepublik 1949. Yang Jisheng macht vor allem die politischen Veränderungen verantwortlich, die Mao Zedong damals veranlasste. Denn auf dem Weg zum Sozialismus stieß Mao permanent neue, politische Kampagnen an, etwa 1958 den sogenannten "Großen Sprung nach vorn": Grund und Boden wurden kollektiviert. Gemeinden und Dörfer zu Volkskommunen zusammengefügt. Alles, was an die kapitalistische Gesellschaft erinnerte, wurde geradezu hysterisch abgeschafft: Selbst das Kochen zuhause galt plötzlich als reaktionär, die Bauern mussten zu Gemeinschaftsküchen gehen:
Im Zuge des Aufbaus der Gemeinschaftsküchen wurden in den Bauernhaushalten die Herde abgerissen, Kochgeräte wie Töpfe, Schüsseln, Schälchen und Becher wurden samt Tischen, Stühlen und Bänken enteignet. Die Nahrungsmittel wurden in den Gemeinschaftsküchen konzentriert, Brennholz wurde in den Gemeinschaftsküchen konzentriert, Vieh und Geflügel wurden in den Gemeinschaftsküchen konzentriert gehalten. Selbst Nahrungsersatzmittel wie wildes Gemüse, das die Bauern ausgruben, musste bei den Kantinen abgeliefert werden.
Die neu eingeführten, sozialistischen Produktionseinheiten mussten damals einen Teil ihrer Ernte an den Staat abführen. Damit wurden die Städte versorgt. Die Regierung nahm vielen Kommunen aber zu viel weg, sodass für die Menschen selbst kaum etwas übrig blieb. Gleichzeitig wollte Mao Zedong die industrielle Produktion ankurbeln. Er verlangte von den Bauern, dass sie - statt auf den Feldern zu arbeiten - Stahl produzierten. In vielen Landesteilen gab es nach kurzer Zeit nichts mehr zu Essen.
Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. In Jahren mit ganz normalen Ernteerträgen, ohne Krieg und ohne Seuchen, starben Millionen Menschen hungers.
Es kam sogar zu Fällen von Kannibalismus. Doch in der politisch aufgeheizten Stimmung traute sich niemand, Kritik zu äußern. Die politischen Ideen Mao Zedongs wurden notfalls mit roher Gewalt umgesetzt. Wer auch nur leise Zweifel anmeldete, musste fürchten, geschlagen, gefoltert, umgebracht zu werden. Yang Jisheng zeigt an vielen Stellen seines Buches, wie die unumschränkte Macht des Staates zur Machtlosigkeit der Bürger führt. Sein Fazit: Das politische System an sich trägt die Schuld an der Hungersnot.
"Das politische System in China monopolisierte alle Ressourcen, auch die Informationen. Das heißt, dass der Einzelne keinen Handlungsspielraum hatte und auch weitgehend unwissend war. Als die Leute an Hunger starben, wussten sie natürlich, dass sie sozusagen Opfer anderer waren, dass sie benachteiligt waren. Aber niemand hätte jemals gesagt, dass die Politik dafür verantwortlich war. Wenn man das sagte, wurde man als Oppositioneller betrachtet."
Rund 36 Millionen Toten - die größte Katastrophe in der chinesischen Geschichte. Doch weil sie verschwiegen werden muss, wusste auch Yang Jisheng jahrelang nicht, dass der Hungertod seines Vaters alles andere als ein Einzelfall war. Erst in den achtziger Jahren wurden ihm die Dimensionen klar. Nun wollte Yang mehr erfahren: Er nutzte seine Anstellung als Journalist bei Chinas staatlicher Nachrichtenagentur Xinhua ganz bewusst und verschaffte sich Zugang zu eigentlich verschlossenen Archiven.
"Wenn ich irgendwo im Land ein Interview hatte, bin ich zwei, drei Tage länger geblieben. Ich bin dann an die örtlichen Archive gegangen und habe gesagt, ich käm von der Nachrichtenagentur und ich würde über die Reis– und Getreideproduktion recherchieren. So hat man mich in die Archive gelassen und ich konnte lesen und Berichte kopieren. Ich habe natürlich nie erwähnt, dass ich mich für die Hungerkatastrophe interessiere, denn das hätte man nicht erlaubt."
Zehn Jahre lang forschte Yang im Verborgenen. Nach seiner Pensionierung im Jahr 2001 begann er schließlich, sein Buch zu schreiben. Yang zitiert aus Tausenden Seiten eigentlich verbotenen Materials, er lässt Augenzeugen und Opfer ausführlich zu Wort kommen. Mit "Grabstein" hat er ein gewaltiges Werk erarbeitet, getränkt vom Blut, vom Schweiß und der Verzweiflung der Opfer. Es ist die erste umfassende Dokumentation über die Hungerkatastrophe aus rein chinesischer Perspektive, aufgestaute Wut über ein totalitäres System - zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Solche Inhalte wollen Chinas Machthaber natürlich nicht zulassen. Und so ist das Buch in China verboten. Immerhin: Yang Jisheng bekommt von der Regierung bisher keine Probleme. Das liegt seiner Meinung nach daran, weil er keine direkte Kritik an der jetzigen Regierung übt, sondern sich mit einem historischen Thema beschäftigt. Dennoch sehnt Yang Jisheng den Tag herbei, an dem sein Buch auch in seiner Heimat erscheinen kann. Denn es wäre ein Tag, an dem in China politische Freiheit herrscht.
Yang Jisheng: Grabstein – Mubei
Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag, 800 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-100-80023-7
Der Hunger kam nur wenige Jahre nach Ausrufung der Volksrepublik 1949. Yang Jisheng macht vor allem die politischen Veränderungen verantwortlich, die Mao Zedong damals veranlasste. Denn auf dem Weg zum Sozialismus stieß Mao permanent neue, politische Kampagnen an, etwa 1958 den sogenannten "Großen Sprung nach vorn": Grund und Boden wurden kollektiviert. Gemeinden und Dörfer zu Volkskommunen zusammengefügt. Alles, was an die kapitalistische Gesellschaft erinnerte, wurde geradezu hysterisch abgeschafft: Selbst das Kochen zuhause galt plötzlich als reaktionär, die Bauern mussten zu Gemeinschaftsküchen gehen:
Im Zuge des Aufbaus der Gemeinschaftsküchen wurden in den Bauernhaushalten die Herde abgerissen, Kochgeräte wie Töpfe, Schüsseln, Schälchen und Becher wurden samt Tischen, Stühlen und Bänken enteignet. Die Nahrungsmittel wurden in den Gemeinschaftsküchen konzentriert, Brennholz wurde in den Gemeinschaftsküchen konzentriert, Vieh und Geflügel wurden in den Gemeinschaftsküchen konzentriert gehalten. Selbst Nahrungsersatzmittel wie wildes Gemüse, das die Bauern ausgruben, musste bei den Kantinen abgeliefert werden.
Die neu eingeführten, sozialistischen Produktionseinheiten mussten damals einen Teil ihrer Ernte an den Staat abführen. Damit wurden die Städte versorgt. Die Regierung nahm vielen Kommunen aber zu viel weg, sodass für die Menschen selbst kaum etwas übrig blieb. Gleichzeitig wollte Mao Zedong die industrielle Produktion ankurbeln. Er verlangte von den Bauern, dass sie - statt auf den Feldern zu arbeiten - Stahl produzierten. In vielen Landesteilen gab es nach kurzer Zeit nichts mehr zu Essen.
Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. In Jahren mit ganz normalen Ernteerträgen, ohne Krieg und ohne Seuchen, starben Millionen Menschen hungers.
Es kam sogar zu Fällen von Kannibalismus. Doch in der politisch aufgeheizten Stimmung traute sich niemand, Kritik zu äußern. Die politischen Ideen Mao Zedongs wurden notfalls mit roher Gewalt umgesetzt. Wer auch nur leise Zweifel anmeldete, musste fürchten, geschlagen, gefoltert, umgebracht zu werden. Yang Jisheng zeigt an vielen Stellen seines Buches, wie die unumschränkte Macht des Staates zur Machtlosigkeit der Bürger führt. Sein Fazit: Das politische System an sich trägt die Schuld an der Hungersnot.
"Das politische System in China monopolisierte alle Ressourcen, auch die Informationen. Das heißt, dass der Einzelne keinen Handlungsspielraum hatte und auch weitgehend unwissend war. Als die Leute an Hunger starben, wussten sie natürlich, dass sie sozusagen Opfer anderer waren, dass sie benachteiligt waren. Aber niemand hätte jemals gesagt, dass die Politik dafür verantwortlich war. Wenn man das sagte, wurde man als Oppositioneller betrachtet."
Rund 36 Millionen Toten - die größte Katastrophe in der chinesischen Geschichte. Doch weil sie verschwiegen werden muss, wusste auch Yang Jisheng jahrelang nicht, dass der Hungertod seines Vaters alles andere als ein Einzelfall war. Erst in den achtziger Jahren wurden ihm die Dimensionen klar. Nun wollte Yang mehr erfahren: Er nutzte seine Anstellung als Journalist bei Chinas staatlicher Nachrichtenagentur Xinhua ganz bewusst und verschaffte sich Zugang zu eigentlich verschlossenen Archiven.
"Wenn ich irgendwo im Land ein Interview hatte, bin ich zwei, drei Tage länger geblieben. Ich bin dann an die örtlichen Archive gegangen und habe gesagt, ich käm von der Nachrichtenagentur und ich würde über die Reis– und Getreideproduktion recherchieren. So hat man mich in die Archive gelassen und ich konnte lesen und Berichte kopieren. Ich habe natürlich nie erwähnt, dass ich mich für die Hungerkatastrophe interessiere, denn das hätte man nicht erlaubt."
Zehn Jahre lang forschte Yang im Verborgenen. Nach seiner Pensionierung im Jahr 2001 begann er schließlich, sein Buch zu schreiben. Yang zitiert aus Tausenden Seiten eigentlich verbotenen Materials, er lässt Augenzeugen und Opfer ausführlich zu Wort kommen. Mit "Grabstein" hat er ein gewaltiges Werk erarbeitet, getränkt vom Blut, vom Schweiß und der Verzweiflung der Opfer. Es ist die erste umfassende Dokumentation über die Hungerkatastrophe aus rein chinesischer Perspektive, aufgestaute Wut über ein totalitäres System - zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Solche Inhalte wollen Chinas Machthaber natürlich nicht zulassen. Und so ist das Buch in China verboten. Immerhin: Yang Jisheng bekommt von der Regierung bisher keine Probleme. Das liegt seiner Meinung nach daran, weil er keine direkte Kritik an der jetzigen Regierung übt, sondern sich mit einem historischen Thema beschäftigt. Dennoch sehnt Yang Jisheng den Tag herbei, an dem sein Buch auch in seiner Heimat erscheinen kann. Denn es wäre ein Tag, an dem in China politische Freiheit herrscht.
Yang Jisheng: Grabstein – Mubei
Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag, 800 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-100-80023-7