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Hungersnot in Syrien
"Eltern verzichten zugunsten ihrer Kinder auf Mahlzeiten"

Die humanitäre Lage in Syrien sei so schlimm wie noch nie, sagte Konstantin Witschel, Syrien-Koordinator der Deutschen Welthungerhilfe, im Dlf. Die jüngste Militäroffensive des syrischen Regimes habe eine Million Menschen innerhalb des Landes vertrieben. Auch die Kinderarbeit habe zugenommen.

Konstantin Witschel im Gespräch mit Philipp May |
Ein syrischer Junge hält ein Plastikfass, im Hintergrund laufen Kinder mit Plastiksäcken.
Infolge der Bombardierung und der Militäroperationen aus dem Idlib-Land wurden zahlreiche Menschen vertrieben und leben nun in behelfsmäßigen Lagern für Familien (picture alliance/dpa/Anas Alkharboutli)
Nach zehn Jahren Bürgerkrieg leidet Syrien der Welthungerhilfe zufolge unter der bislang schlimmsten Hungerkrise. Mehr als zwölf Millionen Menschen – fast 60 Prozent der Bevölkerung – hätten nicht genügend zu essen. "Eltern verzichten zugunsten ihrer Kinder auf Mahlzeiten", sagte der Syrien-Koordinator der Hilfsorganisation, Konstantin Witschel, im Deutschlandfunk. Aufgrund der prekären Lage habe aber auch Kinderarbeit zugenommen. Besonders hart treffe es die Geflüchteten im Land.
"Die humanitäre Lage in Syrien ist seit Jahren katastrophal", sagte Witschel, doch sie habe sich weiter verschärft und das im gesamten Land. Zwischen Ende 2019 und Ende 2020 habe sich die Zahl der Menschen, die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, um über vier Millionen Menschen erhöht.

Militäroffensive, Pandemie und Währungsschwankungen

Ein Grund dafür sei die massive Offensive des syrischen Regimes, die Ende 2019 begonnen worden sei. Diese Offensive habe eine Million Menschen innerhalb des Landes vertrieben, zumeist in die etwas sichereren Regionen in der Nähe der türkischen Grenze. Auch die Folgen der Covid-19-Pandemie, massive Währungsschwankungen, die die Nahrungsmittelpreise zeitweise verdreifacht hätten, sowie Kälte und Starkregen setzten den Menschen zu.
Mit Blick auf die Geberkonferenz für Syrien im März und der im Juni anstehenden Verlängerung der Sicherheitsratsresolution gebe es in Kürze zwei entscheidende Termine, um die humanitäre Situation zu verbessern. Im vergangenen Jahr sei der Hilfsplan auf der Geberkonferenz allerdings lediglich zu etwas mehr als 50 Prozent gedeckt worden – und der Bedarf sei dieses Jahr noch höher. Auch für die Sicherheitsratsresolution, die Hilfsorganisationen Zugang ins Land ermöglicht, ist Witschel nicht hoffnungsvoll. Russland habe in den vergangenen Jahren immer wieder Grenzübergänge aus der Resolution genommen. Das Welternährungsprogramm versorge rund 1,3 Millionen Menschen pro Monat über einen einzigen Grenzübergang.
Die neunjährige Fatima Ahmad Mostafa, steht auf einem Bein und einer Krücke in einer Straße in einem Vorort von Idlib in Syrien. 
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Das vollständige Interview im Wortlaut:

Philipp May: Herr Witschel, Sie waren gerade in Syrien. Erzählen Sie uns: Wie sieht die Hungerkrise in Syrien aus?
Konstantin Witschel: Die humanitäre Lage in Syrien ist seit Jahren ja schon katastrophal. Allerdings hat es sich im vergangenen Jahr noch mal massiv verschärft. Wir haben vergangene Woche eines der Camps, in denen wir arbeiten, auch besucht. Als wir angekommen sind, kamen uns beispielsweise 30, 40 Kinder entgegen, die bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt Sandalen und Pullover getragen haben. Es fehlt dort in den Camps wirklich an dem aller-, allernötigsten.
Wir sind mittlerweile gerade mitten im Winter. Die Temperaturen sind gering. Die Menschen leben teilweise in Zelten, wenn man es überhaupt Zelte nennen kann. Das sind Eisenstangen, die mit Plastikplanen abgedeckt wurden. Im Moment spielt sich in der seit Jahren andauernden Katastrophe eine weitere Katastrophe ab.

"Eltern verzichten zu Gunsten ihrer Kinder auf Nahrung"

May: Und das ist noch mal eine Verschärfung zu den Jahren zuvor? Sie sind ja regelmäßig da. Ist es wirklich objektiv richtig schlechter geworden?
Witschel: Ja! Wir haben eine ganz deutliche Verschärfung vor allem im Nahrungsmittelbereich. Ende 2019 im Vergleich zu 2020 hat sich die Zahl der Menschen, die auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, um rund 4,5 Millionen Menschen erhöht, und die Bedarfe im humanitären Hilfsplan haben sich auch weiter um rund 400 Millionen Euro erhöht auf jetzt 4,2 Milliarden, die pro Jahr benötigt werden, um die humanitären Bedarfe überhaupt decken zu können. Die Kollegen von Mersiko haben kürzlich eine sehr eindrückliche Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Menschen momentan rund 160 Stunden mehr pro Monat arbeiten müssen, einen vollen Arbeitsmonat on top, um das absolute Minimum, das man zum Überleben braucht, überhaupt decken zu können. Das deckt sich auch mit unseren eigenen Erhebungen. In unseren Projektregionen sehen wir, dass eine Einkommenslücke von rund 50 Prozent pro Monat besteht, was auch dazu führt, dass die Menschen dazu übergehen, verstärkt negative Bewältigungsstrategien, schädliche Strategien anzuwenden, um damit irgendwie klarzukommen. Die Eltern verzichten beispielsweise zu Gunsten ihrer Kinder auf Nahrung. Portionsgrößen werden reduziert. Sie verschulden sich und es kommt auch mittlerweile wieder vermehrt zu Kinderarbeit, zu Zwangs- und Frühverheiratung. Die humanitäre Lage, wie sie sich in Syrien heute darstellt, ist so schlecht, wie sie bislang eigentlich noch nie war.
May: Und das ist flächendeckend? Trifft das auf ganz Syrien zu?
Witschel: Ja, es hat flächendeckend zugenommen. Es gibt natürlich je nach Regionen schon graduelle Unterschiede, aber am härtesten betroffen sind im Moment besonders die Menschen, die in vor allem den improvisierten Camps leben. Ich habe es gerade schon mal kurz erwähnt: in wirklich Behausungen, die den Namen nicht verdienen. Dazu gibt es immer wieder gerade im Nordwesten momentan Starkregen, der auch diese improvisierten Camps regelmäßig zerstört. Gerade in den letzten zwei Monaten haben rund 140.000 Leute auch noch das Allerletzte verloren, was sie überhaupt noch besaßen, durch den Regen, durch Überflutungen und so weiter. Das führt auch regelmäßig dazu, dass diese Camps gar nicht mehr erreichbar sind für humanitäre Organisationen, weil sie mit einem LKW voller Nahrungsmittelpakete nicht über eine Schlammpiste fahren können.

Witschel: Drei Gründe führten zur Verschärfung der Hungersnot

May: Nach zehn Jahren Bürgerkrieg – warum ausgerechnet jetzt diese Verschärfung? Welche Gründe gibt es dafür?
Witschel: Es kamen im vergangenen Jahr drei Sachen zusammen. Zum einen Anfang des Jahres, beziehungsweise schon begonnen Ende 2019, eine massive Offensive seitens des syrischen Regimes, im Rahmen derer rund eine Millionen Menschen intern vertrieben wurden, zumeist in die etwas sichereren Regionen in der Nähe der türkischen Grenze. Dann kam natürlich die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen dazu. Und dann Mitte des Jahres auch noch die massiven Währungsschwankungen, die die Nahrungsmittelpreise zeitweise verdreifacht haben. Es waren diese drei Ereignisse, die in der Summe dann zu dieser massiven Verschlechterung geführt haben.

"Bedingungen, in denen der Schutz vor Covid-19 nicht möglich"

May: Wie wirkt sich denn überhaupt Covid-19 aus? Ist das überhaupt ein großes Thema? Ist die Angst vor Corona zusätzlich da? Oder ist das im Prinzip angesichts der Hungersnot ein sekundäres Problem für die Menschen?
Witschel: Bislang gibt es landesweit rund 45.000 bestätigte Fälle. Ich glaube persönlich nicht, dass die Zahl auch nur im Ansatz realistisch ist, weil die Testkapazitäten einfach so gering sind, dass sie überhaupt keine realistische Zahl abbilden können.
Covid-19 – mein persönlicher Eindruck ist, sagen wir mal: Wenn Sie nicht in der Lage sind, ausreichend Nahrung zu organisieren, Ihre Familie zu ernähren, dann spielt Covid-19 in Ihrem täglichen Leben eine untergeordnete Rolle. Es bedeutet aber auch, das muss man auch so sehen, die Menschen leben unter Bedingungen, in denen der Schutz vor Covid-19, was für uns normal ist, Abstand halten, Maske tragen, Desinfektionsmittel benutzen, regelmäßig Hände waschen, nicht möglich ist.
May: Das gibt es wahrscheinlich auch alles gar nicht, Masken und Desinfektionsmittel, wo Sie jetzt waren?
Witschel: Genau, es ist kaum erhältlich. Wir machen immer wieder Verteilung von Hygiene-Kids. Die enthalten dann auch Masken, Desinfektionsmittel und so weiter und so fort. Aber die schiere Masse an Menschen, die keinen Zugang haben, das ist im Moment kaum zu händeln. Wir sind auch dazu übergegangen, in einem Projekt haben wir Frauen mit Nähmaschinen versorgt, versorgen sie auch mit Stoffen, die produzieren jetzt diesen Alltags-Mund-Nasen-Schutz. Die verteilen wir in Schulen und in öffentlichen Einrichtungen und so weiter. Aber landesweit ist der Zugang zu PPE eigentlich nicht gegeben.
May: Herr Witschel, wenn Menschen nichts zu essen haben, dann machen sie sich normalerweise auf den Weg, und zwar dahin, wo es was gibt. Was bedeutet das für die Migration nach Europa?
Witschel: Ich muss jetzt ganz ehrlich sagen, die Frage lässt sich seriös nicht wirklich beantworten. Das wäre jetzt Glaskugel-Leserei. Man kann nur so viel sagen: Die Grenzen aus Syrien in die Nachbarländer sind zu. Da kommt eigentlich niemand raus, außer er verfügt über x-tausend US-Dollar, um Schleuser zu bezahlen, was eigentlich kaum noch jemand in Syrien zur Verfügung hat.
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"Im vergangenen Jahr war der Hilfsplan für Syrien zu lediglich etwas mehr als 50 Prozent gedeckt"

May: Was müsste der Westen, was müsste vor allem Europa tun?
Witschel: Zwei Termine wären jetzt erst mal wichtig. Das ist Ende März die humanitäre Geberkonferenz für Syrien. Da werden wir einen ersten Eindruck bekommen, ob die Bedarfe dieses Jahr gedeckt werden können. Im vergangenen Jahr war der Hilfsplan für Syrien zu lediglich etwas mehr als 50 Prozent gedeckt. Ich habe es gerade schon mal erwähnt. Dieses Jahr ist der Bedarf noch mal höher. Also muss man mal abwarten, was dort passiert.
Der zweite Termin wäre die Verlängerung der Sicherheitsratsresolution im Juni, die den Vereinten Nationen erlaubt, grenzüberschreitend humanitäre Hilfe zu leisten. Da gibt es leider auch keinen wirklich Grund zu Optimismus. Russland, das ja Syrien nicht nur am Boden unterstützt, sondern auch international, hat in den vergangenen Jahren sukzessive immer wieder Grenzübergänge aus der Resolution genommen. Jetzt haben wir noch einen einzigen, über den das Welternährungsprogramm rund 1,3 Millionen Menschen pro Monat versorgt. Da bin ich nicht sonderlich optimistisch. Das müssen wir leider abwarten, was passiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.