Nach elf Tagen schwerer militärischer Auseinandersetzungen zwischen der palästinensischen Terror-Organisation Hamas und dem israelischen Militär wurde eine Waffenruhe vereinbart. Die Hamas hatte Israel mit Raketen beschossen. Die israelische Luftwaffe hatte daraufhin Ziele im Gazastreifen bombardiert. In Israel starben zwölf Menschen, im Gazastreifen mehr als 230.
Im Deutschlandfunk erklärte Andrej Hunko, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke, dass auf diese Waffenruhe nun ernsthafte Initiativen folgen müssten, die zum einen die Sicherheit Israels gewährleisteten und zum anderen den Palästinenserinnen und Palästinensern eine Perspektive geben.
Die antiisraelischen und antisemitischen Demonstrationen in den vergangenen Tage verurteilte Hunko, erklärte aber auch, dass nicht jede Demonstration antisemitisch sei.
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Gestern demonstrierten unter anderem Spitzenpolitikerinnen und Politiker unweit des Brandenburger Tores gegen Antisemitismus und für die Menschen in Israel. Haben Sie gestern mitdemonstriert?
Andrej Hunko: Nein. Ich hatte gestern andere Termine. Aber ich will erst mal sagen: Es ist natürlich jetzt gut, dass es eine Waffenruhe gibt in Israel und Palästina. Und ich glaube, dass es ganz, ganz wichtig ist, dass die Hoffnungslosigkeit in der Region durchbrochen wird. Was die Demonstrationen in Deutschland angeht, muss man natürlich genau hinschauen. Antisemitische Ausschreitungen sind zu verurteilen und auch rechtsstaatlich zu verfolgen, etwa Angriffe auf Synagogen. Aber auch nicht jede Demonstration ist antisemitisch.
Heinemann: Wie wichtig sind solche Solidaritätskundgebungen wie gestern vor dem Brandenburger Tor?
Hunko: Ich finde es wichtig, dass es Solidaritätskundgebungen gibt, auch mit Israel im Sinne von, dass es ein Existenzrecht Israels gibt, dass die Opfer auch in Israel beklagt werden. Ich finde es aber auch genauso wichtig, dass die Opfer auf palästinensischer Seite hier wahrgenommen werden und dass es da auch Solidarität gibt. Aber es darf keine Solidarität geben mit einer Fortsetzung des Krieges. Aber dieser Krieg ist ja jetzt Gott sei Dank erst mal in eine Waffenruhe übergegangen.
Heinemann: Wer ist für die Toten verantwortlich?
Hunko: Na ja, das ist ein längerer Prozess. Natürlich ist das ausgelöst worden durch die Raketenangriffe der Hamas. Dem ist aber auch vorangegangen etwa die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Teilen Ostjerusalems und Provokationen in der Al-Aqsa-Moschee. All das rechtfertigt natürlich nicht die Raketenangriffe, aber man muss natürlich die Komplexität des Prozesses sehen, und es ist jetzt, glaube ich, ganz, ganz wichtig, dass nach der Waffenruhe endlich auch wirkliche Initiativen kommen, die eine Perspektive für die Region bieten. Wenn ich jetzt höre, dass der US-Präsident Biden hier doch deutlich andere Tonalität anschlägt als sein Vorgänger Trump, dann habe ich da auch eine gewisse Hoffnung. Er verknüpft auch die Sicherheit Israels mit einer Perspektive der Palästinenserinnen und Palästinenser und da müssen natürlich jetzt entsprechende Initiativen auch kommen.
"Ich sehe die Hamas als Ausdruck der Verzweiflung"
Heinemann: Kann Israel mit einer Organisation verhandeln, die Israel als Staat auslöschen und Bürgerinnen und Bürger dieses Staates wahllos töten möchte?
Hunko: Ich bin weiß Gott kein Freund von der Hamas. Das ist natürlich ein großes Problem. Aber gleichzeitig ist natürlich die Hamas eine Realität vor Ort. Deswegen muss es auch Verhandlungen mit der Hamas geben. Das hat es ja jetzt wohl auch gegeben in der vergangenen Nacht durch die ägyptische Delegation dort, die zur Waffenruhe beigetragen haben. Aber ich finde, man muss natürlich auch Perspektiven entwickeln, die der Hamas den Boden entziehen. Ich sehe die Hamas als Ausdruck der Verzweiflung, der Verzweiflung der Abriegelung des Gazas, der Verzweiflung der Perspektivlosigkeit eines eigenen Staates, der Verzweiflung auch der Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern aus Ostjerusalem. Von daher muss man eine Strategie entwickeln, die am Ende auch eine politische Alternative für die Palästinenser ermöglicht zur Hamas.
Heinemann: Herr Hunko, schauen wir auf die Lage hierzulande. Zu den antisemitischen und antiisraelischen Straftaten in Deutschland sagte am Mittwoch die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch im Deutschen Bundestag:
O-Ton Beatrix von Storch: "Sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass jetzt die Lunte hochgeht, die Sie gelegt haben. Mit Ihrer Einwanderungspolitik haben Sie Judenhass aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert."
"Natürlich gibt es auch Antisemiten unter Zuwanderern"
Heinemann: Gestern entgegnete CDU-Kanzlerkandidat und Ministerpräsident Armin Laschet im Landtag in Düsseldorf, dass 90 Prozent der antisemitischen Straftaten rechtsextremistisch motiviert seien. Trotzdem die Frage: Hat die Zuwanderung vieler Menschen mit muslimischem Hintergrund zu mehr antisemitischen und antiisraelischen Übergriffen und Straftaten in Deutschland geführt?
Hunko: Ich finde die Verknüpfung von Zuwanderung und Antisemitismus schon problematisch.
Heinemann: Wieso?
Hunko: Ja, weil es natürlich historisch vor allen Dingen auch ein deutsches Problem gewesen ist. Natürlich gibt es auch Antisemiten unter Zuwanderern. Jetzt bei den Demonstrationen waren es ja vor allen Dingen türkische Nationalisten, die mit antisemitischen Ausschreitungen aufgetreten sind. Aber so eine generelle Assoziierung, wie das die AfD macht, von Zuwanderung und Antisemitismus halte ich wie gesagt für sehr problematisch. Man sollte jetzt nicht die Migranten für den unaufgearbeiteten Antisemitismus in Deutschland verantwortlich machen.
Heinemann: Wer waren diejenigen, die Synagogen angegriffen und israelische Fahnen verbrannt haben?
Hunko: Das waren natürlich Menschen mit Migrationshintergrund, keine Frage. Und da sage ich auch ganz klar, da muss eingeschritten werden. Das muss verurteilt werden, das muss aufgearbeitet werden. Aber eine generelle Verschmelzung von Einwanderung mit Antisemitismus, das finde ich hoch problematisch. Dann schüren wir hierzulande wiederum auch Rassismus und das will ich nicht.
Heinemann: Warum sollten Menschen, vor allem junge Leute mit muslimischem Hintergrund, weiterhin nach Deutschland kommen, wenn man damit rechnen muss, was Sie selbst gerade zugegeben haben, dass sie hier Antisemitismus verbreiten und gegen Israel gerichtete Straftaten verüben?
Hunko: Weil nicht alle Menschen mit muslimischem Hintergrund antisemitisch sind. Ich finde diese Gleichsetzung falsch. Wenn es diese Fälle gibt, dann müssen sie auch bekämpft werden, aber eine generelle Assoziierung von Menschen mit muslimischem Hintergrund und Antisemitismus, das würde ich nicht akzeptieren.
Heinemann: Und das ändert auch nicht das Geschehen der letzten Tage?
Hunko: Nein! Das ändert nicht das Geschehen der letzten Tage. Wie gesagt, das waren vor allen Dingen türkische Rechte, die da aktiv waren. Aber ich kann doch nicht jetzt alle Menschen, die hier hinkommen wollen, in den einen Topf werfen. Diese Gleichsetzung würde ich eindeutig ablehnen.
Heinemann: Aber einige schon!
Hunko: Einige natürlich schon. Aber ich sage, diese Verschmelzung, die würde ich nicht zulassen.
Heinemann: Herr Hunko, wieviel Platz ist in der Bundestagsfraktion Die Linke für Personen, die mutmaßlich antisemitischem Gedankengut eine Bühne geben möchten?
Hunko: Da ist kein Platz.
"Antisemitische Ressentiments ist nicht gleich Antisemitismus"
Heinemann: Wieso ist Heike Hänsel stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke, die in der sogenannten Toiletten-Affäre 2014 Israel-kritische Journalisten begleitet hat, die damals Gregor Gysi bedrängt haben? Diesen Journalisten hatte ja unter anderem Ihre Parteifreundin Petra Pau antisemitische Ressentiments vorgeworfen.
Hunko: Ja, das ist eine Affäre, die ist jetzt einige Jahre her. Ob man den Journalisten als antisemitisch bezeichnen würde, weiß ich jetzt nicht genau. Ich kenne ihn auch nicht so gut. Aber ich kenne Heike Hänsel sehr gut.
Heinemann: Wie gesagt, Petra Pau sprach von antisemitischen Ressentiments.
Hunko: Ja, sie sprach von antisemitischen Ressentiments. Das ist eine Meinung in der Fraktion. Antisemitische Ressentiments ist auch nicht gleich wie Antisemitismus, fest verankerten Antisemitismus.
Heinemann: Das klingt aber jetzt verharmlosend.
Hunko: Bitte!
Heinemann: Das klingt jetzt ziemlich verharmlosend.
Hunko: Nein! – Ich kenne Heike Hänsel sehr, sehr gut. Ich arbeite seit vielen Jahren mit ihr zusammen. Ich habe von ihr noch nie irgendwo eine Relativierung auch des Antisemitismus wahrgenommen. Von daher halte ich das für nicht repräsentativ.
Heinemann: Im Juni 2011 – bleiben wir in der Vergangenheit – fasste die Linksfraktion einstimmig den Beschluss gegen die Unterstützung für Boykott-Aufrufe gegen israelische Waren. In Ihrem Wikipedia-Eintrag, Herr Hunko, ist zu lesen: "Die Einstimmigkeit wurde nur dadurch erreicht, dass Hunko und 14 andere Fraktionsmitglieder der Abstimmung fernblieben und zuvor den Sitzungssaal verließen." – Wieso haben Sie sich an dieser Abstimmung nicht beteiligt?
Hunko: Das hatte was zu tun mit der Art und Weise dieser Diskussion. Das habe ich damals auch erklärt. Es hatte weniger mit dem Inhalt zu tun. Aber ich empfand das Ganze, die Herstellung dieser Resolution vor zehn Jahren, nicht wirklich Ergebnis eines demokratischen Prozesses und deswegen habe ich mich damals mit einigen anderen an der Abstimmung nicht beteiligt.
Heinemann: Wie bewerten Sie Boykott-Aufrufe gegen israelische Waren etwa der BDS-Kampagne?
Hunko: Ich würde das in Deutschland nicht machen. Ich würde aber auch gleichzeitig nicht sagen, dass international alle diese Boykott-Aufrufe per se schon antisemitisch sind. Aber in Deutschland finde ich es vor dem Hintergrund der Geschichte nicht zielführend.
Heinemann: Der Deutsche Bundestag verurteilte im Mai 2019 die Boykott-Aufrufe gegen Israel und bewertet den BDS als antisemitisch. Warum Sie nicht?
Hunko: Ja, weil das in dieser Generalität meines Erachtens nicht zutrifft. Wir haben als Linksfraktion meiner Erinnerung nach da nicht zugestimmt, weil eine viel zu weit gefasste Definition zugrunde lag, und deswegen haben wir da nicht zugestimmt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.