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Hymnen-Protest
Eine Frage der Ehre

In den USA hat die NFL-Saison begonnen. In der Vorbereitung sorgte Football-Profi Colin Kaepernick von den San Francisco 49ers für Aufsehen. Der schwarze Quarterback hatte während der Hymne still protestiert und damit eine Debatte entfacht. Wenn auch nicht über sein eigentliches Anliegen – der Polizeibrutalität gegenüber ihren schwarzen Landsleuten.

Von Jürgen Kalwa |
    Der Quarterback der San Francisco 49ers, Colin Kaepernick, kniet während der Nationalhymne.
    Der Quarterback der San Francisco 49ers, Colin Kaepernick, kniet während der Nationalhymne. (AP / Chris Carlson)
    Das Ritual ist immer das gleiche. In jeder Schule, wo die Kinder morgens ein Gelübde auf die Fahne ablegen.
    "I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and to the republic for which it stands..."
    Und vor jeder Sportveranstaltung – egal ob in den riesigen Arenen im Football, Baseball, Basketball oder in der Provinz beim Junioren-Eishockey. Dem Nationalstolz "made in USA" kann man nicht entrinnen.
    Aufstehen, Kopfbedeckung abnehmen, still stehen, Blick Richtung Sternenbanner. Das ähnelt einem Akt der Gehirnwäsche. Was spätestens dann deutlich wird, wenn jemand wagt, dagegen zu protestieren.
    Black-Power-Gruß 1968
    Wie bei den Olympischen Spielen 1968, als Tommy Smith und John Carlos bei der Siegerehrung ihre Fäuste zum Black-Power-Gruß in die Höhe reckten. Die beiden Amerikaner wurden gesperrt und geächtet. Das kann auch noch heute passieren. Beispiel: Football-Profi Colin Kaepernick von den San Francisco 49ers. Der blieb bei einem Saisonvorbereitungsspiel seiner Mannschaft beim Abspielen der Hymne einfach sitzen. Beim nächsten Mal kniete er. Sein Bestreben:
    "Dieses Land steht für Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Aber das gilt derzeit nicht für alle."
    Jedes Jahr würden unbewaffnete Menschen grundlos von amerikanischen Polizisten erschossen. Aber ohne je zur Verantwortung gezogen zu werden, sagte der 28-jährige Quarterback, Sohn eines afroamerikanischen Vaters und einer weißen Mutter.
    Proteste weiterer Sportler
    Andere Sportler zeigten sich solidarisch. Darunter die – weiße – Fußballnationalspielerin Megan Rapinoe. Bei einem Spiel der National Women’s Soccer League kniete sie, statt zu stehen, während die Hymne erklang.
    Die öffentliche Plattform, die Sportstars haben, taugt theoretisch wie kaum eine andere, um auf Probleme hinzuweisen, die andernfalls nicht den Stellenwert erhalten, den sie verdienen. Was die Athleten allerdings bislang mit ihren Aktionen erreicht haben, ist eher paradox. Statt um das eigentliche Thema – den alltäglichen Rassismus und die Brutalität der Polizei – geht es um eine Stilfrage: Sicher, jeder dürfe protestieren, meinten viele, darunter auch hochbezahlte Athleten quer durch alle Sportarten, aber doch nicht so. Das Zeremoniell sei schließlich quasi heilig. Denn es erinnere unter anderem an amerikanische Soldaten, die für das Land in den Krieg gegangen und gefallen seien.
    Präsident Obama mahnte vergeblich, dass Kaepernicks Verhalten verfassungsgemäß sei und ging sogar noch weiter: Kaepernick habe auf ernsthafte Weise Probleme angesprochen, über die geredet werden müsse.
    Kritik der Polizei
    Das sieht etwa die Polizeigewerkschaft von San Francisco ganz anders. Sie erklärte, der Quarterback der 49ers habe sich selbst, den Club und die ganze Liga beschämt. Er wisse gar nicht, wovon er rede, und sein Faktenwissen ginge gegen Null.
    Polizisten in Minneapolis verließen ein Frauenbasketballspiel, das sie eigentlich schützen sollten, nachdem sich die Spielerinnen mit T-Shirts für die Rechte von Schwarzen eingesetzt hatten.
    "Ich bin überrascht, dass Kaepernick noch nicht öffentlich gehängt worden ist, und zwar im übertragenen Sinne",
    sagt Professor John Hoberman von der University of Texas, der "Darwin’s Athletes" geschrieben hat, eine Abhandlung über Rassismus im amerikanischen Sport. Aber es gäbe wohl eine gewisse Ambivalenz ihm gegenüber. Dazu gehört, dass intelligente Menschen den Komplex "Polizeigewalt" ernst nähmen.
    "Das schützt Kaepernick vor noch mehr Gegenwind, als ihm ohnehin entgegengeweht ist."
    Werden wir mehr Proteste von Sportlern in Amerika erleben?
    "Kann sein, aber wenn dann nur eine kleine Zahl. Ich glaube, es sind nur wenige Athleten geistig darauf vorbereitet, in Colin Kaepernicks Fußstapfen zu treten."
    Und der US-Sport ist es auch nicht: Bei einem Spiel der Frauenfußball-Profiliga in Seattle wurde die Hymne sicherheitshalber intoniert, als die Spielerinnen noch in der Kabine waren. Es geht die Sorge um vor weiteren Eklats. Sicher ist sicher.