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Hype oder Hoffnung?

Die Krebsbehandlung stagniert. Von den traditionellen Behandlungsmethoden ist kein Durchbruch mehr zu erwarten. Doch nun sorgt eine neue Idee für Schlagzeilen: Maßgeschneiderte Mittel sollen im Kampf gegen den Krebs eingesetzt werden, Mittel, die sich nur gegen die kranke Zelle richten und nicht gegen die gesunden Körperzellen.

Von Martina Keller |
    Wiestler: " Der große Schritt bei der Targeted Therapy ist der, dass diese Behandlungen das Problem bei der Wurzel zu packen versuchen ... das ist eine völlig neue Basis der Behandlung von Krebs, ... wir werden nicht in jedem Fall heilen, aber es geht darum, den Krebs in eine chronische Krankheit umzuwandeln, mit der die Patienten sehr gut leben können.... "

    Patientin: " Ja das war gerade diese abgeschlossene Studie, und Dr Kretschmar hat da mit gewirkt und ein paar Ärzte vermute ich auch, und er hat mich darüber informiert, das wäre die beste Therapie, eben diese neue revolutionäre, die brandneu war und alle begeistert waren, also diese mit Herzeptin."
    Ludwig Kas:" An neue zielgerichtete Therapiestrategien wurden große Hoffnungen geknüpft, weil man sich versprach sehr viel spezifischer Tumorzellen zu attackieren und zu vernichten. Leider haben sich die Hoffnungen bei den meisten Medikamenten bis heute nicht erfüllt, es gibt wenige Ausnahmen, aber für die meisten Medikamente steht der Beweis noch aus, dass sie einen eindeutigen Vorteil gegenüber der herkömmlichen Chemotherapie bringen."
    Eine neue Therapierichtung sorgt für Schlagzeilen - nicht nur in medizinischen Fachzeitschriften. Von einer Revolution in der Krebsbehandlung ist da die Rede, von Durchbrüchen und Meilensteinen. Es geht um die Targeted Therapy, zu Deutsch zielgerichtete Behandlung. Sie soll Probleme lösen, die einer Heilung von Krebs bislang im Wege stehen.

    " Da ist es ja so, dass wir über Jahrzehnte eigentlich drei Behandlungsmöglichkeiten gegen Krebs hatten ..."

    Otmar Wiestler ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg.

    "... das eine ist eine Operation, wenn eine Geschwulst sich chirurgisch entfernen lässt, das zweite die Bestrahlung und drittens Zytostatika, die jede Zelle abtöten können, und das Problem der Behandlungen liegt trotz der Erfolge darin, dass die Bestrahlung und die Zytostatika eigentlich nicht gezielt gegen Krebs gerichtet sind."
    Bestrahlung und Chemotherapie vernichten auch gesunde Zellen, vor allem schnell wachsende wie Schleimhäute oder Knochenmark. Was den Kranken heilen soll, schadet ihm zugleich, manchmal so sehr, dass eine Therapie abgebrochen werden muss.
    Mit den neuen zielgerichteten Medikamenten soll das anders werden.

    " Da man in der Krebsforschung in den letzten 20 oder 30 Jahren enorm viel darüber gelernt hat endlich, warum Zellen anfangen zu wuchern, welche Moleküle in der Zelle dafür verantwortlich sind, da hat man jetzt auch Targets oder Ansatzpunkte gefunden, um solche gezielten Medikamente zu entwickeln, das sind Medikamente, die zum Beispiel Schalter in der Zelle gezielt treffen, die der Zelle ständig signalisieren, du musst wachsen."

    Hoffnung setzt man vor allem auf die monoklonalen Antikörper. Das sind große, in Zellkultur hergestellte Moleküle, die an den krankmachenden Strukturen auf der Oberfläche von Krebszellen andocken sollen. Das Ziel ist, zum Beispiel Wachstumsfaktoren zu blockieren, die Zellen wuchern lassen, oder zu verhindern, dass der Tumor neue Blutgefäße ausbildet, die ihn mit Nährstoffen versorgen. Daneben gibt es so genannte kleine Moleküle, die durch pharmakologische Tests aus den riesigen Bibliotheken chemischer Substanzen herausgesucht werden. Weil sie sehr klein sind, können sie in die Zelle eindringen und dort Eiweiße blockieren, die mit der Tumorbildung in Verbindung stehen.

    Rund 400 zielgerichtete Medikamente sind bereits in der Entwicklung. Ein knappes Dutzend Wirkstoffe sind für die Krebstherapie zugelassen.

    " Ein berühmtes Beispiel mittlerweile für ein gezieltes Medikament ist das Medikament Glivec, das von Novartis hergestellt wird, das ist ein ganz kleines chemisches Molekül, ein sogenanntes Small Molecule, das die Funktion hat, ein Enzym in seiner Aktivität zu unterdrücken, was in Blutkrebszellen vermehrt gebildet wird, in so genannten Leukämien, weißem Blutkrebs."

    " Naja, und als ich das Ergebnis hörte, dachte ich, mal gucken, was draus wird, du musst versuchen, das Beste draus zu machen, ich hab auch nicht geweint und nicht gefragt, warum ich - die Fragen hab ich mir nicht gestellt, ich hab's akzeptiert."

    Waltraud Sander erfuhr durch eine Routineuntersuchung, dass ihr Blutbild nicht in Ordnung war. Eine Knochenmarkpunktion brachte Gewissheit: Sie war an Chronischer Myeloischer Leukämie erkrankt.

    Bei dieser Krankheit sorgt ein fehlerhaftes Gen dafür, dass die so genannte Tyrosinkinase gebildet wird. Dieses Enzym ist, anders als das normale Eiweiß in den Zellen, ständig angeschaltet und bewirkt, dass vermehrt weiße Blutkörperchen gebildet werden. Weil der Unterschied zu gesunden Zellen gering ist, verläuft die Krankheit lange Zeit ohne Symptome. Bleibt die Leukämie allerdings unbehandelt, tritt sie nach durchschnittlich drei Jahren in die akute Phase. Dann geht es den Erkrankten dramatisch schlechter, und sie sterben innerhalb weniger Wochen. Die einzige Möglichkeit, die Chronische Myeloische Leukämie zu heilen, ist bislang die riskante und mitunter tödliche Knochenmarkstransplantation.

    Waltraud Sander wog gemeinsam mit ihrem Arzt ab, ob sie sich für diese Behandlung entscheiden sollte.
    " Ich sag, welche Chance hab ich denn, wie lange würde ich denn noch leben. Ja, sachter, dat kann man alles nicht vorher sagen, es kann drei Jahre, es kann vier Jahre, es kann auch länger sein. Ja, sach ich, wenn ich jetzt weiß, ich kann noch drei Jahre leben, dann würde ich ja wie auf'm Pulverfass sitzen. Dann würde ich also lieber die Knochenmarkstransplantation machen, und wenn ich die nicht überlebe, dann hab ich Pech gehabt. "

    Tatsächlich fand sich ein Spender, der von den Gewebemerkmalen geeignet war. Doch wenige Wochen vor dem Transplantationstermin sprang er ab. Ein Schock für Waltraud Sander. Gründlich wie es ihre Art ist, hatte sie sich auf die Behandlung vorbereitet: Nachthemden und Unterwäsche besorgt, die gekocht werden konnten, weil sie auf der Isolierstation liegen würde. Bücher, Fotos und CDs zurecht gelegt. Eine Perücke gekauft, genau in ihrem Haarton, mit Strähnchen, da sie ihre Haare verlieren würde. Nun blieb ihr nur die medikamentöse Behandlung.

    Lange Zeit war Interferon das Standardmittel, es heilt die Leukämie nicht, sondern bremst sie nur: Nach fünf Jahren leben noch rund 60 Prozent der Patienten.

    Doch die heute 58jährige Waltraud Sander hatte Glück. Seit 2002 gibt es mit Glivec eine neue vielversprechende Therapiemöglichkeit. 400 Milligramm nimmt sie täglich zu sich, seit drei Jahren schon.

    " Es gibt jetzt so ein Verfahren, da hat man mir noch mal mehr Blut abgenommen und die machen da so ne besondere Blutuntersuchung, und da hat man also festgestellt, dass diese Tabletten greifen und keine kranken Krebszellen im Moment mehr da sind. Aber das Problem ist wohl noch diese Stammzelle, die diese Leukämie produziert, ich gehe davon aus, wenn man die Tabletten absetzt, dass das genau so schlimm wird wie vorher. "

    Trotz der schlummernden Krankheit geht es Waltraud Sander gut. Sie arbeitet in einem Werk für Gasturbinenbau, drei Tage die Woche, wie vor der Diagnose. Wenn sie ihr Medikament weiterhin einnimmt, hat sie durchaus Chancen, den Krebs in Schach zu halten.

    Die gute Nachricht wurde beim diesjährigen Krebskongress in den USA verbreitet: Fünf Jahre nach Therapiebeginn leben noch 90 Prozent der Patienten. Eher unwahrscheinlich ist allerdings, dass die Kranken vollständig geheilt werden können - die Ursprungszelle des Krebses wird durch die Behandlung nicht zerstört. Überdies entwickeln einige Betroffene Resistenzen, das Medikament verliert also seine Wirksamkeit. Und jüngst wurde bekannt: In seltenen Fällen kann das Mittel die Herzmuskeln von Patienten schädigen.
    Dennoch, das Beispiel ist hoffnungsvoll.

    " Imatinib oder der Firmenname Glivec ist sicherlich einer der wenigen echten Durchbrüche, die durch zielgerichtete Therapiestrategien erreicht werden können…. "

    Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig ist Chefarzt am Helios-Klinikum in Berlin-Buch und Mitglied der deutschen Arzneimittelkommission.

    "... das kann man wissenschaftlich sehr gut begründen, weil in der Erkrankung, gegen die Imatinib eingesetzt wird, die chronische myeloische Leukämie, sich eine genetische Veränderung findet, die für das bösartige Wachstum verantwortlich ist, und genau diese genetische Veränderung wird durch Imatinib attackiert. Das lässt sich nicht ohne weiteres auf andere Tumorerkrankungen übertragen, weil bei den meisten anderen Tumorerkrankungen komplexe genetische Veränderungen in den Tumorzellen vorliegen und wir im Augenblick überhaupt noch nicht wissen, welche dieser genetischen Veränderungen verantwortlich sind für das bösartige Wachstum. "

    Weil das Ziel der Attacke bei der chronischen myeloischen Leukämie so klar ist, sprechen nahezu alle Patienten auf die Therapie an. Damit ist Glivec eine Ausnahme unter den zielgerichteten Medikamenten. Nicht selten kommt es vor, dass nur zehn oder 20 Prozent der behandelten Patienten auf ein Präparat reagieren. Dann kommt es darauf an, genau diese Patienten herauszufinden, um überflüssige, womöglich schädliche und sehr teure Therapieversuche zu vermeiden. Bei dem Brustkrebsmedikament Herceptin ist das gelungen.

    " Man hat vor schon etwa 20 Jahren festgestellt, dass bei einem Viertel der Brustkrebspatientinnen eine bestimmte Oberflächenstruktur auf den Tumorzellen gehäuft vorkommt, das ist das so genannte Her 2, und Herzeptin wurde als Antikörper gegen dieses Her 2 ... entwickelt."

    Man packt die Tumorzelle also an ihrer Antenne für ungehemmtes Wachstum. Ute Riedel ist Teamleiterin Gynäkologie beim Pharmakonzern Roche. Das Unternehmen hat früh auf die zielgerichtete Krebstherapie gesetzt. Vier Wirkstoffe von Roche sind bereits auf dem Markt. Für das Medikament Herceptin hat das Unternehmen auch gleich einen Test entwickelt. Er soll die Patientinnen identifizieren, die den Her 2 Rezeptor, also die Wachstumsantenne, auf ihren Tumorzellen im Übermaß besitzen. Bei diesen Frauen - jede fünfte Brustkrebspatientin gehört dazu - ist der Krebs besonders aggressiv, und das Rückfallrisiko erhöht.

    Würde Herceptin den Frauen helfen können? In den 90er Jahren begann man, das zu untersuchen.

    " In der Krebsbehandlung ist es ja so, dass man fast immer bei Patienten anfängt, die sehr fortgeschritten sind, wo man keine anderen Ansätze mehr findet, dort setzt man das zum ersten Mal ein, so eben auch beim metastasierten Brustkrebs ... Die Standardanwendung in der metastasierten Situation ist die Kombination mit einem Taxan, aber eingesetzt werden auch andere Zytostatika in der Kombination, wo's dann Daten gibt, einfach weil Patienten ein Taxan ablehnen und dann entscheidet der Arzt, in Ordnung, wir nehmen ein anderes Zytostatikum."

    Die bewährte Behandlung bei fortgeschrittenem Brustkrebs war Chemotherapie. Doch Herceptin erweiterte das Spektrum der Möglichkeiten: Zusammen mit Chemotherapie verlängerte es die Lebenszeit der Patientinnen um knapp fünf Monate. Nun kam der nächste Schritt: Würde das Medikament auch Frauen mit frühem Brustkrebs etwas nützen?

    " Ja das war gerade diese abgeschlossene Studie, und Dr Kretschmar hat da mitgewirkt und ein paar Ärzte vermute ich auch, und er hat mich darüber informiert, das wäre die beste Therapie, eben diese neue revolutionäre, die brandneu war und alle begeistert waren, also diese mit Herzeptin."

    Julia Leandros, die ihren wahren Namen nicht nennen möchte, erkrankte im April 2005 an Brustkrebs. Die 55jährige ist eine Frau, die großen Wert auf ihr Äußeres legt. Sorgfältig wählt sie ihre Kleidung, ihre Kosmetik. Ihre Brust wollte sie um keinen Preis verlieren. Die Ärzte mussten ihr vor der Operation schriftlich versichern, dass sie nicht abgenommen würde. Glücklicherweise hatte der Krebs noch keine Tochtergeschwülste gebildet, er wurde im Frühstadium entdeckt. Aber Julia Leandros hatte den gefährlichen Her 2 Rezeptor auf ihren Tumorzellen. In dieser Situation riet ihr Arzt zur Behandlung mit Herceptin.

    Allerdings war das Medikament seinerzeit für frühen Brustkrebs noch nicht zugelassen. Doch vorläufige Studienergebnisse, vorgestellt auf dem amerikanischen Krebskongress 2005, hatten in Fachwelt und Publikumsmedien Euphorie ausgelöst. Eine neue Ära, titelte überschwänglich der Stern. Einige Patientinnen zogen sogar vor Gericht, um durchzusetzen, dass ihre Krankenkassen die Behandlungskosten übernähmen. Einige mit Erfolg, andere nicht. Julia Leandros bekam die Therapie als Privatpatientin bezahlt.

    " Es sind weltweit vier große Studien gelaufen mit etwa 15000 Patientinnen, zwei davon in den USA und zwei in Europa, Australien, Kanada, Südamerika. Die Basis für die europäische Zulassung ist die so genannte Herastudie, dafür hat Deutschland am meisten rekrutiert, 900 Patientinnen ... ergänzt wird diese Zulassung durch Daten der zwei großen amerikanischen Studien - Was war denn das Ergebnis der Studien? - Über alle hinweg ein ähnliches Ergebnis, eine 50prozentige Reduktion des Rückfallrisikos der jeweiligen Patientin."

    In absoluten Zahlen bedeutet das: Statt 17 von 100 Frauen erlitten nur noch 9 von 100 Frauen einen Rückfall, wenn sie mit Herzeptin behandelt wurden. Das macht einen Unterschied von acht Prozentpunkten. Erste Daten deuten zudem darauf hin, dass die Frauen nicht nur später einen Rückfall erleiden, sondern auch länger leben. Im Juni 2006 ließ die Europäische Arzneimittelbehörde Herceptin für die Therapie des frühen Brustkrebs zu.
    Der Erfolg hat allerdings seinen Preis.

    " Also Herceptin, hat man mir gesagt, dass es nicht viele Nebenwirkungen gibt, nur diese eine mit den Herzmuskeln. Jedes zweite Mal, als ich Herceptin bekam, ist ein Herzecho gemacht worden, also alle sechs Wochen und somit hat man das immer unter Kontrolle gehabt und hat die Werte verglichen ob das schlechter wurde oder besser oder gleich bleibend und somit hat man dann das letzte Mal, bevor diese Unterbrechung gab, hieß es, nee, das ist zu gefährlich wir hören jetzt auf…"

    Bei Julia Leandros sank die Funktion der Herzmuskeln zwischenzeitlich auf 45 Prozent. Die sonst eher temperamentvolle Frau war infolge der Behandlung so schwach, dass sie kaum noch laufen konnte. Für zwei Monate musste sie das Medikament absetzen. Dann hatte sich ihr Herz soweit erholt, dass sie weitermachen konnte. Die 55jährige war von ihren Ärzten auf diese Nebenwirkung vorbereitet worden.

    Schon bei der Behandlung des fortgeschrittenen Brustkrebs hatte man festgestellt, dass Herceptin Herzprobleme verursachen kann, 13 Prozent der Frauen waren seinerzeit betroffen. Deshalb schloß man in den Studien zum frühen Brustkrebs vorbelastete Frauen von der Therapie aus. Dennoch, die Auswertung der beiden amerikanischen Studien bestätigte: durch Herceptin mit dem Wirkstoff Trastuzumab besteht das Risiko einer Herzschädigung.

    "18 Prozent der Patientinnen mussten die Therapie mit Trastuzumab vorzeitig beenden, entweder weil sich ihre Herzmuskelfunktion verschlechtert hat unter der Therapie, oder weil Zeichen der Herzmuskelschwäche aufgetreten sind und die Leistungsfähigkeit der Patientinnen abgenommen hat. Diese Zahlen verdeutlichen, dass etwa ein Fünftel der Patientinnen, die mit Trastuzumab behandelt wurden, dieses Medikament schlecht vertragen hat. Und sie zeigen auch, dass wir eine sehr viel längere Beobachtungszeit brauchen, bevor wir die herzmuskelschädigende Wirkung dieses Antikörpers endgültig beurteilen können."
    Dabei hatte man gehofft, die gezielte Therapie wäre anders als etwa die Chemotherapie gut verträglich und weitgehend frei von Nebenwirkungen. Schließlich sollen nur die kranken Zellen attackiert werden. Doch die fein säuberliche Trennung zwischen krank und gesund gelingt offenbar nur in der Theorie.

    " Das Problem ist nur, die Krebszelle hat in der Regel keine eigenen Strukturen entwickelt, "

    Sprecherin
    Wolfgang Dietrich ist Geschäftsleiter Onkologie und Hämatologie der Firma Roche.

    " das heißt die Krebszelle nutzt die Strukturen, die eine normale Zelle hat, aus, so dass ich in der Regel Schwierigkeiten haben werde, einen Antikörper oder Struktur zu entwickeln, die spezifisch auf die Krebszelle wirkt, weil die immer auch normale Zellen in Mitleidenschaft zieht. Was es aber gibt sind quantitative Unterschiede, d.h. auf der Krebszelle sind bestimmte Strukturen um das 100 oder 1000fache ausgeprägt im Vergleich zu normalen Zellen, und da kann ich ... therapeutische Erfolge landen."

    Auch die gezielte Therapie hat ihre Risiken - nur andere als die bisherige Krebsbehandlung.

    " Diese Wirkstoffe schädigen unterschiedliche Organe wie zum Beispiel die Lunge, das Herz, den Verdauungstrakt, aber auch das zentrale Nervensystem. Das Problem ist, dass viele dieser Nebenwirkungen im Rahmen der klinischen Studien nicht aufgetreten sind, weil nur eine kleine Zahl von Patienten behandelt wurden und wir sehr viel sorgfältiger nach Zulassung auf mögliche Nebenwirkungen achten müssen und unsere Aufmerksamkeit sehr viel stärker auf diese Nebenwirkungen richten müssen. "

    Werbe-CD zu Avastin: " Der Vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor VEGF spielt eine entscheidende Rolle bei der Neoangiogenese, dem Wachstum neuer Blutgefäße, die u.a. für die fötale Entwicklung lebensnotwendig ist. Man weiß, dass VEGF auch bei der tumorbedingten Gefäßneubildung eine zentrale Rolle spielt. ...VEGF, das vom Tumor freigesetzt wird, ... regt das Wachstum und die Entwicklung von neuen Blutgefäßen an, eine wichtige Voraussetzung für das Tumorwachstum und die Metastasierung ..."

    Manche Konzepte der zielgerichteten Therapie klingen einfach genial. Zum Beispiel die Idee, einen Tumor auszuhungern, indem man ihm die Nährstoffzufuhr abschneidet.

    " Durch die Entwicklung eines Antikörpers speziell gegen VEGF ist es nun möglich, diesen wichtigen Stimulator der Gefäßneubildung zu blockieren, dadurch wird der Signalübertragungsweg unterbrochen, der es dem Tumor erlaubt, weiter zu wachsen. ...Eine völlig neue Strategie in der Krebsbehandlung. "

    Das von Roche vermarktete Medikament Avastin, Wirkstoff Bevazicumab, ist das erste Präparat gegen die Neubildung von Blutgefäßen, das die Marktzulassung bekommen hat. Der Weg dorthin war mühsam. Noch vor drei Jahren schien es, als sei das Mittel ein Fehlschlag und jahrelange Entwicklungsarbeit umsonst. Wolfgang Dietrich von Roche:

    " Die erste Studie, die publiziert wurde, war 2003, das war bei Brustkrebs, da gab es keinen Unterschied, damit war das Produkt eigentlich tot. Dann gab's noch ne zweite Studie und plötzlich kam der deutlichste Überlebensvorteil raus, den man bei Darmkrebs je gesehen hat. Wenn das auch negativ gewesen wäre, wäre das Produkt erledigt gewesen."

    Doch Avastin hatte sich bewährt: Laut einer amerikanischen Studie lebten die damit behandelten Patienten im Durchschnitt fünf Monate länger. Die Erfolgsbilanz hat allerdings einen Makel. Avastin war mit einer Therapie verglichen worden, die heute nicht mehr der Standard ist. Die derzeit bestmögliche Behandlung aber kommt auf ein ebenso gutes Ergebnis wie Avastin. Dennoch wurde Avastin Anfang 2005 für die Behandlung des fortgeschrittenen Darmkrebses zugelassen. Otmar Wiestler vom Deutschen Krebsforschungszentrum hält die Entscheidung für vertretbar.

    " Gerade bei Krebs ist die Situation immer noch verzweifelt und jedes Medikament, das einen Schritt nach vorne bringt, ist begehrt, die Frage ist, etwa bei Avastin: Was ist wirklich der große Schritt nach vorne... Avastin ist in der Tat kein Durchbruch, die Verlängerung der Überlebenszeit liegt bei vier oder fünf Monaten, ich will es auch nicht klein reden, wenn Sie selbst in der Hülle eines Krebspatienten stecken, sind fünf oder sechs Monate mit hoher Lebensqualität ein echter Erfolg, aber natürlich ist das kein Durchbruch, es muss dringend weitergearbeitet werden, Avastin verhindert das Einsprießen von Blutgefäßen, es wird also bestenfalls verhindern, dass die Geschwulst weiter wächst."

    Ein Meilenstein ist Avastin vorerst nur in ökonomischer Hinsicht. Innerhalb kürzester Zeit hat sich das Medikament zu einem Blockbuster mit über einer Milliarde Euro Umsatz entwickelt. Das liegt nicht nur an der hohen Zahl von Darmkrebspatienten, sondern auch am Preis. Die jährlichen Behandlungskosten mit Avastin belaufen sich auf 40 000 Dollar - pro Patient. Überhaupt zählen die Präparate der gezielten Therapie zu den teuersten Produkten des Pharmamarkts.

    " Und es ist ganz klar, dass die pharmazeutische Industrie ein enormes Interesse hat, diese Substanzen, die zum Teil in der Entwicklung auch einiges Geld gekostet haben, natürlich dann auch dieses Geld so schnell wie möglich wieder einzuspielen. An sich braucht man, um zu sehen, welche neuen Substanzen in Kürze zugelassen werden, nicht den Wissenschaftsteil von Zeitungen lesen, sondern man sollte den Wirtschaftsteil lesen, weil man sehr schnell sieht, wenn die Aktie von einer gewissen Firma, die eine Substanz in der Pipeline hat, in die Höhe schnellt, das bedeutet, dass die Zulassung kurz bevor steht, und das wiederum bedeutet, dass diese Substanz in kürzester Zeit, wirklich Millionen- zum Teil Milliardenbeträge einspielt "

    Die Umsätze der zehn größten Anbieter für zielgerichtete Therapien werden bis zum Jahr 2010 um 40 Prozent steigen, schätzen Experten. Das ist nicht nur ein Erfolg der Wissenschaft, sondern auch des Marketings.

    " Ich hab hier ein besonders schönes Beispiel einer Anzeige zu einem neuen zielgerichteten Medikament…. "

    Ein Hochglanzprospekt aus den Marketingschmieden der Pharmaindustrie. Etwa ein Dutzend solcher Blätter landet täglich auf dem Schreibtisch von Klinikärzten. Geworben wird diesmal für das Medikament Tarveva der Firma Roche gegen fortgeschrittenen Lungenkrebs.

    "... diese Anzeige zeigt die Hand möglicherweise eines Patienten, und in die Handinnenfläche werden Überlebenskurven projiziert, und diese Überlebenskurven suggerieren, dass durch dieses Medikament die Gesamtüberlebenszeit um 42,5 Prozent und das Gesamtüberleben um 45 Prozent verbessert wird. Tatsache ist aber, dass die Zahlen, wenn man sich die in der klinischen Studie, die dazu durchgeführt wurde, anschaut, viel weniger Erfolg versprechend sind. "

    Genau genommen verlängert Tarceva mit dem Wirkstoff Erlotinib das Leben von Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs um gerade mal zwei Monate. Allerdings profitiert längst nicht jeder Kranke von der Behandlung.

    " In der einzigen Studie, die zu dieser Frage publiziert wurde, waren es 8,9 Prozent. Das heißt, dass etwa 90 Prozent der Patienten kein Ansprechen gezeigt haben und umsonst behandelt wurden."

    Das bedeutet auch, dass 90 Prozent der Kranken womöglich mit schweren Nebenwirkungen belastet werden, ohne einen Nutzen von der Therapie zu haben. Nicht nur für Tarceva gilt: Die Pharmafirmen müssen frühzeitig durch parallele Studien untersuchen, welche klinischen oder genetischen Merkmale eines Patienten voraussagen, ob er auf ein Medikament ansprechen wird. Doch das geschieht nur in Ausnahmefällen. Wolf-Dieter Ludwig von der Deutschen Arzneimittelkommission:

    " Die Pharmaindustrie hat natürlich zunächst mal das Interesse, wenn ein neues zielgerichtetes Medikament für die Tumorbehandlung zugelassen wird, dieses Medikament bei möglichst vielen Patienten einzusetzen, unabhängig davon, ob diese Patienten auf das Medikament ansprechen oder nicht. Man wird aber, und es gibt eindeutige Tendenzen und Forderungen von Experten, man wird dies nicht lange akzeptieren können, weil diese Medikamente sehr teuer sind und natürlich auch Nebenwirkungen aufweisen. "

    Auf ein Wundermittel gegen den Krebs müssen die Patienten wohl noch warten. Doch die gezielte Therapie ist eine noch junge Forschungsrichtung, und in den Labors wird an neuen, verbesserten Konzepten gebastelt.

    " Viele Gruppen haben begonnen, bispezifische Antikörper zu machen, die mit ihren beiden Armen zwei unterschiedliche Moleküle erkennen können. Die elegante Idee, die bei Krebs dahinter steht, ist folgende: man stellt Antikörper her, die mit einem Arm ein Molekül auf der Krebszelle erkennen und mit dem anderen Abwehrkörper, so genannte T-Zellen. Und die Idee ist: Der Antikörper, der mit einem Arm gebunden hat an die Geschwulst, holt aus dem Blut eine Abwehrzelle ran, bringt diese Abwehrzelle in engen Kontakt mit den Krebszellen, aktiviert sie und führt dazu, dass der T-Lymphozyt die Krebszelle angreift und beseitigt."

    Es wird noch einige Jahre dauern, bis sich herausstellt, ob die bispezifischen Antikörper einen Fortschritt gegenüber den bisher eingesetzten Molekülen bringen. Neue Therapiestrategien gegen Krebs werden dringend gebraucht, aber der Weg dorthin ist mühsam.

    " Prinzipiell gilt dasselbe wie für andere zielgerichtete Therapiestrategien oder für die konventionelle Chemotherapie: Es werden natürlich auch gegen bispezifische Antikörper Resistenzen auftreten in Tumorzellen, die die Wirksamkeit dieser Antikörper abschwächen oder vollständig beseitigen."

    Doch selbst wenn Krebs nicht geheilt werden kann, so kann die gezielte Therapie zumindest dazu beitragen, ihn für viele Betroffene in eine chronische Krankheit zu verwandeln, mit der sie lange Zeit gut leben können.

    Julia Leandros hat ihre kombinierte Brustkrebstherapie im Juli abgeschlossen. Sie darf hoffen, geheilt zu sein, doch die Folgen der Behandlung machen ihr noch zu schaffen. Vor ihrer Erkrankung hatte sie sehr viel gelesen. Seither fehlt ihr die Konzentration. Doch ihr Körper erholt sich, mit jedem Tag mehr.

    " Ich geh fast jeden Tag ins Fitnessstudio, so ne anderthalb Stunde, ja zur Zeit fühle ich mich topfit, ich könnte Bäume ausreißen (lacht), ja und Weihnachtne hab ich mich schon im Rollstuhl gesehen, da konnte ich kaum laufen, da bin ich gelaufen wie so ne 90jährige Frau, ja gegenüber ein paar Monaten, das ist kein Vergleich."

    Im Alltag von Waltraud Sander hat sich durch den Krebs nicht viel geändert. Sie geht weiterhin zur Arbeit und ist nicht häufiger krank als andere auch. Nur manchmal wird ihr bewusst, dass die Leukämie vielleicht wiederkommt, irgendwann.

    " Es kommt auch mal ein Moment, wo ich auch einen Tiefpunkt habe, so wie jetzt ein paar Tränchen im Auge, nicht, dass ich nicht weine, wenn ich beim Arzt rausgehe, denke ich auch, hm, bist krank, dann kommt Traurigkeit, aber die versuche ich zu verarbeiten, ich sag mir, das ist so, du musst es hinnehmen."

    Waltraud Sander grübelt nicht darüber nach, was gewesen wäre, wenn ihr Knochenmarkspender seinerzeit nicht abgesprungen wäre. Andreas Kirsch, ihr Arzt unterstützt sie darin, nach vorne zu denken.

    " Also ich hab mir da keine weiteren Gedanken drüber gemacht, ob's gut ist oder nicht gut ist, ich hab's hingenommen und lebe weiter, ich hab mir nicht die Frage gestellt, wär's besser gewesen wenn. ... Es hat nicht sollen sein, Dr. Kirsch sagte auch, wer weiß, wofür es gut ist, denn wir hoffen ja immer noch, dass das Medikament gut anschlägt und vielleicht heilt."