Ein kleines Dorf im ostdeutschen Odertal in den frühen 1980er-Jahren: Hier führt man ein ruhiges Leben, kennt seine Nachbarn und weiß über sie genau Bescheid – vielleicht zu genau, wie die ältliche Lieselotte erzählt:
„So ein Dorf besteht aus lauter Widersprüchen. Keiner will was sagen, aber alle wollen alles wissen. Niemand gönnt dem Nachbarn den Dreck unter den Fingernägeln, aber wenn jemand Fremdes auftaucht, halten alle zusammen. Jeder möchte die Dinge so machen, wie er das schön findet, mischt sich aber gleichzeitig in die kleinsten Angelegenheiten der Nachbarschaft ein. Niemand sagt was, aber trotzdem wissen alle, was gemeint ist. Und angeblich interessiert sich keiner für irgendwas, und doch sind alle unendlich neugierig.“
Eine besondere Gabe
In diesem Dorf lebt Michael auf dem Hof seiner Großeltern. Eigentlich wollte er Psychologie studieren, aber als er sich mit einer Arbeit über Schopenhauer bei der linientreuen Universitätsleitung unbeliebt machte, flog er von der Uni und kehrte ins Dorf zurück. Die Psychologie jedoch lässt ihn nicht los, denn Michael hat eine besondere Gabe: Er kann Menschen mit Hilfe von Hypnose in ihren Gedanken an jeden beliebigen Ort der Welt reisen lassen. In der DDR, wo so viele sich Reisen in den Westen ausmalen, spricht sich das schnell herum, und so tauchen bald immer mehr Fremde auf, um sich von Michael ans Ziel ihrer Sehnsüchte bringen zu lassen. Eine dieser Fremden ist Anika, eine junge Frau. Sie träumt davon, Paris zu sehen.
„Wenn sie im Rausch ihre Hemmung verlor, fing sie nicht an, Wirtinnenlieder zu singen oder ihrem Busen die Männer zu zeigen, sondern sie erzählte von Paris, den Arrondissements, den Bussen, den Parks, den unfreundlichen Kellnern, den kleinen Booten im Jardin du Luxembourg und so weiter und so fort. Sie hatte diese Reise zusammengepuzzelt aus vielen unendlich kleinen Teilen – aus Fernsehberichten, aus Romanen, aus Zeitungsmeldungen und kleinen Reportagen im Radio. Wenn es irgendetwas aus Paris gab, fand es Anikas Aufmerksamkeit.“
Gute Geschäfte und argwöhnische Dörfler
Aus der Hypnosereise nach Paris in Begleitung von Alain Delon wird für Anika ein längerer Aufenthalt auf Michaels Hof. Resolut beginnt sie, das heruntergekommene Gut auf Vordermann zu bringen und die Hypnosesitzungen gewinnbringend zu vermarkten – ein Vorhaben, das in der DDR nicht so einfach umsetzbar ist, schließlich sind Reisen in den Westen verboten, auch wenn sie nur in Gedanken stattfinden. Mit viel Witz erzählt Jakob Hein von Geschäften und Gegengeschäften, von Anikas Plan, das Unternehmen als Kunsthandel mit Hypnosebeigabe zu tarnen – und vom Unmut der Dorfbewohner, die das Treiben argwöhnisch beobachten. So wie Simone, die Sekretärin im örtlichen Volkseigenen Betrieb.
„Irgendwann hat es den meisten einfach gereicht, das konnte man spüren. Wo man ging und stand, hat man diese aufgedonnerten Weiber gesehen. Die haben sich da drüben auf dem Hof aufgeführt, wie sie wollten, und wir sollten das einfach so schlucken? Unsere Männer waren ja teilweise öfter da drüben, als sie zu Hause waren, und das hat nicht nur mir gestunken. Ich bin auch zu Wolfgang rübergegangen und habe das mit dem besprochen, aber der ist doch auch nur zur Polizei, weil er nichts Richtiges arbeiten wollte.“
Leicht und wandelbar
All das schildert Jakob Hein in einer leichtfüßigen und liebenswerten Prosa, die mühelos unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Ob es um Anika und ihre Pläne für das Hypnose-Unternehmen geht, ob Lieselotte von Michaels Jugend erzählt oder ob sich Simone über das Treiben auf dem Hof empört: Immer findet Hein einen anderen Ton, einen neuen Duktus. So auch für Peggy, eine Berliner Krankenschwester, für die der Hof ein Paradies ist.
„Vorher gab es nur dieses Gefühl, lebenslänglich in einem sehr ordentlich ausgestatteten und weitgehend anständig geführten Gefängnis leben zu müssen, mit der vagen Hoffnung auf eine befristete Haftverschonung bei Erreichung des Rentenalters. Aber die Hypnose befreite mich von diesem Gefühl. Ich konnte mich zwar nicht nach außen befreien, aber der Weg nach innen stand mir offen. Niemand konnte mir verbieten, mich wohlzufühlen, glücklich zu sein, in meinen Gedanken das zu erleben, wovon ich träumte, außer mir selbst.“
Beschwingter Text mit ernstem Hintergrund
Der Roman befasst sich hinter einer beschwingten Fassade mit der Macht der Phantasie, mit der Vorstellungskraft als Fluchtmöglichkeit – und mit einem übergriffigen Staat, der selbst die Gedanken seiner Bürger kontrollieren will. Denn die Stasi hat Michaels Hof längst ins Visier genommen, und so ist Peggys Paradies dem Untergang geweiht:
„Der Erfolg hatte uns vielleicht zu mutig und an manchen Stellen zu sorglos gemacht. Als ich auf dem Hof war, wurde alles mit absoluter Selbstverständlichkeit betrieben, sodass niemand auf den Gedanken gekommen wäre, hier würde etwas Unziemliches passieren. Der ganze Hof war wie eine in Hypnose geborene Gegenrealität, eine Welt, die einfach so war, weil alle, die dort waren, behaupteten, dass sie so war.“
Vom Glück und von der Gedankenfreiheit
Und nicht zuletzt geht es um Glück, seine Natur und seine gesellschaftliche Relevanz, verpackt in eine durchaus aktuelle Frage, die Peggy an einer Stelle formuliert:
„Das heißt, es darf nicht jeder glücklich sein, damit alle glücklich sein können?“
Jakob Heins Roman ist ein literarisches Kabinettstück, ein Buch, das Leichtigkeit mit Tiefgang zu verbinden weiß und eine Geschichte erzählt, die in der Vergangenheit angesiedelt ist, aber gerade heute Bedeutung hat. Eine Geschichte über Gedankenfreiheit in schwierigen Zeiten, die daran erinnert, dass jeder von uns vielleicht auch aus dem grauen Corona-Alltag ganz leicht ins Reich der Phantasie entfliehen kann.
Jakob Hein: „Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“ Galiani Verlag, Berlin. 208 Seiten, 20 Euro.