Als vor zwei Jahren der erste Band von Ian Kershaws Hitler - Biographie erschien, wurde er zu Recht von der Kritik gepriesen. Kershaw konnte zwar nicht mit grundlegend neuen Erkenntnissen aufwarten, doch seine Verknüpfung von biographischen Details mit ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen überzeugte. Band 1 des Monumentalwerks endete mit der Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtsystems im Jahre 1936, der jetzt erschienene zweite Band knüpft daran an und dokumentiert und analysiert die Jahre 1936 - 1945. Hören Sie die Rezension von Peter Longerich.
Als Ian Kershaw vor etwa 10 Jahren sein monumentales Werk begann, ging er von der Überlegung aus, dass das historische Phänomen Hitler nicht allein aus sich selbst heraus erklärt werden könne. Der rasante Aufstieg des Diktators, seine exzessive Machtfülle, die außerordentliche Brutalität seiner Herrschaft und ihre singulären zerstörerischen Wirkungen - alles dies wirft Fragen auf, die sich mit den Mitteln konventioneller Biographik befriedigend kaum beantworten lassen.
Kershaw wollte nicht nur eine Lebensbeschreibung des Diktators abliefern, sondern ihn interessierte vor allem die gesellschaftliche und machtpolitische Verankerung seiner Herrschaft. Ein moderner charismatischer Diktator fungiert vor allem auch als Medium, auf ihn projizieren die Massen ihre Erwartungen und Sehnsüchte. Er ist Exponent gesellschaftlicher Kräfte und er steht im Schnittpunkt machtpolitischer Konstellationen .
Der Sheffielder Historiker bringt die besten Voraussetzungen mit, um diese komplexen Zusammenhänge zu erklären, hat er sich doch in seinen bisherigen Forschungen vor allem für den "Hitler-Mythos" und für die Strukturgeschichte des Dritten Reiches interessiert. Was Kershaw nun vorlegt, ist ein Werk, in dem die Lebensbeschreibung des Protagonisten zurücktritt zugunsten einer umfassenden politischen Geschichte der Diktatur Adolf Hitlers.
Um diesen Ansatz einzulösen bietet Kershaw eine Darstellung, die sich im wesentlichen an der Chronologie orientiert. Viele der mehr als 1300 Seiten des zweiten Bandes sind daher gefüllt mit zum Teil recht langen Wiedergaben von Reden und Gesprächsprotokollen, mit der Schilderung im Prinzip bekannter Aktivitäten des Diktators und der Erklärung historischer Zusammenhänge.
Das Buch beruht vor allem auf einer breiten und kenntnisreichen Auswertung der Forschungsliteratur. Bemerkenswert mag die Unbefangenheit erscheinen, mit der Kershaw die Bücher David Irvings benutzt, von denen nicht weniger als neun im Literaturverzeichnis angeführt werden. Kershaw hat nicht noch einmal die Archive durchforstet, sondern greift in erster Linie auf die Edition von Dokumenten zurück, so insbesondere auf die noch relativ neue Ausgabe der umfangreichen Goebbels Tagebücher. Damit erhält Goebbels, über lange Jahre Hitlers Intimus, die Rolle eines wichtigen Kronzeugen. Am Beginn seines Buches stellt Kershaw klar: Für Hitler diente Macht einem doppelten ideologischem Zweck: Die Vernichtung der Juden und Vorherrschaft über den europäischen Kontinent, später über die Welt. Diese ideologischen Prämissen waren unauflösbar verbunden mit einer kruden Lebensphilosophie, die den Kampf als Grundlage allen Daseins sah: Hitler war beherrscht von der Vorstellung, Konfliktlagen auf scharfe Alternativen reduzieren zu müssen: Entweder - oder, schwarz oder weiß.
Bei Kriegsbeginn hatte Hitler eine nahezu unbeschränkte Machtfülle erreicht. Im Krieg , so Kershaw, fand der Nationalsozialismus zu sich selbst. Denn die NS-Bewegung war ja als Reaktion auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg entstanden und es war Hitlers zentrales Ziel, durch einen neuen Krieg ein Lebensraum- und Rasse-Imperium zu errichten, durch das die Vorherrschaft der Deutschen in Europa für alle Zeiten gesichert war.
Als Hitler im Jahre 1939 mit seinem Erpressungsmanöver gegenüber Polen ungewollt vorzeitig einen großen europäischen Krieg entfesselte, geriet er, wollte er nicht die Initiative verlieren, mit seiner Eroberungspolitik in einen selbst geschaffenen Zugzwang: Zwar sollte er in einer Serie von Blitzkriegen erfolgreich sein, doch entscheidend war die Tatsache, dass er Großbritannien weder besiegen noch zu einem Friedensschluss überreden konnte. Da er sein Hauptziel, die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu erreichen, nicht aufgeben wollte, traf er die folgenschwere Entscheidung, Großbritanniens letzten potentiellen Verbündeten in Europa anzugreifen: Die Sowjetunion.
"Die Erhaltung der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung verlangte die Fortsetzung der Expansion, die Eroberung neuer Territorien, das Aufstellen neuer Ziele, den unaufhörlichen Einsatz für das Tausendjährige Reich."
War Hitlers bisherige Annexions- und Eroberungspolitik vor allem taktischem Kalkül entsprungen, so kehrte er mit seinem Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion nun zu seinen ursprünglichen weltanschaulichen Kernzielen zurück.
Eng verbunden mit Hitlers aggressiver Außenpolitik ist seine Zielsetzung, das zu errichtende Reich von allen "rassisch Minderwertigen" und "Fremdvölkischen" zu säubern, eine "rassisch homogene" Volksgemeinschaft zu schaffen. Diese Politik verfolgt Kershaw in erster Linie im Hinblick auf die Juden und er betont ganz zu recht, dass erst der Krieg Hitler den Vorwand und die Gelegenheit gab, diese Politik zu radikalisieren.
Nach Kershaws Auffassung entfaltete die Verfolgung der Juden, fast ohne jeden direkten Einsatz Hitlers, ihre eigene Dynamik, vorangetrieben vor allem von den radikalen Kräften innerhalb der SS. Kershaw sieht Hitler eher als einen Politiker, der in der sogenannten Judenfrage auf Initiativen und Vorschläge anderer reagierte. Dieser Befund steht im bemerkenswerten Gegensatz zu der zentralen Bedeutung, die die "Entfernung" der Juden in Hitlers Denken stets hatte. Kershaw bezweifelt auch , dass es eine einzelne Entscheidung Hitlers für die "Endlösung", die systematische Ermordung der europäischen Juden, gegeben habe. Vielmehr betont er die Prozesshaftigkeit der Entschlussbildung, die sich ? hier bestätigt er neuere Forschungsergebnisse - über einen relativ langen Zeitraum vom Frühjahr 1941 bis zum Frühjahr 1942 hingezogen habe.
Was die behauptete relativ passive Haltung Hitlers in der antijüdischen Politik angeht, so ist Kershaws Interpretation nachvollziehbar, aber durchaus nicht zwingend. Die erhaltenen Dokumente zeigen in der Tat Hitler als jemanden, der die stufenweise Radikalisierung der Judenpolitik durch eine brutal-antisemitische, aber meist recht allgemein gehaltene Rhetorik vorantrieb, der generelle Vollmachten ausstellte, Vorschlägen zur Verschärfung der Verfolgung gerne zustimmte, besonders eifrige Judenhasser ermunterte und in Einzelfragen mit konkreten Entscheidungen in das Geschehen eingriff. Aus dem aufgrund neuer Quellenfunde immer dichter werdenden Mosaik kann man zumindest eine Schlussfolgerung ziehen: Die für die Judenverfolgung Verantwortlichen konnten nur handeln, wenn sie sich Hitlers Zustimmung sicher waren; er behielt sich die letzte Entscheidung vor.
Andererseits legte Hitler, wie auch Kershaw betont, größten Wert darauf, seinen persönlichen Anteil an der Judenverfolgung systematisch zu verschleiern ? und daher ist es auch so außerordentlich schwierig, diesen Anteil auf der Basis von Dokumenten zu rekonstruieren. Die historischen Akteure, Hitler eingeschlossen, agierten eben unter den Bedingungen eines politischen Systems und in den von ihnen hinterlassenen Schriftstücken spiegelt sich vor allem das System selbst wider, und erst in zweiter Linie ihre persönlichen Absichten.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung verfolgt Kershaw im Detail den Niedergang der Macht Hitlers. Sein besonderer Stil, dem er seine größten Erfolge verdankte, seine radikale Politik des Alles oder Nichts, wird nun zur Falle. Mit dem von ihm zu verantwortenden Verbrechen hat Hitler alle Brücken hinter sich verbrannt; Friedensmöglichkeiten sind praktisch ausgeschlossen und es gibt nur noch eine Möglichkeit: Die Fortsetzung des Krieges bis zum Untergang. Um den zerstörerischen und selbstzerstörerischen Charakter der Politik Hitlers zu erklären, lassen sich natürlich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale des Diktators anführen: seine ideologische Obsessionen, seine Wahnvorstellung, er sei der von der Vorsehung auserwählte Führer, dazu ausersehen, ein Tausendjähriges Reich zu errichten gekoppelt mit der Angst, seine Lebenszeit könnte ablaufen, bevor dieses Aufgabe erledigt sei.
Kershaw versucht nun, über diesen rein biographischen Ansatz hinauszugehen, indem er ein machtpolitisches Erklärungsmodell einführt , das sich an Vorstellungen über die NS-Herrschaft orientiert, wie sie von Historikern wie Martin Broszat und Hans Mommsen in den siebziger und achtziger Jahren entwickelt wurde.
Danach war Hitlers Herrschaft durch die Zerstörung aller Formen von kollektiver Regierungsverantwortung gekennzeichnet, sie war eine Führerautokratie. An die Stelle von Eindeutigkeit, Klarheit und Rationalität der Regierungsarbeit traten Improvisation, schnelles Kurswechseln und Ungewissheit.
Im Ergebnis führte seine Herrschaft zu einer extreme Personalisierung von Macht, Loyalität gegenüber dem Führer wurde zur wichtigsten Qualifikation. Es entstand ein permanenter Wettbewerb der Unterführer, die versuchten, den "Führerwillen", so wie sie ihn interpretierten, im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen.
Brisant wird dieser Prozess vor allem durch die Vagheit der ideologischen Ziele des Nationalsozialismus, die verbindlich einzig und allein durch den Hüter der Weltanschauung, Hitler, interpretiert werden konnten. Hitler nutzte diese Definitionsmacht über seine Vision in der Regel, um gerade die jeweils radikaleren Auffassungen zu unterstützen. Denn seine Rolle als charismatischer Führer beruhte darauf, dass ihm außergewöhnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden. Sollte dieses Charisma nicht in der Routine der Tagespolitik verschlissen werden, so war er in der Tat gezwungen, stets das Außerordentliche zu versuchen, also große Risiken einzugehen und utopisch erscheinende Ziele anzustreben. Die Politik des Alles oder Nichts entsprach nicht nur seinem Charakter, sondern seiner Rolle als charismatischer Führer einer durch eine Ideologie zusammengehaltenen Bewegung.
Ohne Zweifel besitzt dieses machtpolitisch orientierte Modell einen hohen Erklärungswert. Hitlers verhängnisvolle Karriere, und das ist die Stärke von Kershaws Ansatz, erklärt sich demnach nicht aus Hitlers unbedingtem Willen zur Macht, aus seinem radikalen ideologischem Entwurf oder aus seinen Wagnerschen Visionen, sondern aus den realen Machtverhältnissen der Diktatur.
Andererseits bleibt die Biographie Hitlers, geschrieben in erster Linie als Geschichte seiner Herrschaftsausübung, in mancher Beziehung etwas blass.
So verschwindet die Privatperson Hitler fast völlig hinter dem Inhaber der Macht und dem von der Propaganda aufgebauten Popanz. Man erfährt relativ wenig über den verhinderten Künstler Hitler, seine antibürgerlichen Ressentiments, seine kleinbürgerlichen Vorstellung eines bohemienhaften Lebensstils. Psychologische Erklärungen spielen nur am Rande eine Rolle.
Auch das Verhältnis zwischen Führer und Volk bleibt recht abstrakt: Man vermisst etwas die tieferen Dimensionen dieser Bindung, die sozialpsychologischen Facetten von Hitlers Demagogie und eine intensivere Schilderung der ihm entgegengebrachten Volksverehrung. Der pseudoreligiöse Aspekt seiner Herrschaft, Kult und Magie, bleiben etwas farblos, da Kershaw sie in erster Linie als funktionale Elemente seiner auf die Herrschaft Hitlers abgestellten Darstellung begreift.
Kershaws Werk ist insgesamt eine gut gelungene Synthese, sie ist aber keine bahnbrechende und überraschende Neuinterpretation Hitlers und seiner Herrschaft. Mit seiner ausführlichen, in Teilen akribischen Darstellung der Diktatur Hitlers bietet Kershaw dem Leser jedoch in vielerlei Hinsicht mehr als eine klassische Biographie.
Peter Longerich über Ian Kershaw, Hitler, 1936 - 1945, 1343 Seiten, DM 88,-. Wie schon der erste Band ist das gewichtige Werk bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen.
Als Ian Kershaw vor etwa 10 Jahren sein monumentales Werk begann, ging er von der Überlegung aus, dass das historische Phänomen Hitler nicht allein aus sich selbst heraus erklärt werden könne. Der rasante Aufstieg des Diktators, seine exzessive Machtfülle, die außerordentliche Brutalität seiner Herrschaft und ihre singulären zerstörerischen Wirkungen - alles dies wirft Fragen auf, die sich mit den Mitteln konventioneller Biographik befriedigend kaum beantworten lassen.
Kershaw wollte nicht nur eine Lebensbeschreibung des Diktators abliefern, sondern ihn interessierte vor allem die gesellschaftliche und machtpolitische Verankerung seiner Herrschaft. Ein moderner charismatischer Diktator fungiert vor allem auch als Medium, auf ihn projizieren die Massen ihre Erwartungen und Sehnsüchte. Er ist Exponent gesellschaftlicher Kräfte und er steht im Schnittpunkt machtpolitischer Konstellationen .
Der Sheffielder Historiker bringt die besten Voraussetzungen mit, um diese komplexen Zusammenhänge zu erklären, hat er sich doch in seinen bisherigen Forschungen vor allem für den "Hitler-Mythos" und für die Strukturgeschichte des Dritten Reiches interessiert. Was Kershaw nun vorlegt, ist ein Werk, in dem die Lebensbeschreibung des Protagonisten zurücktritt zugunsten einer umfassenden politischen Geschichte der Diktatur Adolf Hitlers.
Um diesen Ansatz einzulösen bietet Kershaw eine Darstellung, die sich im wesentlichen an der Chronologie orientiert. Viele der mehr als 1300 Seiten des zweiten Bandes sind daher gefüllt mit zum Teil recht langen Wiedergaben von Reden und Gesprächsprotokollen, mit der Schilderung im Prinzip bekannter Aktivitäten des Diktators und der Erklärung historischer Zusammenhänge.
Das Buch beruht vor allem auf einer breiten und kenntnisreichen Auswertung der Forschungsliteratur. Bemerkenswert mag die Unbefangenheit erscheinen, mit der Kershaw die Bücher David Irvings benutzt, von denen nicht weniger als neun im Literaturverzeichnis angeführt werden. Kershaw hat nicht noch einmal die Archive durchforstet, sondern greift in erster Linie auf die Edition von Dokumenten zurück, so insbesondere auf die noch relativ neue Ausgabe der umfangreichen Goebbels Tagebücher. Damit erhält Goebbels, über lange Jahre Hitlers Intimus, die Rolle eines wichtigen Kronzeugen. Am Beginn seines Buches stellt Kershaw klar: Für Hitler diente Macht einem doppelten ideologischem Zweck: Die Vernichtung der Juden und Vorherrschaft über den europäischen Kontinent, später über die Welt. Diese ideologischen Prämissen waren unauflösbar verbunden mit einer kruden Lebensphilosophie, die den Kampf als Grundlage allen Daseins sah: Hitler war beherrscht von der Vorstellung, Konfliktlagen auf scharfe Alternativen reduzieren zu müssen: Entweder - oder, schwarz oder weiß.
Bei Kriegsbeginn hatte Hitler eine nahezu unbeschränkte Machtfülle erreicht. Im Krieg , so Kershaw, fand der Nationalsozialismus zu sich selbst. Denn die NS-Bewegung war ja als Reaktion auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg entstanden und es war Hitlers zentrales Ziel, durch einen neuen Krieg ein Lebensraum- und Rasse-Imperium zu errichten, durch das die Vorherrschaft der Deutschen in Europa für alle Zeiten gesichert war.
Als Hitler im Jahre 1939 mit seinem Erpressungsmanöver gegenüber Polen ungewollt vorzeitig einen großen europäischen Krieg entfesselte, geriet er, wollte er nicht die Initiative verlieren, mit seiner Eroberungspolitik in einen selbst geschaffenen Zugzwang: Zwar sollte er in einer Serie von Blitzkriegen erfolgreich sein, doch entscheidend war die Tatsache, dass er Großbritannien weder besiegen noch zu einem Friedensschluss überreden konnte. Da er sein Hauptziel, die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu erreichen, nicht aufgeben wollte, traf er die folgenschwere Entscheidung, Großbritanniens letzten potentiellen Verbündeten in Europa anzugreifen: Die Sowjetunion.
"Die Erhaltung der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung verlangte die Fortsetzung der Expansion, die Eroberung neuer Territorien, das Aufstellen neuer Ziele, den unaufhörlichen Einsatz für das Tausendjährige Reich."
War Hitlers bisherige Annexions- und Eroberungspolitik vor allem taktischem Kalkül entsprungen, so kehrte er mit seinem Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion nun zu seinen ursprünglichen weltanschaulichen Kernzielen zurück.
Eng verbunden mit Hitlers aggressiver Außenpolitik ist seine Zielsetzung, das zu errichtende Reich von allen "rassisch Minderwertigen" und "Fremdvölkischen" zu säubern, eine "rassisch homogene" Volksgemeinschaft zu schaffen. Diese Politik verfolgt Kershaw in erster Linie im Hinblick auf die Juden und er betont ganz zu recht, dass erst der Krieg Hitler den Vorwand und die Gelegenheit gab, diese Politik zu radikalisieren.
Nach Kershaws Auffassung entfaltete die Verfolgung der Juden, fast ohne jeden direkten Einsatz Hitlers, ihre eigene Dynamik, vorangetrieben vor allem von den radikalen Kräften innerhalb der SS. Kershaw sieht Hitler eher als einen Politiker, der in der sogenannten Judenfrage auf Initiativen und Vorschläge anderer reagierte. Dieser Befund steht im bemerkenswerten Gegensatz zu der zentralen Bedeutung, die die "Entfernung" der Juden in Hitlers Denken stets hatte. Kershaw bezweifelt auch , dass es eine einzelne Entscheidung Hitlers für die "Endlösung", die systematische Ermordung der europäischen Juden, gegeben habe. Vielmehr betont er die Prozesshaftigkeit der Entschlussbildung, die sich ? hier bestätigt er neuere Forschungsergebnisse - über einen relativ langen Zeitraum vom Frühjahr 1941 bis zum Frühjahr 1942 hingezogen habe.
Was die behauptete relativ passive Haltung Hitlers in der antijüdischen Politik angeht, so ist Kershaws Interpretation nachvollziehbar, aber durchaus nicht zwingend. Die erhaltenen Dokumente zeigen in der Tat Hitler als jemanden, der die stufenweise Radikalisierung der Judenpolitik durch eine brutal-antisemitische, aber meist recht allgemein gehaltene Rhetorik vorantrieb, der generelle Vollmachten ausstellte, Vorschlägen zur Verschärfung der Verfolgung gerne zustimmte, besonders eifrige Judenhasser ermunterte und in Einzelfragen mit konkreten Entscheidungen in das Geschehen eingriff. Aus dem aufgrund neuer Quellenfunde immer dichter werdenden Mosaik kann man zumindest eine Schlussfolgerung ziehen: Die für die Judenverfolgung Verantwortlichen konnten nur handeln, wenn sie sich Hitlers Zustimmung sicher waren; er behielt sich die letzte Entscheidung vor.
Andererseits legte Hitler, wie auch Kershaw betont, größten Wert darauf, seinen persönlichen Anteil an der Judenverfolgung systematisch zu verschleiern ? und daher ist es auch so außerordentlich schwierig, diesen Anteil auf der Basis von Dokumenten zu rekonstruieren. Die historischen Akteure, Hitler eingeschlossen, agierten eben unter den Bedingungen eines politischen Systems und in den von ihnen hinterlassenen Schriftstücken spiegelt sich vor allem das System selbst wider, und erst in zweiter Linie ihre persönlichen Absichten.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung verfolgt Kershaw im Detail den Niedergang der Macht Hitlers. Sein besonderer Stil, dem er seine größten Erfolge verdankte, seine radikale Politik des Alles oder Nichts, wird nun zur Falle. Mit dem von ihm zu verantwortenden Verbrechen hat Hitler alle Brücken hinter sich verbrannt; Friedensmöglichkeiten sind praktisch ausgeschlossen und es gibt nur noch eine Möglichkeit: Die Fortsetzung des Krieges bis zum Untergang. Um den zerstörerischen und selbstzerstörerischen Charakter der Politik Hitlers zu erklären, lassen sich natürlich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale des Diktators anführen: seine ideologische Obsessionen, seine Wahnvorstellung, er sei der von der Vorsehung auserwählte Führer, dazu ausersehen, ein Tausendjähriges Reich zu errichten gekoppelt mit der Angst, seine Lebenszeit könnte ablaufen, bevor dieses Aufgabe erledigt sei.
Kershaw versucht nun, über diesen rein biographischen Ansatz hinauszugehen, indem er ein machtpolitisches Erklärungsmodell einführt , das sich an Vorstellungen über die NS-Herrschaft orientiert, wie sie von Historikern wie Martin Broszat und Hans Mommsen in den siebziger und achtziger Jahren entwickelt wurde.
Danach war Hitlers Herrschaft durch die Zerstörung aller Formen von kollektiver Regierungsverantwortung gekennzeichnet, sie war eine Führerautokratie. An die Stelle von Eindeutigkeit, Klarheit und Rationalität der Regierungsarbeit traten Improvisation, schnelles Kurswechseln und Ungewissheit.
Im Ergebnis führte seine Herrschaft zu einer extreme Personalisierung von Macht, Loyalität gegenüber dem Führer wurde zur wichtigsten Qualifikation. Es entstand ein permanenter Wettbewerb der Unterführer, die versuchten, den "Führerwillen", so wie sie ihn interpretierten, im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen.
Brisant wird dieser Prozess vor allem durch die Vagheit der ideologischen Ziele des Nationalsozialismus, die verbindlich einzig und allein durch den Hüter der Weltanschauung, Hitler, interpretiert werden konnten. Hitler nutzte diese Definitionsmacht über seine Vision in der Regel, um gerade die jeweils radikaleren Auffassungen zu unterstützen. Denn seine Rolle als charismatischer Führer beruhte darauf, dass ihm außergewöhnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden. Sollte dieses Charisma nicht in der Routine der Tagespolitik verschlissen werden, so war er in der Tat gezwungen, stets das Außerordentliche zu versuchen, also große Risiken einzugehen und utopisch erscheinende Ziele anzustreben. Die Politik des Alles oder Nichts entsprach nicht nur seinem Charakter, sondern seiner Rolle als charismatischer Führer einer durch eine Ideologie zusammengehaltenen Bewegung.
Ohne Zweifel besitzt dieses machtpolitisch orientierte Modell einen hohen Erklärungswert. Hitlers verhängnisvolle Karriere, und das ist die Stärke von Kershaws Ansatz, erklärt sich demnach nicht aus Hitlers unbedingtem Willen zur Macht, aus seinem radikalen ideologischem Entwurf oder aus seinen Wagnerschen Visionen, sondern aus den realen Machtverhältnissen der Diktatur.
Andererseits bleibt die Biographie Hitlers, geschrieben in erster Linie als Geschichte seiner Herrschaftsausübung, in mancher Beziehung etwas blass.
So verschwindet die Privatperson Hitler fast völlig hinter dem Inhaber der Macht und dem von der Propaganda aufgebauten Popanz. Man erfährt relativ wenig über den verhinderten Künstler Hitler, seine antibürgerlichen Ressentiments, seine kleinbürgerlichen Vorstellung eines bohemienhaften Lebensstils. Psychologische Erklärungen spielen nur am Rande eine Rolle.
Auch das Verhältnis zwischen Führer und Volk bleibt recht abstrakt: Man vermisst etwas die tieferen Dimensionen dieser Bindung, die sozialpsychologischen Facetten von Hitlers Demagogie und eine intensivere Schilderung der ihm entgegengebrachten Volksverehrung. Der pseudoreligiöse Aspekt seiner Herrschaft, Kult und Magie, bleiben etwas farblos, da Kershaw sie in erster Linie als funktionale Elemente seiner auf die Herrschaft Hitlers abgestellten Darstellung begreift.
Kershaws Werk ist insgesamt eine gut gelungene Synthese, sie ist aber keine bahnbrechende und überraschende Neuinterpretation Hitlers und seiner Herrschaft. Mit seiner ausführlichen, in Teilen akribischen Darstellung der Diktatur Hitlers bietet Kershaw dem Leser jedoch in vielerlei Hinsicht mehr als eine klassische Biographie.
Peter Longerich über Ian Kershaw, Hitler, 1936 - 1945, 1343 Seiten, DM 88,-. Wie schon der erste Band ist das gewichtige Werk bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen.