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Ian McEwan: "Kindeswohl"
Eine Lebensentscheidung

In "Kindeswohl" erzählt Ian McEwan die Geschichte einer Richterin, die über Leben oder Tod entscheiden muss: Die Eltern eines 17-jährigen Leukämie-Patienten sind Zeugen Jehovas und lehnen die nötige Behandlung mit Blutprodukten ab - aus Glaubensgründen. Das Werk hätte ein guter Roman werden können, findet unsere Autorin.

Von Angela Gutzeit |
    Eine Ärztin hält eine Blutkonserve in der Hand.
    Zeugen Jehovas lehnen Bluttransfusionen oft ab. (dpa / Friso Gentsch)
    Bevor Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit seinem Freund und Helfer Dr. Watson das Haus verlässt, um einem Mord auf die Spur zu kommen, greift er zum Schirm, denn – so will es die klassische englische Kriminalliteratur – in der Regel regnet es in Englands Hauptstadt. In Ian McEwans neuem Roman "Kindeswohl" ist das nicht anders, eher noch ungemütlicher: Seine Protagonisten stehen ständig im Regen, werden nass bis auf die Haut oder schauen zumindest von drinnen nach draußen in die ewig trübe Witterung Londons oder Newcastles, ein weiterer Schauplatz im jüngsten Buch des britischen Autors. "Tiefhängende Wolken", ein "schlachtschiffgrauer Himmel", "Sommerkälte", "prasselnder" oder "peitschender Regen" – variantenreich gestaltet sich die schlechte Wetterlage - passend, wie sich schnell herausstellt, zur desolaten Befindlichkeit von McEwans Romanfiguren.
    Schon der erste Satz bedient geradezu demonstrativ das gängige Wetter-Klischee: "London. Sonntagabend, eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter." Aber nicht Arthur Conan Doyle hatte Ian McEwan im Sinn, als er sich für diesen Romananfang entschied, sondern, wie er in einem Interview preisgab, die ersten Sätze von Charles Dickens Londoner Prozessroman "Bleak House". Ian McEwan liebt diese literarischen Verbeugungen und Anspielungen. Mag die Dickens-Annäherung hier zu Beginn von "Kindeswohl" nicht unbedingt über eine augenzwinkernde Referenz hinausgehen, so ist sie doch ein Teil dieser durch die Handlung mäandernden Strömung aus Literatur- und Musik-Motiven, mit der McEwan seiner realitäts- und faktengesättigten Prosa etwas Schwebendes, Offenes, Widersprüchliches geben will.
    Und wieder einmal verwickelt McEwan seine Hauptfiguren in ein Ehe- und Beziehungsdrama. Sex, unerfüllte Erwartungen und Wünsche machen sie zu Getriebenen. Wir kennen das schon aus McEwans früheren Romanen. Denken wir nur an den Roman "Am Strand", in dem die Jungverheirateten Edward und Florence an der Prüderie ihrer Zeit scheitern. Oder an den Physiker Michael Beard in "Solar", der fünf Ehen hinter sich hat und zahlreiche Affären und blind ist gegenüber seiner abnehmenden Attraktivität in Beruf und Privatleben.
    Seitensprung mit Ankündigung
    Im neuen Roman "Kindeswohl" nun droht die Ehe von Fiona und Jack Maye wegen sexueller Entfremdung zu zerbrechen. Wobei die Genrebezeichnung 'Roman' bei diesem wie auch zum Beispiel beim Kurzroman "Am Strand" nicht unbedingt zutreffend ist. Denn im Kern geht es jeweils um ein Ereignis, das - eher typisch für eine Novelle - den Dreh- und Angelpunkt des Geschehens bildet. In "Kindeswohl" ist dieser Höhepunkt ein spektakulärer Gerichtsfall. Zuvor jedoch baut McEwan einen Spannungsbogen auf, der mit einem heftigen Streit beginnt. Fiona Maye, eine äußerst erfolgreiche und prominente Richterin am Londoner High Court, wird von ihrem Ehemann Jack, einem Geschichtsprofessor, mit der offenen Ankündigung überrascht, dass er mit einer jüngeren Frau einen Seitensprung plant, weil er sich in seiner Ehe sexuell vernachlässigt fühlt. Die Endfünfzigerin gerät aus der Fassung.
    "'Wie kannst du es wagen!' Das war schwerlich als Frage gedacht, aber er antwortete ruhig: 'Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis.' Eine prätentiöse Bemerkung, zu der ihr nichts eingefallen war. Sie starrte ihn nur an, womöglich mit offenem Mund. Erst jetzt auf der Chaiselongue, zu spät, hatte sie eine Antwort: 'Neunundfünfzig? Jack, du bist sechzig! Wie erbärmlich, wie banal.' Tatsächlich hatte sie nur lahm erwidert: 'Das ist doch einfach lächerlich.'
    'Fiona, wann haben wir das letzte Mal miteinander geschlafen?'
    Ja, wann? Er hatte sie das schon öfter gefragt, mal klagend, mal gereizt. Aber es kann schwerfallen, sich an die ereignisreiche jüngere Vergangenheit zu erinnern. Am Familiengericht wimmelte es von seltsamen Meinungsverschiedenheiten, Berufungen auf Sonderfälle, vertraulichen Halbwahrheiten und bizarren Anschuldigungen. ( ... ) Vorige Woche hatte sie die Schlussplädoyers im Scheidungsverfahren jüdischer Eheleute gehört, die, in ungleichem Maße orthodox, darüber stritten, wie ihre Töchter erzogen werden sollten. Die Endfassung ihres Urteils lag neben ihr auf dem Boden. Morgen würde eine verzweifelte Engländerin erneut vor ihr erscheinen, hager, blass, gebildet, Mutter eines fünfjährigen Mädchens. Trotz dem Gericht vorliegender gegenteiliger Zusicherungen war sie überzeugt, dass der Vater, ein marokkanischer Geschäftsmann und strenggläubiger Muslim, plante, die gemeinsame Tochter der britischen Gerichtsbarkeit zu entziehen und nach Rabat zu verbringen, wo er ein neues Leben anfangen wollte."
    Flucht in die Arbeit
    Jacks Klage scheint nicht unberechtigt zu sein. Denn kaum ist der Streit zwischen den Eheleuten entbrannt, driften Fionas Gedanken schon wieder ab zu ihren zahlreichen Gerichtsfällen in Vergangenheit und Gegenwart. Wie manisch getrieben greift sie zu ihren Unterlagen. Sie fühlt die Ödnis, die sich nach und nach in ihr kinderloses Privatleben geschlichen hat. Abseits ihres erfolgreichen Berufslebens gähnt nun die Leere. Getrieben vom schlechten Gewissen, aber auch vom Zorn auf Jacks sexuelles Erpressungsmanöver vergräbt sie sich in noch mehr Arbeit.
    "Sie fühlte sich hilflos und wollte nicht mehr weiter reden. Bis morgen musste sie ein Urteil für die Veröffentlichung im Familiengerichtsbulletin überarbeiten. Das weitere Schicksal zweier jüdischer Schulmädchen war mit der Entscheidung, die sie im Gericht verkündet hatte, bereits besiegelt, aber der Text musste noch geglättet und daraufhin durchgesehen werden, dass ja keine religiösen Gefühle verletzte und somit Berufungsgründe bot. Draußen schlug Sommerregen an die Fenster; weit weg, jenseits von Gray's Inn Square zischten Reifen über nassen Asphalt. Er würde sie verlassen, und die Welt würde sich weiterdrehen. Mit angespannter Miene zuckte er die Schultern, wandte sich ab und ging aus dem Zimmer. Beim Anblick seines Rückens überkam sie die kalte Angst. Am liebsten hätte sie ihm nachgerufen, doch die Furcht, ignoriert zu werden, hielt sie zurück. Und was hätte sie auch sagen sollen? Halt mich fest, küss mich, nimm das Mädchen? Sie hörte seine Schritte im Flur, ihre Schlafzimmertür ins Schloss fallen, dann nur noch Stille in der Wohnung, Stille und Regen, der seit einem Monat nicht aufhören wollte."
    In der Tat zieht Jack kurz nach dem Streit mit dem Rollkoffer durch die regennasse Nacht von dannen. Und damit ist das Interesse McEwans an dieser Figur auch leider schon weitgehend erschöpft. Mit seinem trotzigen Beharren auf dem Recht, noch einmal ein sexuelles Abenteuer genießen zu dürfen, bevor seine Manneskraft versiegt, wirkt dieser Ehemann ziemlich einfältig. Und wie ein Trottel kehrt er etwas später reumütig und desillusioniert in das gemeinsame Heim zurück. Der Sex mit einer gewissen Melanie, einer Statistikerin, erwies sich als Fehlschlag. Die berufliche Zuschreibung begünstigt allerdings auch nicht die Erwartung des Lesers, dass es hätte anders kommen können. Intelligenz, Sensibilität und Komplexität gesteht McEwan, der ja eigentlich ein Meister der psychologischen Figurenzeichnung ist, nur – allerdings etwas unterkühlt - seiner Protagonistin Fiona zu. Jack ist lediglich Statist in diesem Kammerspiel. Denn der eigentliche Konflikt Fionas mit sich, ihrer Ehe und den Fragen, die ihr Beruf aufwirft, findet auf einer anderen Ebene statt.
    Medizinische Hilfe abgelehnt - wegen des Glaubens
    Fiona muss von einem Tag auf den anderen über einen brisanten juristischen Fall entscheiden, bei dem es um Leben oder Tod geht. Der noch nicht ganz 18-jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Um ihn erfolgreich behandeln zu können, müssen ihm Blutprodukte zugeführt werden. Aber Adam und seine Eltern, Kevin und Naomi Henry, die ihn vor Gericht vertreten, sind Zeugen Jehovas. Und diese Glaubensgemeinschaft lehnt eine Vermischung mit Fremdblut strikt ab, weil es nach ihrem Glauben die Seele verschmutze. Das Krankenhaus will Adams Leben retten, seine Eltern und er selbst bewerten die Reinheit des Blutes jedoch höher als die irdische Existenz. Aber da der Junge noch nicht volljährig ist, muss das Gericht entscheiden.
    McEwan hat umfassend recherchiert. Nachzulesen in seinem Essay "The law versus religious belief" von 2O14 in der britischen Tageszeitung "The Guardian". Da ist dieser Fall genauso wie alle anderen Gerichtsfälle, die in diesem Roman ausgebreitet werden, beschrieben. Der juristische Fall, der hier im Buch verhandelt wird, hat sich tatsächlich in ähnlicher Weise in der Realität abgespielt. Der Konflikt, im wahren Leben wie auch im Buch, ergibt sich unter anderem aus der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Demnach hat ein Gericht bei einer minderjährigen Person bei allen Entscheidungen dem 'Kindeswohl' den Vorrang zu geben und nicht in erster Linie die Interessen der Eltern, zum Beispiel ihre religiöse Orientierung, zu berücksichtigen. Aber wie ist nach dem Kindeswohl zu entscheiden, wenn ein rechtlich fast mündiger Mensch aus religiösen Gründen den Tod in Kauf nehmen will, obwohl er das Leben haben könnte?
    Die Entscheidung für das Leben findet in Ian McEwans Geschichte ihren Weg über die Künste. Fiona, eine begabte Hobby-Pianistin mit literarischer Bildung, beschließt, den Kranken vor ihrer Urteilsfindung im Hospital zu besuchen, als sie hört, dass Adam Gedichte schreibt. Das Ringen der miteinander streitenden Parteien vor Gericht und die Szene am Krankenbett des Jungen gehören zu den atmosphärisch dichtesten Passagen in diesem Buch. Ihr Gespräch über Gott, über religiöse Grundsätze und den Wert des Lebens tritt in den Hintergrund als Adam damit beginnt, ihr eines seiner Gedichte vorzutragen. Damit ist eine erste Brücke geschlagen. Dann entdeckt Fiona seine Geige ...
    "'Schnell, zeig mir deine Geige, bevor ich gehe.' Der Kasten war unter dem Bett, gleich neben einem Schränkchen auf dem Boden. Sie hob ihn auf und legte ihn Adam in den Schoß. 'Ist bloß 'ne Übungsgeige für Anfänger'. Dennoch nahm er sie mit äußerster Vorsicht heraus, und gemeinsam bewunderten sie das geschwungene Holu, das schwarze Griffbrett und die zierliche Schnecke. Sie legte ihre Hand auf die lackierte Oberfläche, und er schob seine nahe an ihre. Sie sagte: 'Das sind schöne Instrumente. Ich finde immer, ihre Gestalt hat etwas sehr Menschliches.' Schon griff er nach dem Übungsnotenheft auf dem Schränkchen. Das hatte sie nicht beabsichtigt, aber wie konnte sie ihn vom Spielen abhalten? Seine Krankheit, sein naiver Eifer machten ihn unangreifbar. 'Vor genau vier Wochen habe ich angefangen, und ich kann schon zehn Stücke.'( ... ) Aber das hier ist bis jetzt das Schwerste. Zwei Kreuze. D-Dur.'(... ) Er saß bereits aufrecht, die Geige unters Kinn geklemmt, und ohne sich erst mit Stimmen aufzuhalten, begann er zu spielen. Sie kannte sie gut, diese traurige, entzückende Melodie, eine alte irische Weise."
    Benjamin Brittens Vertonung des Gedichts "Drunten beim Weidengarten" von William Butler Yeats mit der für den weiteren Verlauf dieses Falls leitmotivischen Verszeile "Ich war jung und töricht ... " knüpft ein emotionales Band zwischen der Richterin und dem jungen Zeugen Jehovas. Nicht sein Bekenntnis, seine Willensbekundung ist schließlich ausschlaggebend bei Fionas Urteilsspruch, sondern Adams Begeisterung für die Kunst, die die Richterin mit ihm teilt. Eine recht fragwürdige und seltsam gefühlsbeladene Argumentation ist das, die der Autor hier für seine ansonsten doch so professionell agierende Protagonistin entwirft.
    "( ... ) seine Liebe zur Poesie, seine erst vor kurzem entdeckte Leidenschaft für die Geige, seine lebhafte Intelligenz, sein verspieltes, warmherziges Wesen, das ganze Leben und die ganze Liebe, die noch vor ihm liegen. Kurz, nach meinem Dafürhalten haben A, seine Eltern und die Gemeindeältesten einen Entschluss gefasst, der mit dem Kindeswohl von A, welches dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen hat, nicht zu vereinbaren ist. Vor diesem Entschluss muss er geschützt werden. Er muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden. Dieser Fall war nicht leicht zu entscheiden. Ich habe As Alter ebenso in meine Abwägung einbezogen wie den Respekt, der jeder Konfession gebührt, sowie die Würde des Einzelnen und das daraus hervorgehende Recht, eine ärztliche Behandlung zu verweigern. Nach meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine Würde."
    Das Leben ist bei einem intellektuell reifen und geistig gesunden jungen Menschen höher zu bewerten als seine Würde? Es wird im Buch keinesfalls deutlich, wie Fiona Maye zu dieser problematischen Gewichtung kommt, die ja Adam – obwohl rein menschlich nachvollziehbar - damit die Entscheidungsfähigkeit abspricht.
    Adam, von Fiona und ihren gemeinsamen Interessen fasziniert, lässt sich nach dem Urteilsspruch nicht nur mit Blutkonserven behandeln, sondern schwört auch seinem Glauben ab. Der Konflikt mit seinen Eltern bleibt nicht aus und so sucht er wiederholt Fionas Nähe. Der dramatische, vage erotisch aufgeladene Schluss soll hier nicht verraten werden. Aber die Richterin muss sich am Ende ihr ganz persönliches Versagen eingestehen.
    Das ist durchaus spannend erzählt. Aber die Figur des jungen Adam, sein Verhältnis zu seiner Religion und zu Fiona, wird letztendlich nicht glaubwürdig entwickelt. Die Schnelligkeit und aufmüpfige Leichtigkeit, mit der sich Adam gegenüber Fiona von seiner Religion distanziert, wirkt absurd. Das hat auch mit der Sprache zu tun. Redet so ein 17-Jähriger – in dieser Abgeklärtheit und plakativen Formelhaftigkeit?
    "'Nachts, wenn keiner da war, hab ich mein Abschiedsvideo geprobt, wie so ein Selbstmordattentäter. Das wollte ich mit meinem Handy aufnehmen. ( ... ) Ehrlich, ich war ein Idiot.'
    'Und wo war Gott?'
    'Der lag allem zugrunde. Schließlich waren es seine Gebote, die ich befolgte. Aber in erster Linie ging es mir um das aufregende Abenteuer und dass ich einen schönen Tod haben und von allen bewundert werden würde.'
    ( ... )
    'Es ging also gar nicht so sehr um deine Religion. Eher um deine Gefühle.'
    Er hob die Hände. 'Meine Gefühle kamen doch aus meiner Religion. Ich habe Gottes Willen erfüllt, und Sie und alle anderen hatten schlicht und einfach unrecht. Wie hätte ich denn in einen solchen Schlamassel geraten können, wenn ich nicht Zeuge Jehovas gewesen wäre?'
    Ian McEwan geht es in seinem jüngsten Buch "Kindeswohl" im Kern um die Auseinandersetzung mit Vernunft und Irrationalität, um die Frage, an welchem Punkt menschliches Handeln und Tun unvernünftig wird, das heißt, umschlägt in Amoralität – und das auf der Ebene des Privaten wie des Gesellschaftlichen. Das dabei ein Glaubenskonflikt und eine religiöse Sekte im Mittelpunkt des Geschehens steht, die dafür bekannt ist, Leben im Zweifelsfall für ein höheres Ziel zu opfern, ist sicherlich vom Autor sehr bewusst gewählt. Der britische Schriftsteller ist bekannt und zu Recht auch berühmt dafür, sein Ohr dicht am Zeitgeschehen zu haben. Das war nicht immer so. In der frühen Phase seines nun 40-jährigen literarischen Schaffens schockte der britische Autor gern die Öffentlichkeit mit Büchern voller Gewalt, sexueller Perversion und Hemmungslosigkeit – ohne erkennbaren gesellschaftspolitischen background. Dann aber entwickelte McEwan Figuren, die mit ihren Berufen gesellschaftliche Wirkung entfalten und die mit ihrem Handeln interessante Zeitfragen berühren. Nach dem Neurochirurgen und dem Physik-Nobelpreisträger ist es nun eben die Familienrichterin am Londoner High Court, die in einen tief greifenden Konflikt gerät und dabei an ihre Grenzen stößt.
    Juristisches Fachwissen wirkt angelesen
    "Kindeswohl" hätte ein guter Roman werden können. Dass er es nicht geworden ist oder nur zum Teil, hat mit den schon genannten Kritikpunkten zu tun. Aber auch mit der Tatsache, dass der Autor auf der formalen Ebene sein Thema wie auch seine Hauptfigur Fiona hemmungslos überfrachtet mit Fallbeispielen aus der Justizgeschichte und juristischem Fachwissen, das angelesen wirkt und sich nur recht und schlecht mit einem lebendigen Erzählduktus verbinden lässt. Die recherchierten Funde wirken eher implantiert, als dass sie mit dem Handlungsverlauf verwachsen würden. Schon im Roman "Saturday" mit seinem Hauptakteur Henry Perowne, einem Neurochirurgen, nervte die Flut der medizinischen Fachbegriffe, die den Erzählfluss hemmen.
    Am Schluss regnet es wieder oder immer noch in McEwans Roman. Und Fiona muss mit der bitteren Erkenntnis leben, dass vernünftiges Argumentieren nicht immer gleichbedeutend ist mit vernünftigem Handeln – im Beruf wie im Privatleben, auch wenn sich Letzteres schließlich zum Guten wendet. Ian McEwan hat in "Kindeswohl" ein gesellschaftspolitisch wie philosophisch interessantes Sujet gewählt, das er aber nur unzureichend zu durchdringen vermag. Die Ehegeschichte mit ihren verbreiteten Mittelstandsproblemen – Karriere, ein schönes Haus, aber keine Zeit für Sex und Kinder - ist einfach zu gewöhnlich und auch zu flach konstruiert für eine spannende Rahmenhandlung. Und der Gerichtsfall um die Zeugen Jehovas hat durchaus starke Szenen, aber zu deutlich spürt man als Leser immer wieder die Absicht des Autors, mit seinem Recherchematerial einen bestimmten Konflikt aufzubauen, in dem es ihm mehr um die Positionen geht als um seine Figuren. Warten wir auf den nächsten McEwan!
    Ian McEwan: "Kindeswohl"
    Diogenes Verlag
    224 Seiten, 19.90 Euro