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Ich bedaure nichts

Die Perlen muß man sich herauspflücken aus diesen 360 Seiten Tagebuchnotizen, von 1955 bis ‘63. Zu viel Klatsch findet sich darin, zu viel Drehen im Kreise und heillose Verstrickungen, zu viele Intimitäten. Der Voyeur kommt schnell auf seine Kosten, andere müssen Geduld aufbringen. Dann finden sich auch Geschichten aus dem Alltag der DDR: die Emanzipation einer Frau und ihr mühsamer Weg zur Literatur; Beobachtungen in Hoyerswerda oder Einsichten in Machtstrukturen, ihre Anfechtungen als angehende Kulturfunktionärin, ihre Standfestigkeit gegen Stasiverwicklungen. Die Herausgeberin Angela Drescher streicht heraus, was ihr bei der Lektüre besonders unter die Haut gegangen sei: "Diese Schilderungen der Schriftstellerkongresse oder diese Begegnungen mit Walter Ulbricht, diese sogenannten Aussprachen mit Künstlern haben mich am meisten interessiert und auch richtig mitgenommen. Weil ich ja nun doch jünger bin, aber: Man hat sofort den Ton im Ohr, wie da mit Künstlern umgegangen wurde. Man versteht manches mehr, über das heute leichthin geredet wird. Warum haben die damals nicht ... ? Und warum sind die nicht ... ? Wenn man das sich einmal durchgelesen hat und weiß, wie die fertiggemacht wurden, wirklich bekannte Leute Konrad Wolf oder Cremer oder die Weigel oder Langhoff oder andere, wie die zu Kreuze kriechen mußten, wie sie vier, fünf, sechs Aussprachen hatten zu einem Problem und dann auch wirklich verbal angegriffen wurden in einer ganz unflätigen Art - dann wird man, glaube ich, ein bißchen vorsichtiger mit solchen Urteilen, und das hat mich lange beschäftigt."

Stefan Berkholz |
    Die junge Brigitte Reimann, damals, im Januar 1963, noch keine dreißig, behielt ihren eigenen Kopf, ließ sich nicht wirr machen von Parolen und ersten persönlichen Erfolgen. Und das, obwohl sie sich als überzeugte Sozialistin zu diesem anderen deutschen Staat bekannte, diesen ersten staatlichen Versuch in Deutschland tatkräftig mit aufbauen wollte. "Ich weiß nicht, ob man sagen kann, sie war ein politischer Mensch", so Drescher. "Aber sie hat auf jeden Fall mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten. Und auch in Momenten, wo andere eher zurückgezuckt sind - sie schreibt ja dann auch manchmal: warum sagen die nichts? Oder: Ist es denn wirklich so gefährlich? -, daß sie sich da geäußert hat zu Problemen, also zum Städtebau, oder gerade zu diesen Schwierigkeiten, mit Arbeitern Literatur zu diskutieren, das hat sie ja auch für Ulbricht zumindest interessant gemacht, auch als Gesprächspartnerin. Er hat sie dann sehr hofiert und versucht, in tausend Gremien reinzubringen, zum Beispiel in diese Jugendkommission '63. Sie hat diese Arbeit sehr ernst genommen und hat dann aber zugleich gemerkt, daß sie da auch wieder benutzt wird."

    Sie weigerte sich beispielsweise hartnäckig, im Jubelband für Ulbricht einen Beitrag zu veröffentlichen, und auch in der Nachauflage, dem dickeren Band zum 75. Geburtstag des Staatschefs, 1968, findet sich von ihr eben nichts. Aber Stimmen wie Wieland Herzfelde, Jürgen Kuczynski, Anna Seghers, Helene Weigel, Arnold Zweig waren sich nicht zu schade, der Macht Ergebenheit zu signalisieren. Die Eigensinnigkeit schadete Brigitte Reimann offenbar nicht. Im Gegenteil: sie wurde wohl eher geachtet (und auch umworben) als die billigen Erfüllungsgehilfen. Und Koketterie war natürlich auch dabei, der Charme und der Reiz einer quirligen, lebenshungrigen Frau. Angela Drescher dazu: "Sie hat ja so ein bißchen die Rolle des Narren gespielt. Sie hat sich etwas hinter ihre Mädchenhaftigkeit und Naivität versteckt in solchen Situationen. In dem 64er Tagebuch gibt's eine Stelle, da berichtet sie über eine Akademietagung, wahrscheinlich hoch wissenschaftlich, und sie langweilt sich tödlich an diesem Nachmittag. Irgendwann steht sie dann auf und sagt: Was ist das überhaupt? Ihr redet immer vom sozialistischen Realismus, ich habe das überhaupt nicht verstanden. Erklärt mir's doch mal einer. - Natürlich kann's ihr keiner erklären, sie hat einen Lacherfolg damit. Und das ist dieser Effekt - der König ist nackt."

    Anfang 1960 zog Brigitte Reimann mit ihrem zweiten Ehemann, Siegfried Pitschmann, nach Hoyerswerda, der sozialistischen Reißbrett- und Vorzeigestadt. Als staatlich geförderte Autorin sollte sie ihre Beobachtungen aus der Niederlausitzer Industriegemeinde schildern, später auch verarbeitet in ihrem letzten Roman "Franziska Linkerhand". Ernüchternd sind ihre Eindrücke von Anfang an: "Diese ganze Stadt Hoyerswerda war mir unsympathisch in ihrer aufdringlichen Neuheit, sie hat keine Tradition, keine Atmosphäre, sie ist nur modern", trägt sie bereits Ende Januar 1960 in ihr Tagebuch ein. Und fügt hinzu: "In dieser schrecklichen Stadt muß man heucheln, um leben zu können, aber ich kann nicht mit Heuchelei leben". Und obwohl sie brennend am Aufbau sozialistischer Planbauten interessiert ist, auch die Vorzüge sieht und beschreibt: Versäumnisse, Fehler, Pannen "in dieser Stadt des organisierten Pfusches", wie sie einmal zornig notiert, überwiegen. Heute sehen wir zudem Ursachen für das, was sich vor ein paar Jahren in den ersten rassistischen Exzessen entlud. Manisch hielt Brigitte Reimann ihre Beobachtungen und Entwicklungen fest, atemlos, wortreich, wie ihr der Schnabel gewachsen war und ohne Furcht vor unerwünschten Lesern. Das detaillierte Bild eines zerrissenen Leben entsteht. "Dieses Leben bildet ja dann irgendwann mit dem Werk eine Einheit", erläutert die Herausgeberin. "Ich habe immer das Gefühl, daß auch die Tagebücher dieses eigentliche Werk am Ende gewesen sind. Weil sie da am unverstelltesten ist und weil sie da am wenigsten Rücksichten nimmt beim Schreiben. Sie schreibt ja dann, während sie an ‘Franziska Linkerhand’ arbeitet, jetzt läßt sie sich nicht mehr reinreden, und jetzt wird sie nur noch so schreiben, wie sie schreiben will. In den Tagebüchern ist sie ja schon viel früher auf diesem Stand."

    Dennoch: Zu behaupten, dies sei "vielleicht ihr eigentlicher Roman", wie es der strategische Verlagstext vormachte (und viele Rezensenten dann bereitwillig nachplapperten), ist wohl zu viel der Werbung. Und wäre zugleich ein Armutszeugnis, ja eine direkte Absage an die Buchautorin Brigitte Reimann. Mag sein, daß der Verlag mit diesen Tagebuchnotizen so etwas wie eine Renaissance für das Werk einläutet. In diesem Jahr, im Februar, ist an ihren 25. Todestag zu erinnern, im Juli dann wäre ihr 65. Geburtstag zu feiern. Und Brigitte Reimanns private Notizen finden ohnehin ihr Publikum, wie verschiedene Briefbände belegen. Nun sorgt der Aufbau-Verlag für Neuauflagen ihrer Bücher, Taschenbuchausgaben stehen bevor, und für den April ist Band zwei der Tagebücher angekündigt, die Jahre 1964 bis 1970 umfassend, weitere 400 Seiten. Es ist, in diesem Umfang, etwas für eingefleischte Freunde der Reimann-Gemeinde. Und es fragt sich, ob der Verlag nicht besser beraten gewesen wäre, eine strengere Auswahl in einem Band zu präsentieren. Einen besonderen Reiz der Tagebücher hebt Angela Drescher, die Herausgeberin, für die Spezialisten unter den Lesern hervor: "Der Vergleich mit dem, was dann daraus geworden ist an Literatur, das kann man ja an diesen Tagebüchern ganz deutlich sehen. Manchmal wollte ich gerne noch Anmerkungen machen und hab's mir dann verkniffen, weil man sieht, welche Leute sie kennenlernt, und man erinnert sich dann an Figuren aus ihren Büchern, die manchmal fast mit den gleichen Worten beschrieben oder eingeführt werden. Und so einen Prozeß kann man natürlich selten verfolgen bei einem Dichter. Da freuen sich dann die Germanisten."