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"Ich bin alle meine Figuren"

Friedrich Ani hat seinen 17. Krimi mit Protagonist Tabor Süden vorgelegt. In der Figur des Ermittlers findet der Autor sich auch selbst wieder. Denn in jeder seiner Charaktere stecke ein bisschen von ihm selbst, sagt Ani. Sein Werk sei "eine einzige Autobiografie".

Friedrich Ani im Gespräch mit Sandra Hoffmann |
    Sandra Hoffmann: Eigentlich muss immer erst einmal ein Mord her in einem Krimi. Denken wir uns und staunen, wie still, wie atmosphärisch dicht und in sich ruhend Friedrich Ani seinen den kundigen Lesern seit der "Erfindung des Abschieds" bekannten Tabor Süden in einer Kneipe beim Bier sitzen lassen kann. Es passiert viel in diesem Raum, aber kein Mord. Und später? Das verraten wir nicht!

    Er trinkt kein Bier, obwohl er es immer tut. Er tut es jetzt nicht, weil er einen Auftrag zu erfüllen hat: Er ist einbestellt.

    Es ist Friedrich Anis siebzehnter Süden-Krimi. Seither ist Tabor Süden um 15 Jahre gealtert, und von der Vermisstenstelle der Polizei in eine Detektei umgezogen. Und mit Leidenschaft tut er etwas, was ihn von den meisten seiner Kollegen unterscheidet: Tabor Süden sucht keine Gewaltverbrecher, er sucht nach verschwundenen Menschen.

    Friedrich Ani: Vielleicht bin ich doch letztendlich unter Lebenden als unter Toten. Das Beschreiben einer Suche nach Jemandem ist ja eng verbunden mit der Identifizierung eines Lebenden und dem Herausfinden der Biografie eines Verschwundenen, und das finde ich sogar eine literarische Herausforderung, dass man eine Biografie von jemandem erst sich erschreiben oder ermitteln muss. Denn, was scheinbar die Biografie des Verschwundenen war, stimmt offensichtlich nicht; der hat ja eigentlich eine ganz andere Biografie, von der niemand etwas wusste. Dieses Zusammenbauen der wirklichen Biografie, das ist die Aufgabe meines Süden, und das zu beschreiben, finde ich eine Herausforderung.

    Hoffmann: In "Süden und das heimliche Leben" sammelt die Belegschaft einer Gaststätte ausreichend Geld, um mithilfe des Detektivs nach der Kellnerin Ilka Senner suchen lassen, die von jetzt auf nachher verschwunden ist, und deren Suche die Polizei bereits aufgegeben hat. Tabor Südens Recherchen beginnen schließlich doch mit einem Bier in der Kneipe, bei dem er sich mit seiner ihm eigenen Wortkargheit gegen die Sprachlosigkeit von fünf Männern und der Gastwirtin durchsetzt. Und schließlich erfährt, dass seine Auftraggeber eher daran glauben, dass die Kellnerin ein schweres Los zu ertragen hat, ein großes Problem mit sich selbst, als dass ihr durch eine andere Person etwas angetan worden sein könnte.

    Ani: Die Ilka Senner arbeitet als Kellnerin, was ja ein Job ist, den fast jeder machen kann, wenn er mit Leuten umgehen kann und eine gewisse Menschenfreundlichkeit hat. Die Ilka Senner macht aber diesen Job, weil sie bestimmte Dinge damit verbergen kann, nämlich ein Geheimnis, das sie seit ihrer Jugend mit sich herumträgt, und es gelingt ihr auf offener Bühne am Besten; also unter Menschen kann sie sich am besten verbergen. Das ist auch ein Motiv, das sich durch viele meiner Bücher zieht, dass Menschen in der Gegenwart von anderen am meisten unsichtbar werden, sofern man Unsichtbarkeit steigern kann.

    Hoffmann: Tabor Süden ist ein gründlicher Zuhörer und scharfer Beobachter. Bei allem, was er tut, widmet er sich der Suchbewegung, dem was fehlt, schält gewissermaßen aus dem Gesagten, das Ungesagte, aus dem Sichtbaren, das Unsichtbare, verharrt immer dann, wenn jemand glaubt, nichts über die verschwundene Person zu wissen. Er arbeitet sich an seinem Unwissen entlang, um aus dem Nichts das herauszuarbeiten, was schließlich ganz figürlich, lebendig erscheinen soll, als seine vermisste Person. Ähnlich erlebte der Autor, Friedrich Ani, den Schreibprozess seines aktuellen Romans.

    Ani: Am Anfang kenne ich mein Personal sehr gut, also die Figuren, die auftauchen sollen, die Haupt- und Nebenfiguren, und ich mache mir immer eine Skizze der Erzählung, aber das bedeutet nicht, dass ich genau festlege, wie es ausgeht. In dem Fall war es so, dass ich überhaupt nicht wusste, wie es ausgeht. Ich wusste schon, was zwischen der verschwundenen Kellnerin und dem Süden passiert, also dass es da eine Annäherung gibt, und dass er einen gewissen Erfolg haben wird bei der Suche, aber um welchen Preis, und was da am Ende passieren wird, das habe ich offen gelassen, und das war für mich sehr spannend.

    Hoffmann: Friedrich Ani ist außerordentlich erfolgreich mit seinen Krimis, für Süden und das heimliche Leben wurde er erst vor Kurzem mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Warum?

    Ani schreibt mehr als nur einen Kriminalroman, dessen Verbrechen, Verlauf und schließlich Aufklärung wir als Leser mit Spannung verfolgen. Ani schreibt Menschen aus Fleisch und Blut. Wir interessieren uns genauso für den melancholischen Sonderling Tabor Süden mit seinem Hang zu unsicheren Bindungen und gutem Bier, wie für jene Vermissten, deren Leben er aufrollt, indem er ihr Umfeld zum Erzählen bringt.

    Ani ist ein Milieu-Schreiber, er ist neugierig auf den Menschen als Beziehungs- und Sozialwesen, er geht mit ihm auf Abwege und Umwege, er schaut ihm auf die Finger, in die Seele, ins Herz. Er will das Leben und seine Abgründe erzählen.

    Ani: Ich kenne alle meine Figuren schon lange, ich bin aber erst spät in der Lage gewesen, sie zu beschreiben und deren Innenwelten zu beleuchten. 98 Prozent meiner Gestalten kommen aus einer Welt, die mir vertraut ist, und manchmal gibt es natürlich auch Figuren, die kommen aus Welten, die mir nicht so vertraut sind, dann begebe ich mich da hin.

    Hoffmann: Dass der Autor seine Figuren kennt, bedeutet aber noch lange nicht, dass er alles über sie weiß, erst recht nicht, wenn es um Menschen geht, die aus freien Stücken eine Identität aufgegeben haben, wie die Vermissten Friedrich Anis. Der Schreibende ist auch ein Suchender.

    Ani: Deswegen passt das ja so gut zusammen, zu schreiben über Vermisste und Verschwundene und das Handwerk des Schreibens, das ist sehr ähnlich, und auch das Schreiben kann ja sehr langsam sein, und kompliziert; man muss die Dinge ordnen, und man muss sich zurechtfinden, eigentlich in einem Chaos zuerst einmal. Und das, finde ich, ist eine Herausforderung.

    Hoffmann: Die Süden-Romane, so auch der ganz aktuelle, bilden ein urbanes Bild in all seinen Einzelheiten ab. Nicht irgendeines, sondern jenes Münchens, mit seinen konkreten Orten, wie Bahn- oder U-Bahnstationen, Straßen in Giesing und Umgebung, dem Zoo Hellabrunn, Kneipen. Wir könnten auf einer Stadtkarte die Wege von Tabor Süden nachzeichnen, wir könnten diesen Wegen in der Wirklichkeit folgen. Und noch mehr: Wir meinen den Wirt der Kneipe, in der die verschwundene Kellnerin gearbeitet hat, schon einmal gesehen zu haben, wir denken die Kellnerin zu kennen, so ausgezeichnet sind Anis Protagonisten beschrieben. Wir wissen, welches Bier Tabor Süden gut und welches ihm gar nicht schmeckt. Und natürlich stellen wir dem Autor aus diesem Grund die immer gleiche Frage: Wie viel hat Tabor Süden, wie viel haben Ihre Figuren mit Ihnen selbst zu tun?

    Ani: Vielleicht kann ich das so ausdrücken: Ich bin nicht Tabor Süden, aber ich bin alle meine Figuren. Das bin schon ich. Also, die sind Teil von mir, und insofern ist das eine einzige Autobiografie, die ich da schreibe. Und das Tolle ist aber: Das weiß niemand; weil niemand kennt mich ja. Ich habe begonnen zu schreiben, weil ich mich finden wollte, weil ich sehen wollte, wer ist dieser Mensch, was macht der eigentlich, wieso ist der so, so seltsam und melancholisch? Und ich glaube, dass es jedem Autor so geht, dass man durch das Schreiben Erfahrungen macht, die man sonst nicht machen würde, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, auch in dem beklemmenden Ausmaß, dass man auf innere Zusammenhänge stößt, die man sonst gar nicht erfahren hätte. Vielleicht durch das Lesen anderer Bücher; ich lese überhaupt nur Bücher, in denen ich einen Autor wahrnehme.

    Hoffmann: Wer es noch nicht gewusst oder bislang nur geahnt hat, Friedrich Ani ist nicht nur ein begnadeter Krimiautor, sondern er schreibt, seit er ein junger Mann ist auch Gedichte, zuletzt erschien 2009 der Lyrikband "Mitschnitt" bei Zsolnay. Und er schreibt Kinderbücher. So erklärt sich leicht, was dem Leser erst ein wirkliches Vergnügen an seinen Romanen bereitet: Sie schöpfen nicht nur aus unserem gefährlichen Leben, sondern sie sind auch noch sprachlich exzellent gearbeitet. Sie leben!