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"Ich bin erschrocken über das Freund-Feind-Denken"

Der Gründer der Initiative "ProSIT", Johannes Bräuchle, gehört zu den Befürwortern des Bahnhofprojekts "Stuttgart 21". Der Pfarrer glaubt daran, dass Befürworter und Gegner von "Stuttgart 21" auf Augenhöhe reden könnene, wenn die Beschimpfungen aufhören.

Pfarrer Johannes Bräuchle im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.09.2010
    Christoph Heinemann: In Stuttgart sind wir jetzt am Telefon mit Pfarrer Johannes Bräuchle verbunden, dem Gründer der Initiative "ProSIT". Das ist kein Verein fürs Viertele schlotzen, zu Hochdeutsch also kein Trinkspruch für das südwestdeutsche Glas Wein. "ProSIT" bezieht sich auf das Wachsen, Blühen und Gedeihen des Projekts "Stuttgart 21", das Sie begrüßen und befördern.
    Guten Tag, Herr Bräuchle.

    Johannes Bräuchle: Guten Tag!

    Heinemann: Was bedeutet "ProSIT" noch mal genau?

    Bräuchle: Für "Stuttgart 21" Tiefbahnhof. "S" steht für Stuttgart, das "T" für Tiefbahnhof und das "I", das trägt die Ziffer 21.

    Heinemann: Und was ist an der Tieferlegung so toll?

    Bräuchle: An der Tieferlegung ist sehr vieles großartig. Ganz kurz nur: Wenn die Gleisfelder wegkommen, wird der trennende Keil durch unsere Stadt weggenommen. Das heißt, die alten Gleisfeld-Sünden werden durch eine Parkerweiterung ersetzt. Feinstaub und Lärm kommen unter die Erde in die Tunnel und nach Alt ist jetzt Neu dran, und das ist was Schönes.

    Heinemann: Wie viele Milliarden Euro sind dem Steuerzahler Bräuchle die Tieferlegung des Keils wert?

    Bräuchle: Zunächst bekommen wir einmal die Milliarden, die wir in die Finanzausgleichstöpfe als Baden-Württemberger bezahlt haben, da kriegen wir jetzt einfach mal was zurück. Uns Stuttgarter kostet es ein paar Millionen - ich glaube, es sind so knapp 300 Millionen -, und das können wir mit unserer Stadtkasse. Wir haben uns über viele Jahre darauf vorbereitet, das können wir gut stemmen.

    Heinemann: Und die Milliarden fehlen für bessere Schulen, für bessere Unis. Was ist wichtiger, der Keil oder die Bildung?

    Bräuchle: Das ist nicht verrechenbar, das weiß man ja. Das brauche ich ja auch Ihnen jetzt hier so nicht im Detail ausführen. Diese Milliarden, die sind für die Bahn, sind für Bahnprojekte, und zwar für dieses Bahnprojekt gesetzt und können nur für dieses Projekt finanziert werden, und wenn sie weg sind, wenn wir das nicht tun, dann sind diese Gelder weg und wir stehen oder sitzen dann auf einem 100 Jahre alten Verkehrskonzept. Das kann nicht unser Wunsch sein.

    Heinemann: Herr Bräuchle, warum sind Sie ausgerechnet als Pfarrer aktiv geworden und haben sich in diesen doch sehr emotional geführten, fast hätte ich gesagt Wahlkampf, denn das ist ja auch ein Teil des Wahlkampfes schon, mit hineingenommen?

    Bräuchle: Ja, das wundert mich dann auch ein wenig.

    Heinemann: Wundern Sie sich über sich selbst?

    Bräuchle: Der Auslöser war, dass ich erschrocken bin über das Freund-Feind-Denken und über die Aufteilung zwischen den Guten und den Bösen. Ich bin Pfarrer hier in Württemberg, wohne in dieser Stadt, bin Bürger dieser Stadt, und diese Stadt verstehe ich so wie andere Städte und Dörfer auch als Gemeinwesen. Das heißt, man ist gemein, man ist gemeinsam unterwegs, man hat ein Wesen, das heißt ist etwas Lebendiges, ein lebendiger Organismus, und jetzt ist Besinnung angesagt. Demokratie lebt von der freien Meinungsäußerung und bei unterschiedlichen Meinungspositionen vom Dialog, und das fehlt mir. Deshalb wollte ich mich einmischen.

    Heinemann: Wie erklären Sie sich diese Heftigkeit des Protestes? Kreuzbrave Bürger protestieren da höchst erregt für oder gegen "S 21".

    Bräuchle: Es ist mir ein Rätsel! Wir haben in einem Gemeinwesen, wir haben auch in Freundeskreisen unterschiedliche Parteizugehörigkeiten, wir haben unterschiedliche Positionen in manchen wirtschaftlichen und sonstigen Dingen und Themen, und jetzt kommt ein Thema, ein Verkehrskonzept, ein ökologisches Projekt, und da trennen sich die Meinungen in einer emotionalisierten Art und Weise, wie ich das so noch nie erlebt habe. Ich weiß es nicht, was Menschen dazu treibt, andere ungefragt Lügner zu nennen, Betrüger. Auch ich selber werde da mit eingereiht, weil ich ja jetzt zu den Bösen gehöre, denn ich bin ja für dieses Projekt. Also das ist mir ein Rätsel und ich erschrecke darüber und möchte das Meinige dazu beitragen, dass deeskaliert wird, dass Positionen wieder klar und deutlich gesagt werden können ohne Freund-Feind-Denken.

    Heinemann: Herr Bräuchle, die Landes-SPD, die "Stuttgart 21" bisher unterstützt hat, will jetzt prüfen lassen, ob die Bürger und Bürgerinnen in einer Volksabstimmung über dieses Vorhaben abstimmen können. Sind das für Sie jetzt Weicheier, oder ist das nicht der verantwortlichere Ansatz als das "Augen zu und durch" der Landesregierung?

    Bräuchle: Ich bin nicht beauftragt, das zu bewerten, auch ethisch oder wie auch immer zu bewerten, die Haltung der SPD, aber ich sage natürlich klar: Hier ist ein Projekt, ein geplantes Projekt, es ist ein Auftrag beschlossen, es ist vergeben, der Bauprozess läuft, das ist Recht, und ich sage ein absolut klares Nein zu jedwelcher Machtprobe. Aber ich möchte die, die für dieses "K", für diese K-Alternative, also für die Beibehaltung des Alten sind, die möchte ich natürlich für einen kritischen Begleitungsdialog gewinnen.

    Heinemann: Ganz kurz zum Schluss. Wie können Sie sich einen Kompromiss vorstellen? Man kann ja nicht einen halben Bahnhof tieferlegen.

    Bräuchle: Kompromiss? – Es gibt wahrscheinlich keinen Kompromiss in diesem Sinne des Begriffs, sondern es gibt nur ein neues gemeinsames Bemühen, miteinander zu reden. Das glaube ich sehr wohl, dass das möglich ist, und dazu müsste eigentlich mindestens einmal der sogenannte Bauzaun am Bahnhof gereinigt werden von allen Beschimpfungen, Drohungen, Unterstellungen und Unwahrheiten. Das wäre ein erster Schritt, dass man in eine Atmosphäre kommen kann, wo man sich auf Augenhöhe wieder begegnen kann.

    Heinemann: Pfarrer Johannes Bräuchle, der Gründer der Initiative "ProSIT" für "Stuttgart 21". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.