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"Ich bin froh, dass die Demokratie diese Stärke gewonnen hat"

Wissenschaftlerin, Politikerin und Richterin: Jutta Limbach im Deutschlandfunk-Interview über 60 Jahre Bundesrepublik, den Fall der Mauer, Politikverdrossenheit und Lernen bis zum letzten Tag.

    Ihr politisches Engagement gehörte zur Familientradition, und wie ihre Großmutter – sozialdemokratisches Mitglied der Weimarer Nationalversammlung – und ihre Eltern fand Jutta Limbach in der SPD ihre politische Heimat. Sie personifizierte als Wissenschaftlerin, Politikerin und Richterin den Gleichheitsgrundsatz: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Jutta Limbach wurde am 27. März 1934 in Berlin geboren, nach dem Abitur begann sie das Jurastudium, ursprünglich mit dem Ziel, Journalistin zu werden. Sie wurde schließlich die erste Juraprofessorin an der Freien Universität Berlin, als Mutter dreier Kinder. Ihre politische Karriere begann, als sie vor 20 Jahren vom neugewählten, regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, als Justizsenatorin in sein rot-grünes Kabinett berufen wurde. 1994 wurde sie zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt und noch im selben Jahr zur Präsidentin. Wichtige und umstrittene Urteile fielen in ihrer Amtszeit. Nach ihrem Ausscheiden aus Altersgründen stand sie bis ins vergangene Jahr hinein an der Spitze des Goethe-Instituts.


    Jutta Limbach: Ich bin froh, dass die Demokratie diese Stärke gewonnen hat. Das war ja nicht von Anfang an so.

    In 60 Jahren Souveränität gewonnen

    Dieter Jepsen-Föge: Frau Professor Limbach, wir führen unser Gespräch kurz vor der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag, der Souverän, das Volk, nimmt sein wichtigstes Recht wahr. Aber das Volk hat auch die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht weiß, was denn aus seinem Votum konkret wird, wem jemand mit seiner Zweitstimme für die Liste einer Partei schließlich in die Regierung hilft. Gerade nach den Landtagswahlen in Thüringen und im Saarland kann man sehen, dass vieles möglich ist. Die Parteien jonglieren mit sogenannten Optionen. Dies wird als ein Grund für die Distanz eines wachsenden Teils der Bevölkerung zum politischen System gesehen. Stimmt Sie dies bedenklich?

    Jutta Limbach: Nein, es stimmt mich nicht bedenklich. Schauen Sie, selbst wenn wir nur zwei Parteien hätten und ich wählte die eine davon, kann ich doch im Regelfall gar nicht vorher wissen, welche nun gewinnt, ob die, der ich meine Stimme gegeben habe, als Gewinnerin aus dieser Wahl hervorgeht. Ich denke, dass es ja nicht darum geht, dass der einzelne Wähler nun schließlich weiß, was kommt dabei heraus, sondern das Ergebnis der Wahl, das heißt also im Grunde genommen, die Abstimmung der vielen und die dabei hervorgetretenen politischen Kräfteverhältnisse sind es schließlich, die zur Regierungsbildung führen. Und dass das vorher mit Ungewissheiten verbunden ist, scheint mir selbstverständlich zu sein.

    Jepsen-Föge: Wie stabil erscheint Ihnen denn diese Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes und 20 Jahre nach dem Fall der Mauer?

    Limbach: Ich war bei dem Ende des Zweiten Weltkriegs elf Jahre alt und habe die darauffolgenden Jahre sehr bewusst erlebt. Und wenn ich von daher das heute beurteile, muss ich sagen: Ich bin froh, dass die Demokratie diese Stärke gewonnen hat. Das war ja nicht von Anfang an so, sondern erst in den 80er-Jahren hat sich das eigentlich konsolidiert. Dann hat es immer wieder – durch die Wiedervereinigung oder jetzt jüngst durch die Finanz- und Wirtschaftskrise – große Unsicherheiten gegeben und man hat sich gefragt: Wird die Demokratie, wird unsere Demokratie das aushalten oder ist sie nicht im Grunde genommen eine Staatsform, die Wohlstand voraussetzt? Und ich freue mich, dass wir diesen kleinen Beweis erbracht haben, dass auch in Krisenzeiten sich die Demokratie als stabil erweist.

    Jepsen-Föge: Sehen Sie das schon als Beweis?

    Limbach: Wenn ich mich gegenwärtig umsehe – und zu Anfang ist ja doch mehr als ein sanfter Schrecken in all uns gefahren, als Lehman Brothers ins Schleudern geraten ist … dass die Menschen im Grunde genommen überhaupt nicht panikhaft reagiert haben hier in Deutschland. Und dann will ich als Sozialdemokratin gerne ein Lob auch an die Kanzlerin loswerden, dass sie in dieser Situation die Courage hatte, deutlich zu machen: Ihr Sparer werdet euer Geld nicht einbüßen. Das hat mit dazu beigetragen. Ich denke, es ist doch in diesen 60 Jahren Erfahrung gesammelt worden, Souveränität gewachsen, die uns gestattete, auch solche Krisen wenn auch nicht zu meistern, aber doch mit einem gewissen Anstand zu nehmen.

    Jepsen-Föge: Es hat ja einmal den Titel eines Buches von René Allemann gegeben: "Ist Bonn doch Weimar?" Das war die ängstliche Frage, dass diese Demokratie das Schicksal der Weimarer Republik erleiden könnte. Nun haben wir heute gerade wieder eine Situation, wo wir eine Auffächerung der Parteien haben. Die Linke ist sehr stark geworden. Frage für Sie: Auch überraschend stark? Auf der anderen Seite: Es ist auch die NPD und sind andere rechtsextreme Parteien in Landtagen erfolgreich. Könnte das Anlass zur Sorge geben, dass hier doch gleichsam Weimarer Verhältnisse wieder zurückkehren, dass es viele Koalitionen gibt, die eher negative Koalitionen sind und eine immer größer werdende Abkehr auf der anderen Seite von der Politik?

    Limbach: Ich gehöre nicht zu denen, die eine Wiederkehr von Weimar fürchten, aber richtig ist, dass wir ja bis zu dieser Finanz- und Wirtschaftskrise eigentlich immer sagen konnten: Dieser Bundesrepublik sind bisher wirtschaftliche Krisen erspart geblieben. Und einfach deshalb hat sie sich auch erfolgreicher entwickelt. Es hat sie länger gedauert als die Weimarer Republik. Aber wenn man genauer zurückblickt, woran die Weimarer Republik gescheitert ist, dann ist da gerade eine sehr wichtige Differenz: Wir haben heute in der Bundesrepublik viel mehr Demokraten und Demokratinnen, und daran hat es in allen gesellschaftlichen Bereichen in den jungen Jahren der Weimarer Republik gefehlt. Und das ist heute anders.

    Jepsen-Föge: Sagen Sie das trotz der Distanz zur Politik, zu den Parteien, die die Demoskopen ja feststellen?

    Limbach: Ich denke, dass diese Parteiverdrossenheit und Politikverdrossenheit auch zu einem guten Teil selbst von Politikern, die ich schätze, sehr stark herbeigeredet worden ist. Wir erwarten, hatte Wolfgang Thierse mal so hübsch gesagt, von der Politik alles, aber wir verachten ihr Personal zutiefst. Ich denke, dass auch die Protagonisten des gegenwärtigen Wahlkampfs für politische Leistungen stehen und bin erstaunt über das Gejammer in der Presse und in den anderen Medien.

    Limbach: Dass ich mich politisch engagieren wollte, das war für mich schon klar.

    Sprecher: Sozialdemokratin, Mutter und Professorin.

    Jepsen-Föge: Sie sind in einer sehr politischen Familie aufgewachsen. Ihre Großmutter war Mitglied in der Weimarer Nationalversammlung für die Sozialdemokraten, ich glaube, auch Ihre Urgroßmutter war schon politisch aktiv, Ihre Eltern waren es in der SPD. War es deshalb für Sie völlig klar, dass Sie sich auch politisch engagieren wollten und zwar bei den Sozialdemokraten?

    Limbach: Die erste Frage: Ja. Dass ich mich politisch engagieren wollte, das war für mich schon klar, und ich kann Ihnen auch sagen: Meine Großmutter und meine Eltern haben das auch in mich hineingesehen und ich habe auch schon in der Schule als Vertrauensschülerin und später als Vorsitzende der Schülermitverwaltung Verantwortung übernommen. Aber mich frühzeitig den Sozialdemokraten anzuschließen, da habe ich doch etwas gezögert, weil ich eben den Eindruck hatte, mein Gott, das ist ja schon wie vererbt beinah.

    Jepsen-Föge: Das hätte eigentlich Ihren Oppositionsgeist provozieren müssen.

    Limbach: Ja, genau so ist es. Und ich bin auch sehr spät, erst als ich 27 Jahre alt war, in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, einfach aus dem Wunsch heraus, mich politisch zu engagieren, und bei den Parteien, die ich vor mir sah, wusste ich, dass ich doch die größte Heimat bei den Sozialdemokraten finden werde und deshalb habe ich mich dann – wirklich aus rationalen Überlegungen her und nicht, weil das gewissermaßen von Vater auf die Tochter vererbt worden war – der Sozialdemokratischen Partei angeschlossen.

    Jepsen-Föge: Das war ja 1962, ein Jahr nach dem Bau der Mauer. Hängt das damit zusammen?

    Limbach: Das hing eher damit zusammen, dass ich mein zweites Staatsexamen gemacht hatte und jetzt mir aufgrund meines Studiums und meines besonderen Interesses in diesem Studium klar war, ich dürfte nicht ein selbstgenügsamer, dogmatischer Jurist sein. Und das kann ich nur verhindern, wenn ich auch mich politisch engagiere. Das war der Grund, nicht so sehr die Mauer, wie ich freimütig zugebe.

    Jepsen-Föge: Sie haben ja Jura studiert an der Freien Universität Berlin, ursprünglich mit dem Ziel, Frage, um Journalistin zu werden. Sie haben studiert dann in den 60er-Jahren. Wie haben Sie eigentlich das erlebt, was man sozusagen als Achtundsechziger-Entwicklung bezeichnet, als Studentenunruhen? Da waren Sie ja am Anfang vielleicht noch Studentin, aber denn ja doch mehr auf der Seite der Lehrenden.

    Limbach: Ja, ich war dann schon Assistentin und später Akademische Rätin und bin dann Professorin geworden, und da war eine andere Parallelität. Das waren nämlich die Jahre, als unsere drei Kinder geboren worden sind. Und das hat uns Eltern, meinen Mann und mich, die wir beide weiterhin berufstätig waren, natürlich sehr in Anspruch genommen. Und ich kann Ihnen nur eine Szene schildern, die das eigentlich ein bisschen bildhaft macht: Wir liefen in einer großen Demonstration der Achtundsechziger mit unserer Tochter im Kinderwagen entlang, und da kam jemand aus dieser Gruppe der Demonstranten …

    Jepsen-Föge: Wogegen haben Sie demonstriert?

    Limbach: Das war damals … Ich kann Ihnen heute nicht mehr den speziellen Anlass sagen. Jedenfalls kam ein junger Mann aus der Reihe der Demonstranten zu uns und sagte, Sie sollten mit Ihrem Kind doch besser in eine der Seitenstraßen abzwitschern.

    Jepsen-Föge: Es war ja schon etwas Besonderes, Sie erwähnten, dass Sie dann Professorin wurden, ich glaube, die erste Professorin an der juristischen Fakultät in Berlin.

    Limbach: Ja.

    Jepsen-Föge: War das ein Ergebnis … wurde das möglich als Ergebnis der Studentenunruhen, der Reformen an den Universitäten? Inwiefern haben Sie da gleichsam die Achtundsechziger erlebt?

    Limbach: Lassen Sie mich zunächst einmal antworten, wem ich zu verdanken habe, dass ich mich als erste Frau habilitieren konnte und dann noch Professorin geworden bin. Ich denke, da bin ich eher ein Geschöpf auch konservativer Professoren gewesen, die – und das darf ich ja von Juristen erwarten – Sinn dafür hatten, dass der Artikel 3 Absatz 2, also, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind, auch in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Aber die ganze Unruhe, von der Sie sprachen, die habe ich tatsächlich als ganz junge Dozentin miterlebt, die Streiks und …

    Jepsen-Föge: Die Go-ins…

    Limbach: … als unsere Lehrräume ausgelagert wurden. Einmal habe ich mit Dreien in einer kleinen Zehlendorfer Dorfschule gesessen. Das hat man schon sehr arg gespürt und ich will Ihnen offen sagen, dass mir das auch genutzt hat. Studenten waren einfach nicht mehr bereit, eine Professorin oder einen Professor Monologe halten zu lassen, ohne dass auch mal eine Frage ins Publikum gestellt wird oder dass ein Student auch Ihnen sagen kann, wissen Sie, eigentlich habe ich das gar nicht kapiert. Würden Sie das mir noch einmal schildern? Ich habe das auch zum Anlass genommen damals, den hochschuldidaktischen Arbeitskreis der Berliner Freien Universität zu besuchen, was mir sehr genutzt hat. Also, da, denke ich, habe ich eine wirklich gute Schulung durchgemacht, durch eine kritische Studentenschaft, die mich auch gelehrt hat, was ich irgendwie in den letzten Jahren verlernt hatte: anderen mit Aufmerksamkeit zuzuhören.


    Limbach: Ob wir noch in zwei, drei Jahren diese Wiedervereinigung so geschafft hätten, das mag man wirklich bezweifeln.

    Die Justizsenatorin beim Fall der Mauer

    Jepsen-Föge: Es hat Sie dann nicht in die Politik gedrängt, aber Sie wurden gleichsam in die Politik gezogen. Anfang 1989 hat Sie Walter Momper, der Sozialdemokrat, in sein rot-grünes Kabinett gerufen. Sie haben das angenommen als Justizsenatorin. War das nicht so etwas – oder mussten Sie es nicht befürchten – wie ein Himmelfahrtskommando?

    Limbach: Dass man zunächst einmal nachdenken musste, ob man sich das mit 55 Jahren noch zutraut, aus der Universität in die Politik zu gehen, das gebe ich zu.

    Jepsen-Föge: Ich dachte weniger an das Alter, 55 ist ja kein Alter, aber ein rot-grüner Senat, der ja doch auch in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Image hatte, war ja nicht ohne Risiko, schon gar nicht für eine Juristin.

    Limbach: Ja, aber damit hatte ich keine Probleme, gebe ich Ihnen freimütig zu, und weniger mein Herz als mein Verstand schlägt eigentlich bei dieser Farbe Rot-Grün positiv an. Ich gebe zu, dass die Skepsis, die Sie äußerten, sich auch in der Arbeit dieses rot-grünen Senats niedergeschlagen hat. Die Grünen waren einfach Regierungsarbeit vielleicht nicht so gewohnt, aber ich denke, auch die Sozialdemokraten haben Grund, sich Asche auf das Haupt zu streuen. Jedenfalls habe ich sehr bedauert, dass diese rot-grüne Koalition nachher an der gewaltsamen Entsetzung der besetzen Häuser in der Mainzer Straße gescheitert ist und sich aufgelöst hat.

    Jepsen-Föge: Schon nach wenigen Jahren, und Sie blieben dann Justizsenatorin auch unter dem nächsten Senat von Eberhard Diepgen. Aber worauf ich eigentlich kommen möchte, was ja wichtig ist: In diese Zeit als Justizsenatorin fiel ja nun die historische Epoche, nämlich der Fall der Mauer am 9. November 1989. Wie haben Sie eigentlich diesen Tag und wie haben Sie die Tage davor und danach erlebt?

    Limbach: Die Tage selbst davor mit großer Euphorie, ich war gerade auf einer Sitzung des Europaparlaments im Reichstag, als die Botschaft kam, dass die Mauer gefallen ist. Wir hatten eigentlich im Berliner Senat erwartet, dass die Menschen über die Mauer hinüberspringen werden, so wie wir es von diesen Bildern aus Ungarn und Österreich kannten. Und insofern hat uns das völlig überrascht und ich denke, selbstkritisch muss man auch zugeben für die Bundesregierung, dass wir darauf wirklich nicht vorbereitet waren. Wenn Sie denken, dass man im gesamtdeutschen Ministerium nur an die Autokennzeichen gedacht hat, aber in allem anderen dieses Ministerium eigentlich total ausfiel, dann sehen Sie, dass wir uns im Grunde genommen mit diesem Zustand schon völlig abgefunden hatten.

    Jepsen-Föge: Das heißt, dass das zwar immer deklamiert wurde, das Ziel der deutschen Einheit, aber in Wahrheit gar nicht wirklich angestrebt?

    Limbach: Ja, das war reine Rhetorik meines Erachtens.

    Jepsen-Föge: War es denn auch so – Eberhard Diepgen wirft das ja etwa Walter Momper vor und Sie können das ja genau beurteilen –, dass Walter Momper und weite Teile der SPD, auch der Grünen, der Alternativen Liste, nicht nur nicht vorbereitet waren wie alle, sondern das auch gar nicht gewollt hatten, dass daraus eine Wiedervereinigung sich entwickelt?

    Limbach: Ach, das ist ein Vorwurf, der nicht trifft. Ich denke schon, dass es unter den Sozialdemokraten, und da mag auch Walter Momper und das ein oder andere Mitglied des rot-grünen Senats dazugehört haben, … dass man das alles mit mehr Bedacht in die Hand nimmt. Und sicherlich ist der Impetus mehr aus der DDR gekommen, als dass er aus dem Westen gekommen ist. Sie wollten ja möglichst schnell sozusagen unter die Herrschaft des Grundgesetzes kommen. Und wenn man Kohl, dem damaligen Bundeskanzler, in diesem Punkte Glauben schenken darf, dann war die Zeit auch einmalig günstig, und ob wir noch in zwei, drei Jahren diese Wiedervereinigung so geschafft hätten, das mag man wirklich bezweifeln. Dass wir es elegant gelöst hätten oder zur Zufriedenheit der Bürger in beiden Teilen des Landes, das wage ich nicht zu behaupten. Dieser hässliche Ausdruck von der Kolonialisierung und das insbesondere, was das Recht angeht, wir ein Recht den neuen Ländern übergestülpt haben, auf das die dortigen Bürger und Bürgerinnen überhaupt nicht vorbereitet waren, das müssen wir alles einräumen. Und müssen oder mussten in den zurückliegenden 20 Jahren – und ich weiß nicht, ob wir das schon geschafft haben – sehen, dass gleichwohl, um Willy Brandts pathetischen Spruch zu nehmen, zusammenwächst, was zusammengehört.


    Limbach: Im Prinzip ist eine rechtsstaatliche Entscheidung zumeist auch eine gerechte Entscheidung.

    Recht und Gerechtigkeit

    Jepsen-Föge: Wir sprechen von dem Rechtssystem, das übergestülpt wurde, jedenfalls aus der Sicht vieler Menschen in der damaligen DDR. Ihre Aufgabe war es ja als Justizsenatorin, zum Beispiel die Überprüfung von DDR-Richtern und Staatsanwälten, dann die Frage der Mauerschützenprozesse, überhaupt die ganze Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Das war doch eigentlich für jeden und auch für Sie völliges juristisches Neuland.

    Limbach: Ganz gewiss, obwohl ich mich natürlich als jemand, der den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt hat, sehr intensiv damals mit der Aufarbeitung des viel größeren Unrechts zwischen 33 und 45 beschäftigt hatte. Das war mir so neu nicht, aber es war natürlich ein ganz anderes politisches Gemeinwesen, eine andere Art von Diktatur. Man mag sie mit Günter Grass eine moderate Diktatur nennen, die dann aufgelöst worden ist und deren Folgen wir mit dem Justizunrecht oder mit der Elitenüberprüfung der Richter und Staatsanwälte dann übernommen haben. Und ich will Ihnen sagen, dass es kaum ein Gebiet gegeben hat, wo es eine größere Spaltung zwischen dem Privatgeschöpf, dem Mensch Jutta Limbach, und der Amtsinhaberin, Justizsenatorin gegeben hat, denn ich konnte mir natürlich die Frage stellen: Wie hätte ich mich denn verhalten, wenn meine Eltern in Pankow geblieben wären und ich dort groß geworden wäre und dort auch gerne Jura studiert hätte oder was auch immer? Wäre ich nicht auch dort bei denen gewesen, über die wir urteilten und angesichts derer wir uns fragten: Kann man ihnen zutrauen, dass sie künftig ihr Richteramt im Geiste des Grundgesetzes ausführen werden? Das war also eine große Zerrissenheit auch damals, die man aber – das wird von einem Politiker auch erwartet und von einer Politikerin – zu meistern hat.

    Jepsen-Föge: Wie klang und wie klingt heute in Ihren Ohren der damalige Satz von Bärbel Bohley: "Wir wollten Gerechtigkeit und wir bekamen den Rechtsstaat"?

    Limbach: Das ist eben das Besondere der Demokratie, dass Rechtsstaatlichkeit zu einem ihrer großen Verfassungsgrundsätze gehört. Aber diese Differenz, die sie zwischen Gerechtigkeit und Rechtsstaat aufmachte, die halte ich nicht für ganz treffend. Das kann durchaus sein, dass die eine oder andere Entscheidung der Rechtssicherheit gezollt ist und man die Gerechtigkeit hinten anstellt. Aber im Prinzip ist eine rechtsstaatliche Entscheidung zumeist auch eine gerechte Entscheidung.

    Jepsen-Föge: In diesem Zusammenhang, Frau Limbach – bis heute wird, oder gerade heute wieder wird darüber gestritten: War die DDR ein Unrechtsstaat?

    Limbach: Ich denke, man kann es so beantworten, dass man zunächst einmal mit völliger Promptheit sagt: Ein Rechtsstaat war die DDR nicht. Sie war nicht in jeder Hinsicht ein Unrechtsstaat, aber was den Umgang mit Andersdenkenden angeht, war sie ein Unrechtsstaat. Sie konnten nicht ausreisen wollen, sie konnten ihre Meinung nicht offen sagen, ohne dass sie Gefahr liefen, in Bautzen zu landen und in den ersten Jahren der DDR möglicherweise auch noch zum Tode verurteilt zu werden und hingerichtet zu werden. Ich habe da keine so große Scheu, und wenn ich feststelle, dass die DDR ein Unrechtsstaat ist, dann geht es mir auch gar nicht darum, 17 Millionen Bürgern dieses Prädikat aufzukleben. Das waren immer nur die besonders systemverbundenen Funktionäre, die dieser Vorwurf trifft, aber nicht die gesamte Bürgerschaft.

    Jepsen-Föge: Die wiedergebildeten, fünf neuen Länder, so nennen wir sie ja, neue Länder, traten dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Das war ja noch eine Entscheidung der frei gewählten Volkskammer. Es hat seitdem immer wieder die Diskussion gegeben, ob es richtig war, dass gleichsam die Wiedervereinigung auf diesem Wege vollzogen wurde – durch den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes – oder ob es nicht besser gewesen wäre, den Weg nach Artikel 146 des Grundgesetzes, also die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, um dann auch mehr Identifizierung und mehr Konsens zu erreichen zwischen den Ost- und den Westdeutschen. War das ein Fehler, diesen Weg zu bestreiten?

    Limbach: Ich denke ja, ich habe es damals als einen Fehler betrachtet, habe sehr dafür geworben, dass wir uns diese Zeit wenigstens nehmen, gemeinsam über eine neue Verfassung nachzudenken. Dies hätte ja weitgehend die Handschrift des Grundgesetzes sein können. Aber Sie wissen, dass es einige wenige Punkte gab, in denen die neu hinzugekommenen Bürger der Bundesrepublik gerne eine andere Betonung des Grundgesetzes gesehen hätten, was die Minderheiten angeht, die natürlich im Ostteil des Landes eine große Rolle spielen, was die Volksentscheide und Volksbegehren angeht etwa und ähnliche Dinge mehr. Und, wie Sie das angedeutet haben: Ich denke, das hätte schon zur Identitätsbildung beigetragen. In Berlin hat man es ja geschafft, tatsächlich die Ursprungsverfassung gemeinsam mit den anderen Politikern aus dem Ostteil der Stadt zu modellieren. Schließlich war dieser Weg von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes auch gewiesen worden und ich denke, wir wären uns auch selbst treu geblieben, wenn wir diesen Weg gewählt haben.

    Jepsen-Föge: Sie selber hatten damals ja eine Verfassungskommission angehört, dessen Aufgabe es war, das Grundgesetz gleichsam den neuen Verhältnissen anzupassen. Wenn ich das richtig sehe, ist relativ wenig geändert worden. Zu wenig? Also etwa die Frage, es hat ja auch den Wunsch gegeben, einige Beispiele nannten Sie, aber so etwas wie Staatszielbestimmungen ins Grundgesetz aufzunehmen, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf eine Wohnung, … Hätte da mehr geändert werden können, müssen? Oder warum ist es nicht geschehen?

    Limbach: Da will ich ganz ehrlich sein, dass ich damals als Mitglied der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat dafür geworben habe, dass man ein Staatsziel Arbeit, Obdach und soziale Sicherheit aufnimmt – nicht als Recht formuliert, damit man dem Bürger nicht etwas vorgaukelt, was er so gar nicht einklagen kann. Als ich dann Jahre später ins Bundesverfassungsgericht kam, da haben mich dann Kollegen zur Seite genommen und haben gesagt, gut, wir haben das damals mit großem Interesse gesehen, aber unsere Arbeit hier wird Ihnen sicherlich sehr bald klarmachen, dass ein Grundgesetz, dass einem Duktus, einer Lakonie – das heißt, seiner Kürze – treu bleibt, das bessere ist. Nicht nach dem Motto, das Bundesverfassungsgericht wird es dann schon ausfüllen, sondern die Einsicht, die ja auch einige Väter des Grundgesetztes gehabt haben, dass eine zurückhaltende, wortkarge Verfassung, die vielleicht auch noch möglichst vage das ausdrückt, was sie verheißt, besser mit dem Wandel der Zeit läuft – mitzuwachsen vermag – als eine Verfassung, die zu konkret ist.


    Limbach: Wir haben ja gerade an den jüngsten Entwicklungen gesehen, dass es hier eben nicht nur um gewaltlose Einsätze im Rahmen von Friedensmissionen geht, sondern dass es sich echt auch um Krieg handelt.

    Erste Entscheidungen als Verfassungsrichterin

    Jepsen-Föge: Frau Limbach, Sie hatten schon angesprochen Ihre Tätigkeit als Richterin am Bundesverfassungsgericht. Sie wurden 1994 gewählt, wurden dann im selben Jahr auch Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts als Nachfolgerin von Roman Herzog. War das – überhaupt zum Bundesverfassungsgericht zu kommen und dann als Präsidentin –, war das die Erfüllung eines Traumes von Ihnen?

    Limbach: Also, das wäre übertrieben, wenn ich das bejahte, aber ich habe in dem Zusammenhang, als es um die Besetzung dieses Amtes ging und das Gerücht aufgetreten war, ich sei an diesem Amt gar nicht interessiert, sehr deutlich gesagt, dass es das Traumziel eines jeden Juristen sei, einmal Richterin oder Richter am Bundesverfassungsgericht zu werden. Aber ich gebe zu, dass ich eigentlich erstmals 1989 auf die Idee gekommen bin, dass es mich auch dahin verschlagen konnte, weil ich in einer großen überregionalen Zeitung gelesen habe, dass auch mein Name in diesem Zusammenhang eine Rolle spielte. Da dachte ich: Ja, warum eigentlich nicht?

    Jepsen-Föge: Halfen Ihnen dabei die Erfahrungen als Justizsenatorin, oder arbeiten Senator und Kabinette völlig unterschiedlich?

    Limbach: Die arbeiten schon recht unterschiedlich, wenngleich es in beiden Gremien darauf ankommt, dass man eine gemeinsame Entscheidung trifft und dann auch in der Lage ist, sie zu begründen. Das ist eine gewisse Ähnlichkeit, obwohl nach meinen Erfahrungen in der rot-grün und nachher im schwarz-roten Senat durchaus andere waren als dann im Bundesverfassungsgericht vor, ohne dass ich damit die Politiker herabsetzen möchte. Natürlich auf einem ganz anderen Niveau diskutiert wird.

    Jepsen-Föge: In Ihrer Amtszeit als Präsidentin des höchsten deutschen Gerichtes fielen aufsehenerregende Entscheidungen. Sie mussten sich zum Beispiel sehr schnell einarbeiten in die Frage, ob die deutsche Beteiligung an AWACS-Aufklärungsflügen im Rahmen der NATO mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Bis heute ist ja wieder die Frage deutscher Auslandseinsätze nicht nur juristisch, sondern auch politisch umstritten. War Ihre Entscheidung von heute aus betrachtet eine richtige Entscheidung? Denn seitdem sind ja die Auslandseinsätze der Bundeswehr stark ausgeweitet worden.

    Limbach: Das ist die eine Sache, aber im Prinzip bin ich mit der Entscheidung nach wie vor ganz einverstanden, vor allem mit dem Parlamentsvorbehalt, den wir aus dem Grundgesetz aus verschiedenen Vorschriften des Grundgesetzes rekonstruiert haben. Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass der Vertreter des Souveräns, dass unser Parlament die Frage des Einsatzes der Bundeswehr diskutiert. Und wir haben ja gerade an den jüngsten Entwicklungen gesehen, dass es hier eben nicht nur um gewaltlose Einsätze im Rahmen von Friedensmissionen geht, sondern dass es sich echt auch um Krieg handelt, an dem die Bundeswehr teilzunehmen gewissermaßen gezwungen ist. Und da finde ich es schon wegen der Rückenstärkung wichtig, dass sich Deutschland und stellvertretend für die Bundesrepublik das Parlament damit auseinandersetzt, … hundertprozentig einverstanden nach wie vor mit der Entscheidung, die wir damals gefunden haben, und ich würde mich dagegen verwahren, dass etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Ausweitung der Bundeswehreinsätze geführt hat.

    Jepsen-Föge: Sie sagen eben, es handele sich um einen Krieg. Ist das eher eine juristische oder eine politische Frage? Der Bundesverteidigungsminister und auch die Bundesregierung insgesamt sagen ja, es handele sich nicht um einen Krieg, denn ein Krieg sei im völkerrechtlichen Sinne eben ein Konflikt zwischen zwei Staaten und hier gehe es um die Bekämpfung der Taliban, also Aufständischer.

    Limbach: Wissen Sie, das ist so eine Definitionsfrage, die wir ja auch seit unserer Auseinandersetzung mit dem fanatisierten Terrorismus immer wieder führen. Jedenfalls, denke ich, kommt es nicht so sehr auf das Wort an, sondern es kommt darauf an, dass es sich um mit Gewalt verbundene Einsätze handelt, und das, denke ich, ist etwas für eine Republik, die das Bekenntnis zur Menschenwürde an den Anfang gestellt hat, schon ein gewichtiger Diskussionspunkt.

    Jepsen-Föge: Frau Limbach, das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts beruht ja nicht zuletzt auf der Akzeptanz seiner Entscheidungen. Gerade in Ihre Zeit fielen aber auch mindestens zwei Urteile, die heftige Kritik auslösten. Ich denke an den Beschluss, nach dem die Verwendung des Tucholsky-Zitats "Soldaten sind Mörder" durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist – viele Soldaten sahen sich da pauschal verunglimpft –, und ein zweites Urteil, das sogenannte Kruzifix-Urteil, das dann die Kreuze aus den bayrischen Klassenräumen verbannte. Auch diese Entscheidung löste Kritik aus der Regierung damals und der Kirchen. Sind Ihnen damals oder später Zweifel an diesen Urteilen gekommen?

    Limbach: Ich denke, was uns damals misslungen ist, war, diese Beschlüsse in ihrer Differenziertheit dem Publikum zu erläutern. Und das war ja auch für mich nachher der Grund, darüber nachzudenken, wie wir eine vernünftige Informations- und Pressepolitik im Gericht machen können und das hat ja später dazu geführt, dass eine Pressesprecherin eingeführt worden ist und mein Nachfolger hat das auch beibehalten. Das zeigt Ihnen schon, dass ich in keiner Weise bereit bin, mich von diesen beiden Beschlüssen zu distanzieren. Sie haben auch im Grunde genommen zu richtigen Ergebnissen geführt. Die Bayern haben diesen ersten Beschluss im Grunde genommen sehr gut implementiert, haben zum Teil das Bundesverfassungsgericht weiter oder vielleicht auch zu Ende gedacht. Und ich denke, auch die Angehörigen der Bundeswehr – schließlich hatte ich auch zwei Jungs, die ihren Wehrdienst absolviert haben – müssen eben auch lernen, Tucholsky-Zitate zu lesen, so, wie sie gemeint sind, nämlich als pazifistische Äußerung. Und in unserer Gesellschaft wird es immer viele geben, ich zähle mich auch dazu, die ausgesprochene Pazifisten sind, und dann muss ein solcher – nicht an eine Person, an eine Funktion adressierter – Satz auch ertragen werden.


    Limbach: Die Demokratie lebt von der Meinungsfreude, und hier ist auch die Menschenwürde betroffen.

    In Konflikt von Freiheit und Sicherheit

    Jepsen-Föge: Frau Limbach, wenn wir nicht über einzelne Entscheidungen sprechen, sondern über politische und gesellschaftliche Entwicklungen: Es besteht ja immer ein Spannungsverhältnis etwa zwischen Freiheit und Sicherheit. Das Bundesverfassungsgericht hat auch in letzter Zeit mehrfach staatliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen – zur Reduzierung der Terrorgefahr, das war der Grund –, gleichsam als zu tiefe Eingriffe in die persönliche Freiheit verworfen. Wo verläuft die Grenze zwischen der Verantwortung des Staates für die Freiheit und für die Sicherheit der Allgemeinheit?
    Limbach: Das ist eben das Bittere, dass man diesen Grenzverlauf nicht wie auf einer Landkarte markieren kann, sondern dass das schwierige Abwägungsprozesse sind, die dann in dem einen oder anderen Fall dazu führen, dass man sagt: Hier schrammt ihr entschieden am Rechtsstaat, am Menschenwürdebekenntnis entlang und da müsst ihr dieses Gesetz in der und der Richtung verändern. Das Bundesverfassungsgericht hat im Grunde genommen sehr schön deutlich gemacht – das ist mit Zunahme der Entscheidungen dann immer klarer herausgekommen –, dass es einen unantastbaren Kernbereich des Privaten gibt, und der muss respektiert werden, der darf auch nicht zugunsten der kollektiven Sicherheit aufgeweicht werden. Zum Schluss hat sich das Bundesverfassungsgericht sogar auf das Prinzip der Menschenwürde berufen, als es nämlich gesagt hat: Wenn wir all diese Rasterfahndungen und ähnliche Auskundschaftungen zulassen, dann führt das im Grunde genommen dazu, dass der Bürger zögert, sich überhaupt in öffentlichen Auseinandersetzungen freimütig zu Worte zu melden. Und da hat das Gericht gesagt: Die Demokratie lebt von der Meinungsfreude, und hier ist auch die Menschenwürde betroffen, denn es geht nicht nur um Privates, sondern in dem Moment, wo Entscheidungen im Grunde genommen die Demokratie untergraben, betreffen sie auch das gemeine Wohl. Und das ist eine Richtung der jüngsten Entscheidungen, die ich ganz besonders schätze und für richtig halte.

    Jepsen-Föge: Frau Limbach, es gibt ein zweites Gegensatzpaar oder gegensätzliche Ziele, die in Einklang gebracht werden müssen, nämlich Freiheit und Gleichheit, manche sagen Gerechtigkeit. Wir haben ja die Situation, dass etwa die in den staatlichen Haushalten von Jahr zu Jahr höhere Beiträge für Sozialausgaben eingestellt werden, noch nie ist so viel ausgegeben worden wie für die soziale Sicherheit. Und gleichzeitig gibt es immer mehr Menschen, die den Eindruck haben, dass es nicht gerecht zugehe in dieser Gesellschaft.

    Limbach: Es ist ja so gewesen, dass, als das Sozialstaatsprinzip in unserer Bundesrepublik Konturen angenommen hat, wir in einer wirtschaftlich großen Situation waren. Wirtschaftswachstum war vorhanden, der Staat konnte in der Tat in großem Maße soziale Benachteiligung ausgleichen. Aber man muss einfach auch bei dem Sozialstaatsprinzip immer im Auge behalten, dass es auch auf das Leistungsvermögen des Staates dabei ankommt und dass das Pendel durchaus auch mal in die andere Richtung ausschlagen kann. Das heißt, dass man Regelungen trifft, die also entweder die sozialen Ausgaben etwas beschränken oder jedenfalls von dem Bürger einen größeren Einsatz oder Verzicht eben auf einen früheren Status herausfordern. Dieses Prinzip richtig klar zu machen, denke ich, ist wirklich die große Aufgabe der Sozialdemokratie. Das hat sie bisher noch nicht geleistet. Es gibt ja viele unter uns, die Hartz IV durchaus für eine vernünftige … oder die Agenda 2010 für eine vernünftige Politik halten. Bloß: Hier zeigt sich wirklich das Problem der Akzeptanz. Das wird nur akzeptiert, wenn ich den Bürgern auch klar machen kann, warum diese Entscheidung so getroffen worden ist.


    Limbach: Man lernt bis zum letzten Tag wahrscheinlich seines Erdenlebens.

    Erfahrungen der Präsidentin des Goethe-Instituts

    Jepsen-Föge: Frau Professor Limbach, eine letzte Frage: Sie waren, nachdem Sie aus dem Bundesverfassungsgericht aus Altersgründen ausgeschieden sind, dann noch für einige Jahre Präsidentin des Goethe-Instituts bis ins vergangene Jahr hinein. Wenn Sie die Erfahrungen Revue passieren lassen, die Sie gesammelt haben, im Ausland, in Gesprächen mit anderen Menschen: Was wollen die Menschen in anderen Ländern von uns, von uns Deutschen, lernen, was schätzen sie an Deutschland und was können wir von den anderen uns abschauen?

    Limbach: Ich war immer wieder erstaunt, mit welcher Sympathie man Deutschland und den Deutschen im Ausland begegnet. Man schaut doch mit großer Bewunderung auf die Leistung, die wir nach 1945, in den Jahren unserer Demokratie erbracht haben, wie sich diese Demokratie wirklich von einer Untertaggesellschaft zu einer Bürgerkultur entwickelt hat. Das ist schon eine große Leistung dieser Bundesrepublik. Und natürlich wird auch immer unser wirtschaftliches Leistungsvermögen bewundert, aber das ist es nicht nur. Wir sind nicht nur der hässliche Deutsche, der aber ein volles Portemonnaie hat, sondern es wird sehr stark auf diese Leistung geschaut und – wir sollten einfach die Altvorderen nicht vergessen – natürlich auch auf die deutsche Philosophie von Habermas bis Kant zurück und noch weiter, oder auf die Weltliteratur, ein Ausdruck, der ja doch durch Goethe aus der Taufe gehoben worden ist. Das wird alles sehr stark bewundert und deutlich gemacht, dass wir eigentlich noch viel engere Bande knüpfen könnten und unsere Aufmerksamkeit nicht so einseitig verteilen dürfen. Was haben wir gelernt? Wir haben, denke ich, in der Zusammenarbeit mit auswärtigen Kulturen zunächst einmal gelernt, kulturelle Verschiedenheiten zu akzeptieren und als intellektuellen Reichtum zu begreifen und Lernbedürfnis an den Tag zu legen und von daher auch die Fähigkeit zur Selbstkritik zu entwickeln. Das ist mir jedenfalls in diesen sechs Jahren im Goethe-Institut sehr deutlich geworden und man glaubt immer, man lernt nur in der Jugend. Ich kann nur sagen: Man lernt bis zum letzten Tag wahrscheinlich seines Erdenlebens.