"Sehr geehrter Herr Dr. Fest!
Ich habe Ihre Fragen mehrere Male mit der grössten Aufmerksamkeit gelesen, und ich danke Ihnen sehr. Aus Ihrem Brief ersehe ich, dass Sie (es) für Ihre Aufgabe hielten, mir Gelegenheit zu geben, "alle teils hierzulande schon geäusserten bzw. zu erwartenden Einwände abzuwehren". Leider beruht dies auf einem Missverständnis; ich hatte niemals die Absicht, mich zu verteidigen."
… schreibt Hannah Arendt Anfang September 1964 an den Historiker Joachim Fest, der auf Wunsch des Piper Verlags im Vorfeld der deutschen Ausgabe ihres Eichmann-Buchs mit der Bitte um ein Gespräch für den Südwestfunk an sie herangetreten war. Ein Jahr zuvor war "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen" in den USA erschienen und hatte dort wie in Israel einen heftigen Sturm der Entrüstung und Kritik ausgelöst. Auch in Deutschland erwartete der Verlag Unverständnis und Angriffe auf ihr Buch, deshalb der penible Fragenkatalog. Doch aus welchem Grund sollte sich Arendt überhaupt verteidigen? Bei ihrer Zusage war sie von einem sachlichen Gespräch mit dem Historiker ausgegangen, den sie als Autor des Buches "Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft" sehr schätzte. "Nun warte ich ab, was Sie meinen", schreibt sie weiter. Entweder lasse man die ganze Sache fallen, oder "wir gehen nicht aus von Einwänden gegen mein Buch, sondern von Problemen, zu denen wir beide etwas zu sagen haben." Fest ist einverstanden. Dies der Anfang ihres Briefwechsels, der in dem Rundfunkgespräch seine Fortsetzung findet, zu dem sie sich Mitte September in Baden-Baden zusammensetzen. Beide hatten sich darauf geeinigt, ihren Gedankenaustausch um die Figur von Eichmann als einem "neuartigen Verbrechertypus" und um Fragen, die sich daraus ergeben, zu zentrieren. Denn Arendts These von der "Banalität des Bösen" hatte hier wie dort für große Aufregung gesorgt. Hatte man sich doch, wie Joachim Fest im Gespräch konstatiert, "in Deutschland und den alliierten Ländern nach dem Krieg in der Tendenz getroffen, die Führungsfiguren des Dritten Reiches zu dämonisieren". Dass stattdessen charakterliche Nichtigkeit, abgrundtiefe Oberflächlichkeit und schiere Gedankenlosigkeit mehr Unheil anrichten können, als "alle dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen", war für Arendt wie auch für Fest die wichtigste Lektion aus den Nazi-Prozessen gewesen. Was sie mit "Banalität" gemeint hat, veranschaulicht Arendt im Gespräch an einer Tagebuchnotiz von Ernst Jünger, wo dieser von einer Unterhaltung über russische Kriegsgefangene berichtet, die völlig ausgehungert aus den Lagern zur Arbeit aufs Land geschickt wurden.
"Und der Bauer sagt zu Jünger: "Na, dass das Untermenschen sind – und wie Vieh, das kann man ja sehen: Sie fressen den Schweinen das Futter weg." Sehen Sie, diese Geschichte hat eine empörende Dummheit. Der Mann sieht nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, nicht wahr, und jeder es tut. Diese Dummheit hat etwas wirklich Empörendes. Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?"
Anders als das bekannte, eher biografisch angelegte Fernsehinterview, das Arendt einige Tage zuvor mit Günter Gaus geführt hatte, beeindruckt das Gespräch mit Joachim Fest durch die thematische Konzentration, mit der das Umfeld von Fragen durchgegangen wird, die sich aus diesem "neuartigen Verbrechertypus" ergeben: Was bedeutet das gedankenlose Funktionieren in einer totalitären Herrschaftsmaschinerie, was das unbedingte Dazugehörenwollen und die bedingungslose Bereitschaft, alles mitzumachen, was besagt der pervertierte Pflichtbegriff eines Eichmann, die Bereitwilligkeit, absoluten Gehorsam bis an die Grenze des Möglichen zu leisten, und schließlich, was steckt hinter der erschreckenden Unfähigkeit, in eigener Person zu handeln, "nicht Wir, sondern Ich zu sagen" und selbst zu urteilen. Denn die Möglichkeit dazu, sowie die Möglichkeit, nicht mitzumachen, habe es, so Arendt, immer gegeben. "Ich setze nicht mein Leben ein, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme, aber ich mache nicht mit."
"Eichmann hat sich ja immer wieder darauf berufen. Er sei von früh auf zum Gehorsam erzogen, und er hat dann erklärt, dass, als im Mai 1945 für ihn keine Befehle mehr eintrafen, plötzlich die Weltuntergangsstimmung bei ihm ausgebrochen sei. Das Problem vom Gehorsam zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein ganzes Leben – es ist wirklich wie das Leitmotiv einer großen Lebenslüge."
Der Sturm der Empörung und Kritik, den Arendts Buch nicht nur mit ihrer These von der "Banalität des Bösen", sondern ebenso mit ihren Ausführungen zur Mitverantwortung der Judenräte und jüdischer Organisationen an der Durchführung des "Holocausts" auslöste, hatte auch in Deutschland im Vorfeld der Veröffentlichung zu kontroversen Einschätzungen geführt. Man riet davon ab, das Buch überhaupt auf deutsch herauszubringen, und sprach, wie Joachim Fest bemerkt, von "negativen Wirkungen auf das öffentliche Bewusstsein". Auf seine Schlussfrage, worin nun ihrer Ansicht nach eigentlich diese negativen Wirkungen bestehen könnten, antwortet Arendt, die bereits in den USA von jüdischer Seite mit dem Einwand konfrontiert worden war, dass ihre Ausführungen zur partiellen jüdischen Kooperationsbereitschaft mit dem Dritten Reich bloß den Antisemiten in die Hand spiele:
"Nun, die jüdischen Organisationen haben ja ganz offenbar eine merkwürdige Sorge: Sie glauben, dass man die Argumente von mir missbrauchen könnte. "Da haben wir's ja", werden die Antisemiten sagen, "die Juden waren selbst schuld." Das sagen die sowieso. Aber wenn man mein Buch liest, können die Antisemiten damit überhaupt nichts anfangen. Nun, manche Leute glauben, das deutsche Volk sei noch nicht reif. Na, wenn das deutsche Volk jetzt noch nicht reif ist, dann werden wir wohl bis zum Jüngsten Gericht damit warten müssen."
Rund fünf Jahre später findet ihr Gespräch – nun wiederum als Briefwechsel – eine wenn auch nur kurze Weiterführung. Die "Erinnerungen" von Albert Speer, Hitlers Architekten, deren Abfassung Joachim Fest auf Veranlassung des Ullstein Verlags begleitet hatte, waren inzwischen erschienen. Auch jetzt geht es zwischen ihnen erneut um jene empörende "Gedankenlosigkeit" der Nazi-Größen, um die Unfähigkeit, "sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist", um Oberflächlichkeit und charakterliche Nichtigkeit, die zu einem der bislang größten "Verbrechen gegen die Menschheit" geführt haben, wie es Arendt in Anlehnung an die Nürnberger Prozesse formuliert. Einem "Crime against Humanity", und nicht bloß einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie es verharmlosend übersetzt wurde, "als hätten es die Nazis lediglich an 'Menschlichkeit' fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten". Der letzte Brief stammt vom Dezember 1973, in dem sich Hannah Arendt für sein Hitler-Buch bedankt, das Fest gerade veröffentlicht hatte.
"Ich danke Ihnen vielmals für den HITLER. Ich las Ihre kurzen Vorbetrachtungen zur historischen Grösse, und da fiel mir dazu eine Bemerkung von Brecht ein: "Die großen politischen Verbrecher sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist." Dies scheint mir den Nagel auf den Kopf zu treffen."
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe". Piper Verlag, München Zürich 2011. 206 Seiten. Euro 16,95
Ich habe Ihre Fragen mehrere Male mit der grössten Aufmerksamkeit gelesen, und ich danke Ihnen sehr. Aus Ihrem Brief ersehe ich, dass Sie (es) für Ihre Aufgabe hielten, mir Gelegenheit zu geben, "alle teils hierzulande schon geäusserten bzw. zu erwartenden Einwände abzuwehren". Leider beruht dies auf einem Missverständnis; ich hatte niemals die Absicht, mich zu verteidigen."
… schreibt Hannah Arendt Anfang September 1964 an den Historiker Joachim Fest, der auf Wunsch des Piper Verlags im Vorfeld der deutschen Ausgabe ihres Eichmann-Buchs mit der Bitte um ein Gespräch für den Südwestfunk an sie herangetreten war. Ein Jahr zuvor war "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen" in den USA erschienen und hatte dort wie in Israel einen heftigen Sturm der Entrüstung und Kritik ausgelöst. Auch in Deutschland erwartete der Verlag Unverständnis und Angriffe auf ihr Buch, deshalb der penible Fragenkatalog. Doch aus welchem Grund sollte sich Arendt überhaupt verteidigen? Bei ihrer Zusage war sie von einem sachlichen Gespräch mit dem Historiker ausgegangen, den sie als Autor des Buches "Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft" sehr schätzte. "Nun warte ich ab, was Sie meinen", schreibt sie weiter. Entweder lasse man die ganze Sache fallen, oder "wir gehen nicht aus von Einwänden gegen mein Buch, sondern von Problemen, zu denen wir beide etwas zu sagen haben." Fest ist einverstanden. Dies der Anfang ihres Briefwechsels, der in dem Rundfunkgespräch seine Fortsetzung findet, zu dem sie sich Mitte September in Baden-Baden zusammensetzen. Beide hatten sich darauf geeinigt, ihren Gedankenaustausch um die Figur von Eichmann als einem "neuartigen Verbrechertypus" und um Fragen, die sich daraus ergeben, zu zentrieren. Denn Arendts These von der "Banalität des Bösen" hatte hier wie dort für große Aufregung gesorgt. Hatte man sich doch, wie Joachim Fest im Gespräch konstatiert, "in Deutschland und den alliierten Ländern nach dem Krieg in der Tendenz getroffen, die Führungsfiguren des Dritten Reiches zu dämonisieren". Dass stattdessen charakterliche Nichtigkeit, abgrundtiefe Oberflächlichkeit und schiere Gedankenlosigkeit mehr Unheil anrichten können, als "alle dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen", war für Arendt wie auch für Fest die wichtigste Lektion aus den Nazi-Prozessen gewesen. Was sie mit "Banalität" gemeint hat, veranschaulicht Arendt im Gespräch an einer Tagebuchnotiz von Ernst Jünger, wo dieser von einer Unterhaltung über russische Kriegsgefangene berichtet, die völlig ausgehungert aus den Lagern zur Arbeit aufs Land geschickt wurden.
"Und der Bauer sagt zu Jünger: "Na, dass das Untermenschen sind – und wie Vieh, das kann man ja sehen: Sie fressen den Schweinen das Futter weg." Sehen Sie, diese Geschichte hat eine empörende Dummheit. Der Mann sieht nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, nicht wahr, und jeder es tut. Diese Dummheit hat etwas wirklich Empörendes. Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?"
Anders als das bekannte, eher biografisch angelegte Fernsehinterview, das Arendt einige Tage zuvor mit Günter Gaus geführt hatte, beeindruckt das Gespräch mit Joachim Fest durch die thematische Konzentration, mit der das Umfeld von Fragen durchgegangen wird, die sich aus diesem "neuartigen Verbrechertypus" ergeben: Was bedeutet das gedankenlose Funktionieren in einer totalitären Herrschaftsmaschinerie, was das unbedingte Dazugehörenwollen und die bedingungslose Bereitschaft, alles mitzumachen, was besagt der pervertierte Pflichtbegriff eines Eichmann, die Bereitwilligkeit, absoluten Gehorsam bis an die Grenze des Möglichen zu leisten, und schließlich, was steckt hinter der erschreckenden Unfähigkeit, in eigener Person zu handeln, "nicht Wir, sondern Ich zu sagen" und selbst zu urteilen. Denn die Möglichkeit dazu, sowie die Möglichkeit, nicht mitzumachen, habe es, so Arendt, immer gegeben. "Ich setze nicht mein Leben ein, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme, aber ich mache nicht mit."
"Eichmann hat sich ja immer wieder darauf berufen. Er sei von früh auf zum Gehorsam erzogen, und er hat dann erklärt, dass, als im Mai 1945 für ihn keine Befehle mehr eintrafen, plötzlich die Weltuntergangsstimmung bei ihm ausgebrochen sei. Das Problem vom Gehorsam zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein ganzes Leben – es ist wirklich wie das Leitmotiv einer großen Lebenslüge."
Der Sturm der Empörung und Kritik, den Arendts Buch nicht nur mit ihrer These von der "Banalität des Bösen", sondern ebenso mit ihren Ausführungen zur Mitverantwortung der Judenräte und jüdischer Organisationen an der Durchführung des "Holocausts" auslöste, hatte auch in Deutschland im Vorfeld der Veröffentlichung zu kontroversen Einschätzungen geführt. Man riet davon ab, das Buch überhaupt auf deutsch herauszubringen, und sprach, wie Joachim Fest bemerkt, von "negativen Wirkungen auf das öffentliche Bewusstsein". Auf seine Schlussfrage, worin nun ihrer Ansicht nach eigentlich diese negativen Wirkungen bestehen könnten, antwortet Arendt, die bereits in den USA von jüdischer Seite mit dem Einwand konfrontiert worden war, dass ihre Ausführungen zur partiellen jüdischen Kooperationsbereitschaft mit dem Dritten Reich bloß den Antisemiten in die Hand spiele:
"Nun, die jüdischen Organisationen haben ja ganz offenbar eine merkwürdige Sorge: Sie glauben, dass man die Argumente von mir missbrauchen könnte. "Da haben wir's ja", werden die Antisemiten sagen, "die Juden waren selbst schuld." Das sagen die sowieso. Aber wenn man mein Buch liest, können die Antisemiten damit überhaupt nichts anfangen. Nun, manche Leute glauben, das deutsche Volk sei noch nicht reif. Na, wenn das deutsche Volk jetzt noch nicht reif ist, dann werden wir wohl bis zum Jüngsten Gericht damit warten müssen."
Rund fünf Jahre später findet ihr Gespräch – nun wiederum als Briefwechsel – eine wenn auch nur kurze Weiterführung. Die "Erinnerungen" von Albert Speer, Hitlers Architekten, deren Abfassung Joachim Fest auf Veranlassung des Ullstein Verlags begleitet hatte, waren inzwischen erschienen. Auch jetzt geht es zwischen ihnen erneut um jene empörende "Gedankenlosigkeit" der Nazi-Größen, um die Unfähigkeit, "sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist", um Oberflächlichkeit und charakterliche Nichtigkeit, die zu einem der bislang größten "Verbrechen gegen die Menschheit" geführt haben, wie es Arendt in Anlehnung an die Nürnberger Prozesse formuliert. Einem "Crime against Humanity", und nicht bloß einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie es verharmlosend übersetzt wurde, "als hätten es die Nazis lediglich an 'Menschlichkeit' fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten". Der letzte Brief stammt vom Dezember 1973, in dem sich Hannah Arendt für sein Hitler-Buch bedankt, das Fest gerade veröffentlicht hatte.
"Ich danke Ihnen vielmals für den HITLER. Ich las Ihre kurzen Vorbetrachtungen zur historischen Grösse, und da fiel mir dazu eine Bemerkung von Brecht ein: "Die großen politischen Verbrecher sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist." Dies scheint mir den Nagel auf den Kopf zu treffen."
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe". Piper Verlag, München Zürich 2011. 206 Seiten. Euro 16,95