"Ich bin das unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist das Gebrandmarktsein", schreibt Kertész. Und weiter: "Mein Gebrandmarktsein ist meine Krankheit, zugleich aber der Garant, das Dopingmittel meiner Vitalität, daraus beziehe ich meine Inspiration, wenn ich jäh und mit einem verrückten Aufschrei, als hätte ich einen Anfall erlitten, vom Sein zum Schreiben überwechsle." Schreiben heißt für Imre Kertész immer, Zeugnis ablegen für diejenigen, die noch an der Wahrheit interessiert sind, Zeugnis auch des großen Traumas Auschwitz, das der Autor als 15jähriger erlitt und in seinem berühmt gewordenen "Roman eines Schicksallosen" auf unvergeßliche Weise gestaltete.
Auf Auschwitz und Buchenwald folgte der menschenverachtende Alptraum des Stalinismus, Jahrzehnte des Totalitarismus, die Kertész hinter dem Eisernen Vorhang in seiner Geburtsstadt Budapest zubringt. Hier wird er als Künstler neu geboren, übersetzt Nietzsche, Freud, Hofmannsthal, Canetti, Schnitzler, Joseph Roth und Wittgenstein ins Ungarische. Die politische Wende von 1989 erschüttert den 60jährigen zutiefst: "Die Tür zur Zelle, in der ich vierzig Jahre lang festgehalten wurde, ging, wenn auch quietschend, auf, und vielleicht genügt das, um mich zu verstören", notiert Kertész in diesen fragmentarischen, dennoch atmosphärisch dichten Reminiszenzen, Denk-Skizzen der Jahre 1991 bis 1995, in deren Mittelpunkt Reflexionen über Reisen nach Wien und Weimar, München, die Còte d' Azur, Leipzig und Amsterdam stehen, menschliche Begegnungen, Träume, Hoffnungen, Verluste. Und immer wieder die Auseinandersetzung damit, was es heißt, Jude zu sein - nicht nur im Hinblick auf Auschwitz.
Imre Kertész, der nächstes Jahr seinen siebzigsten Geburtstag feiert, steht Ungarn, dem Land seiner Herkunft, mit ablehnender Schärfe gegenüber. Die an einem Vaterkomplex leidende sadomasochistische Kleinstaatenseele könne nicht ohne den großen Unterdrücker leben, auf den sie ihr historisches Mißgeschick abwälze schreibt Kertész, und sagt über den sich neu formierenden Nationalismus, den verdeckten Antisemitismus und Fremdenhaß: "Ich habe nur ein Wort dafür, was ich eigentlich erfahren habe: Angst."
So, wie er im Alptraum des totalitären Regimes nur als Schriftsteller überleben konnte - und vierzig Jahre Häftlingsexistenz sind nicht ablegbar -, erkennt Kertész mit dem untrüglichen Instinkt des Gebrandmarkten die neuen Zeichen zivilisatorischer Verrohung, zum Beispiel während einer nächtlichen Autofahrt: "beim Pester Brückenkopf der Árpád-Brücke (...) acht bis zehn schwerfällige, sich seltsam bewegende Gestalten - in khakilfarbener Kleidung, mit glattrasiertem Schädel. (...) In ihren tarnfarbenen Hosen sahen sie wie gefleckte Hyänen aus, die mit trägem, doch ausdauerndem Haß nach einem Opfer suchen."
"Das ist eigentlich sehr schwer zu ermessen, wo Ungarn heute steht", so Kertész. "Das Geistesleben ist wirklich jämmerlich. Meiner Meinung nach liegt das Grundproblem darin, daß das ungarische Geistesleben sich nicht mit der Vergangenheit auseinandergesetzt hat, es ist also eine falsche Wertschätzung da, eine falsche Geschichtsauffassung, die wichtige, nahe Vergangenheit ist noch immer nicht geklärt. Es wird immer von dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt angenähert, was sehr wichtig ist, aber das ist nur Wirtschaft und nicht das ganze Leben. Und ich glaube, man hat auch keine Ahnung davon, wie wichtig ein gesundes Geistesleben ist. Es gibt sehr viele begabte Literaten in Ungarn, junge Schriftsteller, und sie schreiben jetzt frei, und es sind auch in Deutschland einige bekannt, zum Beispiel: Darvasi, Garaczi, Kukorelly. Wir hoffen, daß sie die Stimme einer neuen Generation vertreten."
"Ich - ein anderer" ist ein Buch, das uns alle angeht, ist bei aller Melancholie, bei aller Verlorenheit, die Geschichte einer inneren Befreiung, das Zu-sich-Kommen eines zwischen Zuversicht und schwärzester Verzweiflung Schwankenden, eines hochgebildeten, eloquenten Wahrheitssuchers, der sich selbst und auch uns auffordert: "Lebe so, als ob jeder deiner Schritte von Segen begleitet wäre." Ist dieser Satz für Imre Kertész eine Art Gottesbeweis? "Man muß nicht behaupten, daß Gott existiert. Darüber können wir überhaupt nicht reden. Gott ist eigentlich kein Subjekt, kein Objekt, also von einem persönlichen Gott zu reden ist für mich eine Absurdität. Aber wir können so leben, als ob Gott existierte. Er muß nicht existieren, aber in uns ist er da."
"Mein Leben ist ein ständiger Kampf um den Tod", schreibt Imre Kertész, ein "ständiges Unterwegssein zu den immerfort in der Ferne blauenden Gipfeln. Doch wenn ich einmal glauben sollte, ich hätte das Ziel erreicht, würde mein Sein vor dieser schrecklichen Harmonie vergehen."
Imre Kertész dazu: "Der Kampf für den Tod bedeutet, daß man noch in einer Spannung lebt, man ist im Bewußtsein seines Todes und im Bewußtsein seiner lebendigen Existenz. Das macht eine Spannung. Und ich meine hier an dieser Stelle, wenn das ausgeglichen ist, hat man nichts mehr zu tun auf dieser Erde. Und das ist für mich hoffentlich noch eine Spanne Zeit."