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"Ich glaube, dass wir letztendlich nicht in Ägypten die Karten mischen"

Die Probleme in Ägypten könnten nicht von Europa aus gelöst werden, sagt der außenpolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Rainer Stinner. Denn der Westen sei nicht mehr die Ordnungsmacht der Welt. Dennoch sollten die Staaten ihre begrenzten Druckmittel auf Ägypten einsetzen.

Rainer Stinner im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Weit über 500 Tote, die Lage in Ägypten. Der hoffnungsfrohe Frühling endet in einem Drama. Es ist ein Drama, weil die Grundlage für jeden Neuanfang vernichtet wurde. Denn wie sollen die Muslimbrüder, die nun einmal ein zentraler Teil der ägyptischen Gesellschaft sind, wie sollen sie sich in absehbarer Zeit wieder am demokratischen Prozess beteiligen, wenn ihre Anhänger zuvor Zielscheibe von Soldaten geworden sind – Soldaten, die im Dienst einer Armee tätig sind, die sich einst als Retter der Revolution verstanden hat. Am Telefon sind wir nun verbunden mit Rainer Stinner, dem außenpolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Guten Tag, Herr Stinner.

    Rainer Stinner: Hallo! Guten Tag.

    Breker: Herr Stinner, Blut ist geflossen, über 600 Tote wurden gezählt, für heute nach dem Freitagsgebet muss mit weiteren Protesten gerechnet werden. Die westliche Politik gegenüber Ägypten steht vor einem Scherbenhaufen. Wer hat denn da versagt?

    Stinner: Nun, ich glaube, dass mit Verlaub, Herr Breker, diese Frage einem alten Denken entspricht, nämlich dem alten Denken, wir, der Westen, wären die Ordnungsmacht der ganzen Welt und die ganze Welt würde sich eines Tages so ordnen lassen, wie wir es gerne wollen. Ich glaube, von dieser Sicht der Dinge müssen wir Abschied nehmen, so schwer uns das fällt. Es wird – und das merken wir in der arabischen Welt, aber auch woanders sehr deutlich -, es wird in Zukunft Systeme, Staaten geben, die nicht so leben wollen und werden, wie wir das gerne hätten. Deshalb glaube ich auch nicht, dass wir ständig hier uns selbst in der Verantwortung sehen sollten, als seien wir diejenigen, die in Ägypten letztendlich das Problem, was dort besteht, exerzieren können. Wir können versuchen, Einfluss zu nehmen. Der deutsche Außenminister ist sehr häufig in der Gegend, versucht, beschwichtigend Einfluss zu nehmen. Wir, der Westen, haben zudem einige Hebel, speziell die Amerikaner, aber auch wir Europäer, in Finanzmitteln, aber insgesamt müssen wir die bittere Wahrheit zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht mehr die Welt regieren und die Welt ordnen, so wie wir das gerne möchten.

    Breker: Aber können wir in unserer Nachbarschaft zulassen, dass es in dieser Regionalmacht, die Ägypten ja ist, demnächst zu einem Bürgerkrieg kommt? Das klang ja gerade im Bericht schon so an.

    Stinner: Auch die Frage, können wir es zulassen – wir werden es eventuell zulassen müssen, und ich warne vor diesen Allmachtsfantasien, als hätten wir die Lösung zu diesen Konflikten, wir Europäer, wir, der Westen, in der Hand und bräuchten nur die angeblich richtige Politik, die es angeblich gibt, machen und dann würden in Ägypten friedliche demokratische Verhältnisse einkehren. Nein, diese Allmachtsfantasien, die müssen wir uns abschminken. Es ist eine bittere Erkenntnis. Wir versuchen, Einfluss zu nehmen, aber bitte überheben wir uns nicht. Wir werden das Problem Ägypten von Deutschland, von Europa aus nicht lösen können.

    Breker: Waren wir zu nachsichtig mit den Militärs, die den gewählten Präsidenten Mursi abgesetzt haben?

    Stinner: Ich persönlich habe speziell die Äußerung des amerikanischen Außenministers Kerry sehr, sehr kritisch gesehen und auch öffentlich sehr kritisch beurteilt, habe von selektiver Demokratie gesprochen, als er nämlich davon sprach, dass die Absetzung Mursis durch das Militär ein Schritt in Richtung auf Demokratie ist. Das habe ich nie so gesehen und zum Glück hat die deutsche Bundesregierung und auch der Außenminister sich hier nicht so positioniert, sondern sehr viel vorsichtiger, keine endgültige Beurteilung vorgenommen. Von daher, glaube ich, muss sich die deutsche Außenpolitik hier nichts vorwerfen lassen. Aber in der Tat ist allgemein ja auch in Deutschland oft von Experten und auch von Journalisten, auch im politischen Feuilleton, begrüßt worden, dass diese schlimmen Muslimbrüder jetzt endlich abgelöst sind, ohne zu bedenken, dass die Alternative, die sich jetzt deutlich zeigt anhand von Tausenden von Toten in Ägypten ja um keinen Deut besser ist, vielleicht sogar schlechter ist.

    Breker: Es war eine Illusion, dass ein Putsch für mehr Stabilität in Ägypten sorgen würde. Hat man vielleicht zu wenig Druck ausgeübt auf die Militärs?

    Stinner: Nochmals: Ich glaube, dass wir letztendlich nicht in Ägypten die Karten mischen und die Karten legen können. Das werden die Ägypter selber tun. Natürlich ist ein Druckmittel die Wirtschaftshilfe, ein Druckmittel ist die Militärhilfe speziell der Amerikaner. Das ist keine Frage. Aber ich glaube, dass die Ägypter – und das zeigt ja auch die Reaktion des ägyptischen vorläufigen Präsidenten auf die Besuche von Außenminister Westerwelle und so weiter -, dass die das zur Kenntnis nehmen, aber dass nachhaltige Beeinflussung in dieser aufgewühlten Situation nur sehr schwer zu erreichen ist.

    Breker: Müssen wir die Sache, Herr Stinner, vielleicht grundsätzlicher angehen und fragen, ist Demokratie überhaupt das System, was für Ägypten in diesem Moment, in dieser Zeit das richtige ist?

    Stinner: Ich traue mir eine solche Beurteilung nicht zu. Das müssen die Ägypter letztendlich entscheiden, wie sie leben wollen. Aber auch hier sage ich, wir müssen von der Idee Abschied nehmen, dass die ganze Welt nach unserem, über Jahrhunderte errungenen demokratischen System auf Werten der Aufklärung, auf Werten der Gleichberechtigung von Mann und Frau, auf Werten von Rechtsstaat, auf Werten von Gewaltenteilung, auf Werten von Subsidiarität, dass alle Welt so leben will und so leben wird. Auch diese Vorstellung hatten wir ja lange. Aber die Realität zeigt, dass das sich nicht in aller Welt so durchsetzen wird.

    Breker: Die Islamisten hatten die Wahl gewonnen, aber sie wollten nicht die Einheit der Gesellschaft, sie wollten eigentlich nur ihre eigene Macht festigen.

    Stinner: Ja, das ist richtig. Das ist ein Vorwurf, den man sicherlich den Muslimbrüdern machen kann. Allerdings wenn jetzt diskutiert wird, dass sie ihre Politik durchsetzen wollten und nicht die politischen Gegner mit einbeziehen in eine Entscheidungsfindung, dann ist das ja durchaus auch ein Muster, was wir auch von westlichen Demokratien her kennen. Ich weise nur auf die sehr starke Spaltung der amerikanischen Politik hin, wo ich auch nicht erkennen kann, dass dort oppositionelle, republikanische Ideen einbezogen werden, und woanders eben auch. Das heißt, wir hatten eine demokratische Wahl in Ägypten, wo wir uns, der Westen, vor der Wahl total verkalkuliert hatten, indem wir die Machtverhältnisse nicht richtig eingeschätzt hatten.

    Wir waren der Meinung – und ich war öfter in Ägypten und habe das öfter auch mit Experten gesprochen, die die Region viel besser kennen als ich -, die sagten, na ja, die islamistischen Kräfte werden so um 30 Prozent insgesamt bekommen, cirka 30 bis 40 Prozent werden die westlich orientierten oder westlich denkenden demokratischen - das sind Sozialisten, Liberale, konservative Kräfte - bekommen und der Rest werden irgendwo Einzelgänger sein. Da haben wir uns verschätzt, sondern es war dann so, dass im Ergebnis einer demokratischen Wahl um die 70 Prozent islamistischen Parteien gefolgt sind. Das ist die Realität in Ägypten.

    Die mag vielen von uns nicht gefallen, aber das ist die gesellschaftliche Realität und deshalb wird es auch so sein, dass natürlich diese 70 Prozent, die vielleicht abgeschmolzen sind jetzt auf 60, 50 Prozent, jetzt sich jedenfalls durch eine Militärdiktatur nicht so einfach marginalisieren lassen werden, und das ist die große Gefahr. Die große Gefahr ist, dass es einen dauerhaften tatsächlichen jahrelangen Konflikt geben kann in Ägypten. Wir müssen Interesse haben, dass es dazu nicht kommt. Ich weise aber darauf hin, dass ich sehr wohl unterstütze die Politik des Westens, auch unseres Außenministers, hier beschwichtigend einzugreifen, aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir uns nicht überheben können mit dem, was wir leisten können.

    Breker: Was können wir denn tun, um zu beschwichtigen, wie Sie sagen?

    Stinner: Zunächst mal ist es sicherlich richtig, dass unser Außenminister wie auch andere - aber unserer hat sich da ja wirklich in den letzten zwei Jahren hervorgetan durch die Häufigkeit der Interaktion in der Region - deutlich darauf hinweist, wie wir die Situation sehen und welche Dinge wir erwarten. Zum Beispiel jetzt von der Militärregierung, dass sie diesen Beschuss der Bevölkerung durch scharfe Waffen bei Demonstrationen, dass sie den beendet. Denn im Prinzip tut das die Militärregierung jetzt, was wir zurecht ja Assad in Syrien vorwerfen, dass er nämlich sein eigenes Volk massakriert, und dem müssen wir deutlich widersprechen und wir müssen deutlich machen, dass ein Weitergehen dieser Politik Konsequenzen hat. Das kann bedeuten, dass zum Beispiel Militärhilfe ausgesetzt wird. Das wäre sicherlich ein richtiger Schritt. Zudem haben sich die Amerikaner bisher nicht durchringen können, weil die amerikanische Position ja auch zwischen dem Emissär McCain, der das als Putsch bezeichnet hat, und dem Außenminister Kerry, der das Ganze als eine Hinwendung zur Demokratie bezeichnet hat, durchaus eine sehr, sehr gespaltene und sehr unklare Position ist. Ich hoffe, dass der Westen insgesamt eine gemeinsame Position hat, auch die Europäer gemeinsam auftreten und versuchen, die Druckmittel, die wir haben, die wie gesagt limitiert sind, entsprechend einzusetzen.

    Breker: Sie sollten eingesetzt werden?

    Stinner: Ja, sie sollten eingesetzt werden. Natürlich! Wir haben ein Interesse ohne jeden Zweifel daran, ein eigenes Interesse, neben der humanitären Katastrophe, die sich da ja abzeichnet oder schon da ist, ein großes Interesse daran, dass diese Nachbarregion nicht explodiert. Das ist eigenes europäisches, westliches, deutsches Interesse, und im Sinne dieser gemeinsamen Interessen müssen wir versuchen, diesen Konflikt jedenfalls zu befrieden, oder jedenfalls nicht explodieren zu lassen.

    Breker: Der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Rainer Stinner, im Deutschlandfunk. Danke für dieses Gespräch.

    Stinner: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören.


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