Dirk Müller: Die Liste wird immer länger, die Liste der Missbrauchsfälle, die bekannt werden: erst die Vorfälle im Canisius-Kolleg in Berlin, dann die Übergriffe im Kloster Ettal und bei den Regensburger Domspatzen, alles unter dem Dach der Kirche. Jetzt die jüngsten Enthüllungen über die Praktiken in der Odenwald-Schule, einer Schule, die offiziell die Linie der Reformpädagogik forciert hat. Züchtigungen mit dem Stock, stundenlanges Stehen, Ausharren im Gang, sexuelle Berührungen und Übergriffe, und alle, fast alle haben irgendwie geschwiegen, und wenn nicht, dann wurde es zumindest nicht öffentlich bekannt. Hunderte, vielleicht Tausende von Misshandlungen, von Missbrauchsattacken, und niemand ist wirklich zur Rechenschaft gezogen worden. Staatsanwaltschaften haben in einigen konkreten Fällen keine Konsequenzen gezogen mit der Begründung, alles verjährt.
Darüber sprechen wollen wir nun mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Guten Morgen!
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen!
Müller: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ist das auch so etwas wie Ohnmacht, was Sie nun empfinden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist nicht Ohnmacht, aber es ist Erschrecken, denn wir müssen einfach sehen durch die Entwicklung in den letzten Wochen, dass es hier wohl in vielen Schulen und Einrichtungen so eine Schweigemauer gegeben hat und dadurch Missbrauch, Gewalt nicht an die Stellen gelangt ist zur Information, die sich da von Staatswegen drum kümmern müssen, nämlich an die Justiz. Deshalb muss nach Wegen gesucht werden, dass möglichst dieses Schweigen durchbrochen wird und dass möglichst frühzeitig, wenn es auch nur Anhaltspunkte gibt, ermittelt werden kann, denn dann können wir auch den Kreislauf von Verjährung durchbrechen.
Müller: Ist die Schweigemauer nun derart durchbrochen, dass die Liste jetzt immer länger werden wird?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das kann ich nicht einschätzen, aber etwas beschleicht einen ja das Gefühl, dass hier doch eine Mauer gefallen ist, auch ein Druck, der anscheinend auf vielen nach wie vor gelegen hat, die auch Opfer gewesen sind, die jetzt, 30, 40 Jahre später, auch an die Öffentlichkeit gehen. Ich befürchte, dass das wohl noch nicht die letzte Neuigkeit war, die uns von der Odenwald-Schule erreicht hat, aber ich möchte gerne den Blick lenken darauf, woran kann das denn liegen? Wir haben jetzt die staatliche Schule, wir haben die Schulen in katholischer Trägerschaft, und ich denke, gerade diese Schweigemauer, die ist gerade bei den Schulen in katholischer Trägerschaft bestimmt auch mit darin zu sehen, dass es ja eine Direktive der katholischen Glaubenskongregation gibt von 2001, dass eben auch so schwere Missbrauchsfälle zu allererst der päpstlichen Geheimhaltung unterliegen und eben nicht weitergegeben werden sollen außerhalb der Kirche, sondern man intern untersucht, aber dort auch nicht klar gemacht ist, möglichst frühzeitig die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Müller: Aber an der Odenwald-Schule, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, war man auch nicht offener?
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, natürlich, da war man auch nicht offener. Natürlich muss man das auch jetzt einbeziehen. Anscheinend muss - und das müssen viel profundere Untersuchen - doch gesehen werden, wo gibt es Abhängigkeiten, die dazu führen, dass es in der Vergangenheit dann zu solcher Gewalt und ja letztendlich auch Ausnutzung Schutzbefohlener gekommen ist.
Müller: Wir reden ja immer von der Vergangenheit, angefangen bei den 50ern bis in die 70er-, 80er-Jahre. Wissen Sie von aktuellen Fällen im größeren Stil?
Leutheusser-Schnarrenberger: In größerem Stil wissen wir jetzt davon nichts, aber dass es auch in den Berichterstattungen der letzten Wochen um Vorfälle aus dem Jahr 2000 ging, das war zu lesen. Also es geht gerade dann auch um Fälle, wo ja die Verjährungsfrist noch längst nicht abgelaufen ist.
Müller: Sie haben das eben in der ersten Antwort bereits angedeutet, Stichwort Verjährung. Ist dies das Allheilmittel, was jetzt weiterhilft?
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein. Ich glaube nicht, dass es das Allheilmittel ist, denn Verjährungsfrist bei Missbrauchsfällen von Kindern bedeutet ja ab dem 18. Lebensjahr des Opfers dann bis zu 20 Jahren Verjährungsfrist, nämlich wenn es gerade auch die seelische Entwicklung beeinträchtigt hat, dieser Übergriff, und das, denke ich, wird man in sehr, sehr vielen Fällen annehmen müssen. Aber wenn erst nach 40, 50 Jahren ein Opfer selbst an die Öffentlichkeit gehen möchte, oder an die richtigen staatlichen Stellen, dann nützten auch zehn Jahre Verlängerung der Verjährungsfrist nicht, und die Forderung, sie ganz aufzuheben, was wir bisher nur bei Mord und Völkermord haben, das halte ich aus grundsätzlichen Überlegungen schon für nicht den richtigen Weg, denn es gibt gute Gründe, gerade auch in diesem Bereich, wenn die Staatsanwaltschaft und die Justiz tätig werden soll, endlich auch einmal dann nach so vielen Jahren nach der Tat Schluss zu machen, weil dann vieles überhaupt nicht mehr aufklärbar ist.
Müller: Nennen Sie uns einen Grund, warum das Sinn macht, die Verjährung quasi nicht auszusetzen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass es insofern Sinn macht, als es ganz schwierig ist, 40, 50 Jahre - denn um die Zeiträume geht es ja, wenn man sie ganz aussetzen will - nach einer Tat noch wirklich Sachverhalte zu ermitteln, dann auch Zeugen zu haben, dass ja gerade immer die Überlegung war, gibt es dann vielleicht von welcher Seite auch immer eine einseitige Beschuldigung, die aber nicht mehr auch durch Ermittlungen objektiver Sachverhalte dann gestärkt oder widerlegt werden kann. Gerade das hat dazu geführt, dass wir eben generell ein Verjährungssystem im Strafrecht haben.
Müller: Welche Erklärung, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, haben Sie dafür, dass viele Verantwortliche, fast alle Verantwortliche, wie auch die vielen Betroffenen so lange geschwiegen haben?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, man sollte hier bei den Betroffenen sehen, dass sie einmal natürlich in Abhängigkeitssituationen waren, dass es doch viel ein geschlossenes System hier gegeben hat, in dem es für einen jungen Menschen doch ganz schwierig ist, sich vielleicht auch an die Eltern zu wenden, die vielleicht das auch nicht geglaubt haben, weil man doch Vertrauen dem Träger von Schulen der Katholischen Kirche, anderen entgegengebracht hat. Deshalb sollte man auch nicht darauf setzen, den Opfern zu sagen, ihr könnt euch doch an die Justiz wenden. Zu allererst sind die Verantwortlichen in Einrichtungen gefordert, und die wollten natürlich, wenn sie etwas gewusst haben sollten, möglichst nicht, dass ein schlechter Ruf auf ihre Schule fällt, und so hat sich eben diese Schweigemauer ergeben.
Müller: Ist das auch alles ein bisschen Spiegelbild dessen, dass Missbrauch in der Familie, was ja auch immer wieder vorkommt, nach wie vor vorkommt, auch im großen Stil, ebenfalls mit derselben Problematik konfrontiert wird, eben sich nicht zu melden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Etwas spiegelt das wider, obwohl man wirklich auf die Besonderheiten jeweils achten muss. Deshalb habe ich ja auch gerade auf diese Besonderheit der Richtlinie und der Direktiven der Glaubenskongregation der Katholischen Kirche hingewiesen. Aber wir müssen einfach die Augen aufmachen und sehen: es gibt weit verbreitet Gewalt, gerade auch in Familien, in familiären Beziehungen, und eben Missbrauch. Und jemand, der einmal Opfer von Missbrauch geworden ist, dem wird ja seine ganze persönliche Entwicklung, vielleicht auch so wird ihm die berufliche Entwicklung genommen, oder ein Stück weit ganz nachteilig beeinträchtigt, und deshalb muss das sachlich, nüchtern, ohne irgendjemand an den Pranger zu stellen, aber an die Öffentlichkeit und aufgearbeitet werden, auch für verjährte Fälle.
Müller: Und ein Runder Tisch soll jetzt weiterhelfen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist ein Angebot, gerade da, wo es Verjährung gibt, wo die Opfer damit sehen, sie kommen ja nirgendwo mehr weiter, wo es auch um die Frage gehen kann, kann hier in irgendeiner Form, ohne dass das angemessen sein kann, zur Aufarbeitung auch eine gewisse Entschädigungsleistung gehören, wie das eben auch in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht worden ist.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Leutheusser-Schnarrenberger: Danke Ihnen!
Darüber sprechen wollen wir nun mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Guten Morgen!
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen!
Müller: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ist das auch so etwas wie Ohnmacht, was Sie nun empfinden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist nicht Ohnmacht, aber es ist Erschrecken, denn wir müssen einfach sehen durch die Entwicklung in den letzten Wochen, dass es hier wohl in vielen Schulen und Einrichtungen so eine Schweigemauer gegeben hat und dadurch Missbrauch, Gewalt nicht an die Stellen gelangt ist zur Information, die sich da von Staatswegen drum kümmern müssen, nämlich an die Justiz. Deshalb muss nach Wegen gesucht werden, dass möglichst dieses Schweigen durchbrochen wird und dass möglichst frühzeitig, wenn es auch nur Anhaltspunkte gibt, ermittelt werden kann, denn dann können wir auch den Kreislauf von Verjährung durchbrechen.
Müller: Ist die Schweigemauer nun derart durchbrochen, dass die Liste jetzt immer länger werden wird?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das kann ich nicht einschätzen, aber etwas beschleicht einen ja das Gefühl, dass hier doch eine Mauer gefallen ist, auch ein Druck, der anscheinend auf vielen nach wie vor gelegen hat, die auch Opfer gewesen sind, die jetzt, 30, 40 Jahre später, auch an die Öffentlichkeit gehen. Ich befürchte, dass das wohl noch nicht die letzte Neuigkeit war, die uns von der Odenwald-Schule erreicht hat, aber ich möchte gerne den Blick lenken darauf, woran kann das denn liegen? Wir haben jetzt die staatliche Schule, wir haben die Schulen in katholischer Trägerschaft, und ich denke, gerade diese Schweigemauer, die ist gerade bei den Schulen in katholischer Trägerschaft bestimmt auch mit darin zu sehen, dass es ja eine Direktive der katholischen Glaubenskongregation gibt von 2001, dass eben auch so schwere Missbrauchsfälle zu allererst der päpstlichen Geheimhaltung unterliegen und eben nicht weitergegeben werden sollen außerhalb der Kirche, sondern man intern untersucht, aber dort auch nicht klar gemacht ist, möglichst frühzeitig die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Müller: Aber an der Odenwald-Schule, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, war man auch nicht offener?
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, natürlich, da war man auch nicht offener. Natürlich muss man das auch jetzt einbeziehen. Anscheinend muss - und das müssen viel profundere Untersuchen - doch gesehen werden, wo gibt es Abhängigkeiten, die dazu führen, dass es in der Vergangenheit dann zu solcher Gewalt und ja letztendlich auch Ausnutzung Schutzbefohlener gekommen ist.
Müller: Wir reden ja immer von der Vergangenheit, angefangen bei den 50ern bis in die 70er-, 80er-Jahre. Wissen Sie von aktuellen Fällen im größeren Stil?
Leutheusser-Schnarrenberger: In größerem Stil wissen wir jetzt davon nichts, aber dass es auch in den Berichterstattungen der letzten Wochen um Vorfälle aus dem Jahr 2000 ging, das war zu lesen. Also es geht gerade dann auch um Fälle, wo ja die Verjährungsfrist noch längst nicht abgelaufen ist.
Müller: Sie haben das eben in der ersten Antwort bereits angedeutet, Stichwort Verjährung. Ist dies das Allheilmittel, was jetzt weiterhilft?
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein. Ich glaube nicht, dass es das Allheilmittel ist, denn Verjährungsfrist bei Missbrauchsfällen von Kindern bedeutet ja ab dem 18. Lebensjahr des Opfers dann bis zu 20 Jahren Verjährungsfrist, nämlich wenn es gerade auch die seelische Entwicklung beeinträchtigt hat, dieser Übergriff, und das, denke ich, wird man in sehr, sehr vielen Fällen annehmen müssen. Aber wenn erst nach 40, 50 Jahren ein Opfer selbst an die Öffentlichkeit gehen möchte, oder an die richtigen staatlichen Stellen, dann nützten auch zehn Jahre Verlängerung der Verjährungsfrist nicht, und die Forderung, sie ganz aufzuheben, was wir bisher nur bei Mord und Völkermord haben, das halte ich aus grundsätzlichen Überlegungen schon für nicht den richtigen Weg, denn es gibt gute Gründe, gerade auch in diesem Bereich, wenn die Staatsanwaltschaft und die Justiz tätig werden soll, endlich auch einmal dann nach so vielen Jahren nach der Tat Schluss zu machen, weil dann vieles überhaupt nicht mehr aufklärbar ist.
Müller: Nennen Sie uns einen Grund, warum das Sinn macht, die Verjährung quasi nicht auszusetzen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass es insofern Sinn macht, als es ganz schwierig ist, 40, 50 Jahre - denn um die Zeiträume geht es ja, wenn man sie ganz aussetzen will - nach einer Tat noch wirklich Sachverhalte zu ermitteln, dann auch Zeugen zu haben, dass ja gerade immer die Überlegung war, gibt es dann vielleicht von welcher Seite auch immer eine einseitige Beschuldigung, die aber nicht mehr auch durch Ermittlungen objektiver Sachverhalte dann gestärkt oder widerlegt werden kann. Gerade das hat dazu geführt, dass wir eben generell ein Verjährungssystem im Strafrecht haben.
Müller: Welche Erklärung, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, haben Sie dafür, dass viele Verantwortliche, fast alle Verantwortliche, wie auch die vielen Betroffenen so lange geschwiegen haben?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, man sollte hier bei den Betroffenen sehen, dass sie einmal natürlich in Abhängigkeitssituationen waren, dass es doch viel ein geschlossenes System hier gegeben hat, in dem es für einen jungen Menschen doch ganz schwierig ist, sich vielleicht auch an die Eltern zu wenden, die vielleicht das auch nicht geglaubt haben, weil man doch Vertrauen dem Träger von Schulen der Katholischen Kirche, anderen entgegengebracht hat. Deshalb sollte man auch nicht darauf setzen, den Opfern zu sagen, ihr könnt euch doch an die Justiz wenden. Zu allererst sind die Verantwortlichen in Einrichtungen gefordert, und die wollten natürlich, wenn sie etwas gewusst haben sollten, möglichst nicht, dass ein schlechter Ruf auf ihre Schule fällt, und so hat sich eben diese Schweigemauer ergeben.
Müller: Ist das auch alles ein bisschen Spiegelbild dessen, dass Missbrauch in der Familie, was ja auch immer wieder vorkommt, nach wie vor vorkommt, auch im großen Stil, ebenfalls mit derselben Problematik konfrontiert wird, eben sich nicht zu melden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Etwas spiegelt das wider, obwohl man wirklich auf die Besonderheiten jeweils achten muss. Deshalb habe ich ja auch gerade auf diese Besonderheit der Richtlinie und der Direktiven der Glaubenskongregation der Katholischen Kirche hingewiesen. Aber wir müssen einfach die Augen aufmachen und sehen: es gibt weit verbreitet Gewalt, gerade auch in Familien, in familiären Beziehungen, und eben Missbrauch. Und jemand, der einmal Opfer von Missbrauch geworden ist, dem wird ja seine ganze persönliche Entwicklung, vielleicht auch so wird ihm die berufliche Entwicklung genommen, oder ein Stück weit ganz nachteilig beeinträchtigt, und deshalb muss das sachlich, nüchtern, ohne irgendjemand an den Pranger zu stellen, aber an die Öffentlichkeit und aufgearbeitet werden, auch für verjährte Fälle.
Müller: Und ein Runder Tisch soll jetzt weiterhelfen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist ein Angebot, gerade da, wo es Verjährung gibt, wo die Opfer damit sehen, sie kommen ja nirgendwo mehr weiter, wo es auch um die Frage gehen kann, kann hier in irgendeiner Form, ohne dass das angemessen sein kann, zur Aufarbeitung auch eine gewisse Entschädigungsleistung gehören, wie das eben auch in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht worden ist.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Leutheusser-Schnarrenberger: Danke Ihnen!