Christoph Heinemann: Begleitet von lautstarken und heftigen Protesten sind am Morgen die ersten Bäume für das Bahnprojekt "Stuttgart 21" gefallen. Mehrere Tausend Demonstranten machten stundenlang mit Trillerpfeifen und Sprechchören ihrem Unmut Luft. Doch die rund 1000 Polizisten sperrten das Areal hinter einem Zaun ab und die Arbeiten begannen planmäßig.
Vor einer Dreiviertelstunde haben wir mit Cem Özdemir, dem Vorsitzenden der Grünen, gesprochen. Ich habe ihn zunächst gefragt, ob er befürwortet, dass Polizisten mit Pfefferspray und Pflastersteinen angegriffen werden?
Cem Özdemir: Polizisten sind nicht angegriffen worden mit Pfefferspray und mit Wasserwerfern, sondern umgekehrt.
Heinemann: Das sagt die Polizei aber!
Özdemir: Herr Rech, der Innenminister von Baden-Württemberg, hat ja auch behauptet, dass Steine geflogen seien vonseiten der Demonstranten; er musste das nach einiger Zeit zurücknehmen, als die Videoaufnahmen eindeutig bewiesen haben, dass die Studenten, die Schüler, die Omas und die Mütter friedlich demonstriert haben. Ich habe das Gefühl, da ist gegenwärtig viel Propaganda unterwegs. Die Bundeskanzlerin appelliert ja jetzt an die Gewaltfreiheit bei den Demonstranten. Vielleicht sollte sie es mal mit einem Appell bei ihrem eigenen Innenminister in Baden-Württemberg probieren. Mein Eindruck, Herr Rech empfiehlt sich gegenwärtig für einen Job bei Herrn Putin in Russland; so verhält man sich in Deutschland nicht.
Heinemann: Ist es gut, dass Kinder mitdemonstrieren?
Özdemir: Jugendliche Demonstranten, die dort sich einsetzen dafür, dass ein Unsinnsprojekt, das ja ihr Geld ausgibt - das ist ja nicht das Geld von Herrn Rech und von Herrn Mappus und von Frau Merkel, sondern das ist das Geld, das ihnen nachher fehlen wird, weil einige Leute ein Prestigeprojekt, sich ein Denkmal bauen wollen durch einen unterirdischen Bahnhof, den kein vernünftiger Mensch braucht -, haben nicht nur das Recht, sie haben geradezu die Pflicht, sich für ihre Interessen einzusetzen. Ich ziehe meinen Hut vor diesen Jugendlichen. Das ist entgegen dem, was man früher immer gesagt hat mit Null-Bock-Jugendlichen, mit Jugendlichen, die sich nicht engagieren. Man kann nur stolz sein auf diese Jugendlichen, die sich kümmern um ihre Umwelt, die sich kümmern um ihre Nachbarn und um ihre Stadt. Da kann ich nur sagen, die CDU sollte froh sein, dass wir solche Jugendlichen haben.
Heinemann: Herr Özdemir, Sie haben Herrn Putin erwähnt. Wer entscheidet eigentlich in einem Rechtsstaat, die gewählte Regierung oder die Straße?
Özdemir: Ich habe kein Problem mit rechtskräftig zustande gekommenen Entscheidungen, aber ich habe ein Problem damit, wenn in einem öffentlichen Raum - und es handelt sich hier nicht um Privatgelände -, in einem öffentlichen Raum Leute friedlich demonstrieren. Übrigens ist der Sitzstreik - das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt - auch eine Maßnahme des zivilen Ungehorsams. In einem solchen Fall werden die Leute weggetragen, das ist der Job der Polizei, aber man muss nicht aus nächster Nähe Pfeffergas ins Gesicht blasen, man muss die Leute nicht blutig prügeln, man muss die Polizei nicht scharfmachen. Das ist offensichtlich der Fall gewesen. Das muss nicht nur lückenlos aufgearbeitet werden, sondern man muss vor allem dafür sorgen, wenn ab März in Baden-Württemberg eine andere Regierung regiert, dass man genau hinschaut, wer da wie versucht hat, die Leute zur Eskalation zu bringen. Ich habe das Gefühl, da wird ganz bewusst provoziert. Die Baumfällarbeiten - das weiß man ja - sind zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht notwendig. Das ist nichts anderes als der Versuch, durch eine Machtdemonstration die Leute zum Schweigen zu bringen.
Heinemann: Herr Özdemir, Entschuldigung! Ich hatte Sie gefragt, wer entscheidet im Rechtsstaat, die gewählte Regierung oder die Straße?
Özdemir: Die gewählte Regierung, so wie Rot-Grün entschieden hat, dass es einen Atomausstieg gibt, und die jetzige Regierung sich daran nicht mehr halten möchte. Das ist so in Demokratien. Entscheidungen kann man treffen, die kann man aber auch ändern.
Heinemann: Also es entscheidet die gewählte Regierung und nicht die Straße?
Özdemir: Die Straße hat eine wichtige Funktion in der Demokratie. Man nennt das Demonstrationsrecht. Uns ist es heilig, bei der CDU bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Heinemann: Aber das heißt doch nicht, dass derjenige, der am lautesten brüllt, bestimmt, wo es langgeht?
Özdemir: Das ist richtig und deshalb brüllen wir nicht, sondern wir demonstrieren friedlich. Brüllen tun vor allem diejenigen, die mit den Knüppeln unterwegs sind und die, die ihnen den Einsatzbefehl geben. Die Demonstranten brüllen in der Regel nicht, sondern sie weisen darauf hin, dass es ein Unding ist, für einige Minuten Zeitersparnis einen bestehenden Bahnhof, der zu den pünktlichsten in Deutschland gehört, unterirdisch zu ersetzen und ein Projekt, von dem die Befürworter die Kosten immer noch nicht nennen können, die Gegner aber mittlerweile ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, das von bis zu 18 Milliarden Euro ausgeht, ein solches Projekt macht keinen Sinn. Und sich dafür einzusetzen, dass Unsinn verhindert wird, ist fast schon Bürgerpflicht.
Heinemann: Seit über zehn Jahren ist das Vorhaben bekannt. Alle Wählerinnen und Wähler hatten mehrmals Gelegenheit, auch über "Stuttgart 21" abzustimmen. Damit hat das Volk entschieden?
Özdemir: Das Volk hat entschieden, dass in Baden-Württemberg in Stuttgart die Grünen die stärkste Fraktion im Stadtrat sind. Das Volk hat entschieden, dass ich bei den Direktstimmen in Stuttgart 29,9 Prozent bekommen habe. Und das Volk wird entscheiden während des nächsten Jahres, ...
Heinemann: Und wer regiert Baden-Württemberg?
Özdemir: Das Volk wird im März nächsten Jahres genau diese Frage beantworten und ich kann Ihnen sagen, das wird Herrn Mappus nicht erfreuen, das Resultat, wenn er weiterhin so vorgeht.
Heinemann: In den letzten zehn Jahren hat das aber überhaupt nichts geändert. Die CDU hat mit dem Projekt "Stuttgart 21" alle Wahlen gewonnen.
Özdemir: Indem man ursprünglich von Summen ausging, von denen heute wahrscheinlich nicht mal die Bauarbeiten beginnen könnten. Wir reden heute über 12 bis 18,7 Milliarden Euro und wir wissen heute, dass das, was man vorgegeben hat, wofür das Projekt eigentlich gut sei, nämlich dass man Güter von der Straße auf die Bahn versetzt, dass das gar nicht möglich ist, weil man das durch die Steigungen gar nicht machen kann. Und der unterirdische Bahnhof entwickelt sich zunehmend nach allem, was wir wissen, zum Nadelöhr. Das heißt, die Vorgaben des Projektes haben sich als falsch erwiesen. Und wir wissen heute von vielen Leuten aus der Bahn, die uns ja systematisch zuarbeiten, weil sie sagen, bewahrt uns vor diesem Schwachsinnsprojekt, das ist kein Bahnprojekt gewesen. Das ist genauso wie der Transrapid ein Projekt der Politik, das der Bahn aufs Auge gedrückt wurde. Dieselben, die dieses Projekt wollen, sind die, die verantwortlich sind für vereiste Züge, für Klimaanlagen, die kaputt sind, für Wartungsarbeiten, die nicht gemacht werden, für eine Bahn, die unpünktlich ist und sich aus der Fläche zurückzieht. Das sind keine Bahnfreunde; das sind diejenigen, die die Bahn mit aller Gewalt an die Börse bringen wollten und mit der Bahn so wenig am Hut haben, wie Herr Putin mit Demokratie.
Heinemann: Angela Merkel hält das Projekt für sinnvoll. Wir hören die Bundeskanzlerin.
Angela Merkel: "Weil damit auch eine europäische Trassenführung der Bahn verbunden ist, von Frankreich über Deutschland durch andere Länder Richtung Süden, und deshalb glaube ich, dass dieses 'Stuttgart 21' notwendig ist. Es ist lange geplant. Es ist vollkommen legitim, dass Menschen auch dagegen protestieren, aber es ist auch wichtig, dass wir das, was wir versprechen, durchsetzen."
Heinemann: Angela Merkel im Interview mit Birgit Wentzien vom Südwestrundfunk. - Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen, kann sich ein hochmodernes Land wie Baden-Württemberg eine Infrastruktur leisten, die an das Kinderlied von der Schwäb'schen Eisenbahn erinnert?
Özdemir: Noch mal: Der Bahnhof in Stuttgart ist einer der modernsten Deutschlands. Wer sich mit Bahn ein bisschen auskennt - das sind ja nicht alle - weiß, dass Züge heutzutage vorwärts und rückwärts rausfahren können. Man würde heute, wenn man neu bauen würde, gerade so einen Bahnhof wie den in Stuttgart bauen. Und ich sage es nochmals: er ist der pünktlichste in Deutschland und Frau Merkel irrt, wenn sie sagt, dass das Bestandteil der Magistrale Bratislava-Paris wäre. Der Ausbau der Strecke, aber dafür braucht man keinen unterirdischen Bahnhof. Das ist ein Politprojekt gewesen der CDU in Baden-Württemberg, bis vor Kurzem unterstützt durch die SPD. Es hat mit der Bahn nichts zu tun, es ist nicht bei der Bahn erfunden worden. Es ist in den Köpfen von Politikern erfunden worden. Alle diejenigen, die da bei der Bahn arbeiten, vielleicht außer Herrn Grube und seinem engsten Stab, wollen mit diesem Projekt nicht viel zu tun haben.
Heinemann: Aber Kopfbahnhöfe sind doch nicht modern?
Özdemir: Kopfbahnhöfe sind heutzutage modern, weil die Züge heute anders gebaut werden. Ich lade Sie gerne mal ein, mit mir zusammen heute nach Stuttgart zu fahren. Ich fahre heute mit vielen Leuten nach Stuttgart, um Abends um 19 Uhr an der Demonstration teilzunehmen. Dann können Sie sich mit mir zusammen den Bahnhof in Stuttgart anschauen und sehen, wie reibungslos der funktioniert und wie modern der ist.
Heinemann: Als die Stuttgarter Messe vom Killesberg auf die Filder zog, war das Geschrei ebenfalls groß; heute regt sich kein Mensch mehr darüber auf. Wer wird dem Kopfbahnhof in zehn Jahren noch nachweinen?
Özdemir: Wenn in zehn Jahren wir uns wieder sprechen, dann werde ich bedauerlicherweise wahrscheinlich recht behalten, wenn die Projektbefürworter das durchziehen, dass wir dann die Hälfte des Projekts wahrscheinlich gerade mal durch haben und die andere Hälfte noch vor uns liegt. Nicht nur die Kosten laufen aus dem Ruder, sondern auch alle Zeitprognosen laufen aus dem Ruder. Einer der Gründe, warum das Projekt jetzt so massiv beschleunigt wird, ist ja, dass die Projektbefürworter genau wissen, mit jedem weiteren Tag kommen neue Informationen auf den Tisch, die das Projekt noch unwahrscheinlicher machen. Darum will man jetzt ganz schnell Fakten schaffen, damit man irgendwann mal sagen kann, jetzt haben wir schon so viel Geld verbuddelt, jetzt machen wir es halt auch voll zu Ende.
Heinemann: Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Özdemir: Ich danke Ihnen!
Vor einer Dreiviertelstunde haben wir mit Cem Özdemir, dem Vorsitzenden der Grünen, gesprochen. Ich habe ihn zunächst gefragt, ob er befürwortet, dass Polizisten mit Pfefferspray und Pflastersteinen angegriffen werden?
Cem Özdemir: Polizisten sind nicht angegriffen worden mit Pfefferspray und mit Wasserwerfern, sondern umgekehrt.
Heinemann: Das sagt die Polizei aber!
Özdemir: Herr Rech, der Innenminister von Baden-Württemberg, hat ja auch behauptet, dass Steine geflogen seien vonseiten der Demonstranten; er musste das nach einiger Zeit zurücknehmen, als die Videoaufnahmen eindeutig bewiesen haben, dass die Studenten, die Schüler, die Omas und die Mütter friedlich demonstriert haben. Ich habe das Gefühl, da ist gegenwärtig viel Propaganda unterwegs. Die Bundeskanzlerin appelliert ja jetzt an die Gewaltfreiheit bei den Demonstranten. Vielleicht sollte sie es mal mit einem Appell bei ihrem eigenen Innenminister in Baden-Württemberg probieren. Mein Eindruck, Herr Rech empfiehlt sich gegenwärtig für einen Job bei Herrn Putin in Russland; so verhält man sich in Deutschland nicht.
Heinemann: Ist es gut, dass Kinder mitdemonstrieren?
Özdemir: Jugendliche Demonstranten, die dort sich einsetzen dafür, dass ein Unsinnsprojekt, das ja ihr Geld ausgibt - das ist ja nicht das Geld von Herrn Rech und von Herrn Mappus und von Frau Merkel, sondern das ist das Geld, das ihnen nachher fehlen wird, weil einige Leute ein Prestigeprojekt, sich ein Denkmal bauen wollen durch einen unterirdischen Bahnhof, den kein vernünftiger Mensch braucht -, haben nicht nur das Recht, sie haben geradezu die Pflicht, sich für ihre Interessen einzusetzen. Ich ziehe meinen Hut vor diesen Jugendlichen. Das ist entgegen dem, was man früher immer gesagt hat mit Null-Bock-Jugendlichen, mit Jugendlichen, die sich nicht engagieren. Man kann nur stolz sein auf diese Jugendlichen, die sich kümmern um ihre Umwelt, die sich kümmern um ihre Nachbarn und um ihre Stadt. Da kann ich nur sagen, die CDU sollte froh sein, dass wir solche Jugendlichen haben.
Heinemann: Herr Özdemir, Sie haben Herrn Putin erwähnt. Wer entscheidet eigentlich in einem Rechtsstaat, die gewählte Regierung oder die Straße?
Özdemir: Ich habe kein Problem mit rechtskräftig zustande gekommenen Entscheidungen, aber ich habe ein Problem damit, wenn in einem öffentlichen Raum - und es handelt sich hier nicht um Privatgelände -, in einem öffentlichen Raum Leute friedlich demonstrieren. Übrigens ist der Sitzstreik - das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt - auch eine Maßnahme des zivilen Ungehorsams. In einem solchen Fall werden die Leute weggetragen, das ist der Job der Polizei, aber man muss nicht aus nächster Nähe Pfeffergas ins Gesicht blasen, man muss die Leute nicht blutig prügeln, man muss die Polizei nicht scharfmachen. Das ist offensichtlich der Fall gewesen. Das muss nicht nur lückenlos aufgearbeitet werden, sondern man muss vor allem dafür sorgen, wenn ab März in Baden-Württemberg eine andere Regierung regiert, dass man genau hinschaut, wer da wie versucht hat, die Leute zur Eskalation zu bringen. Ich habe das Gefühl, da wird ganz bewusst provoziert. Die Baumfällarbeiten - das weiß man ja - sind zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht notwendig. Das ist nichts anderes als der Versuch, durch eine Machtdemonstration die Leute zum Schweigen zu bringen.
Heinemann: Herr Özdemir, Entschuldigung! Ich hatte Sie gefragt, wer entscheidet im Rechtsstaat, die gewählte Regierung oder die Straße?
Özdemir: Die gewählte Regierung, so wie Rot-Grün entschieden hat, dass es einen Atomausstieg gibt, und die jetzige Regierung sich daran nicht mehr halten möchte. Das ist so in Demokratien. Entscheidungen kann man treffen, die kann man aber auch ändern.
Heinemann: Also es entscheidet die gewählte Regierung und nicht die Straße?
Özdemir: Die Straße hat eine wichtige Funktion in der Demokratie. Man nennt das Demonstrationsrecht. Uns ist es heilig, bei der CDU bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Heinemann: Aber das heißt doch nicht, dass derjenige, der am lautesten brüllt, bestimmt, wo es langgeht?
Özdemir: Das ist richtig und deshalb brüllen wir nicht, sondern wir demonstrieren friedlich. Brüllen tun vor allem diejenigen, die mit den Knüppeln unterwegs sind und die, die ihnen den Einsatzbefehl geben. Die Demonstranten brüllen in der Regel nicht, sondern sie weisen darauf hin, dass es ein Unding ist, für einige Minuten Zeitersparnis einen bestehenden Bahnhof, der zu den pünktlichsten in Deutschland gehört, unterirdisch zu ersetzen und ein Projekt, von dem die Befürworter die Kosten immer noch nicht nennen können, die Gegner aber mittlerweile ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, das von bis zu 18 Milliarden Euro ausgeht, ein solches Projekt macht keinen Sinn. Und sich dafür einzusetzen, dass Unsinn verhindert wird, ist fast schon Bürgerpflicht.
Heinemann: Seit über zehn Jahren ist das Vorhaben bekannt. Alle Wählerinnen und Wähler hatten mehrmals Gelegenheit, auch über "Stuttgart 21" abzustimmen. Damit hat das Volk entschieden?
Özdemir: Das Volk hat entschieden, dass in Baden-Württemberg in Stuttgart die Grünen die stärkste Fraktion im Stadtrat sind. Das Volk hat entschieden, dass ich bei den Direktstimmen in Stuttgart 29,9 Prozent bekommen habe. Und das Volk wird entscheiden während des nächsten Jahres, ...
Heinemann: Und wer regiert Baden-Württemberg?
Özdemir: Das Volk wird im März nächsten Jahres genau diese Frage beantworten und ich kann Ihnen sagen, das wird Herrn Mappus nicht erfreuen, das Resultat, wenn er weiterhin so vorgeht.
Heinemann: In den letzten zehn Jahren hat das aber überhaupt nichts geändert. Die CDU hat mit dem Projekt "Stuttgart 21" alle Wahlen gewonnen.
Özdemir: Indem man ursprünglich von Summen ausging, von denen heute wahrscheinlich nicht mal die Bauarbeiten beginnen könnten. Wir reden heute über 12 bis 18,7 Milliarden Euro und wir wissen heute, dass das, was man vorgegeben hat, wofür das Projekt eigentlich gut sei, nämlich dass man Güter von der Straße auf die Bahn versetzt, dass das gar nicht möglich ist, weil man das durch die Steigungen gar nicht machen kann. Und der unterirdische Bahnhof entwickelt sich zunehmend nach allem, was wir wissen, zum Nadelöhr. Das heißt, die Vorgaben des Projektes haben sich als falsch erwiesen. Und wir wissen heute von vielen Leuten aus der Bahn, die uns ja systematisch zuarbeiten, weil sie sagen, bewahrt uns vor diesem Schwachsinnsprojekt, das ist kein Bahnprojekt gewesen. Das ist genauso wie der Transrapid ein Projekt der Politik, das der Bahn aufs Auge gedrückt wurde. Dieselben, die dieses Projekt wollen, sind die, die verantwortlich sind für vereiste Züge, für Klimaanlagen, die kaputt sind, für Wartungsarbeiten, die nicht gemacht werden, für eine Bahn, die unpünktlich ist und sich aus der Fläche zurückzieht. Das sind keine Bahnfreunde; das sind diejenigen, die die Bahn mit aller Gewalt an die Börse bringen wollten und mit der Bahn so wenig am Hut haben, wie Herr Putin mit Demokratie.
Heinemann: Angela Merkel hält das Projekt für sinnvoll. Wir hören die Bundeskanzlerin.
Angela Merkel: "Weil damit auch eine europäische Trassenführung der Bahn verbunden ist, von Frankreich über Deutschland durch andere Länder Richtung Süden, und deshalb glaube ich, dass dieses 'Stuttgart 21' notwendig ist. Es ist lange geplant. Es ist vollkommen legitim, dass Menschen auch dagegen protestieren, aber es ist auch wichtig, dass wir das, was wir versprechen, durchsetzen."
Heinemann: Angela Merkel im Interview mit Birgit Wentzien vom Südwestrundfunk. - Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen, kann sich ein hochmodernes Land wie Baden-Württemberg eine Infrastruktur leisten, die an das Kinderlied von der Schwäb'schen Eisenbahn erinnert?
Özdemir: Noch mal: Der Bahnhof in Stuttgart ist einer der modernsten Deutschlands. Wer sich mit Bahn ein bisschen auskennt - das sind ja nicht alle - weiß, dass Züge heutzutage vorwärts und rückwärts rausfahren können. Man würde heute, wenn man neu bauen würde, gerade so einen Bahnhof wie den in Stuttgart bauen. Und ich sage es nochmals: er ist der pünktlichste in Deutschland und Frau Merkel irrt, wenn sie sagt, dass das Bestandteil der Magistrale Bratislava-Paris wäre. Der Ausbau der Strecke, aber dafür braucht man keinen unterirdischen Bahnhof. Das ist ein Politprojekt gewesen der CDU in Baden-Württemberg, bis vor Kurzem unterstützt durch die SPD. Es hat mit der Bahn nichts zu tun, es ist nicht bei der Bahn erfunden worden. Es ist in den Köpfen von Politikern erfunden worden. Alle diejenigen, die da bei der Bahn arbeiten, vielleicht außer Herrn Grube und seinem engsten Stab, wollen mit diesem Projekt nicht viel zu tun haben.
Heinemann: Aber Kopfbahnhöfe sind doch nicht modern?
Özdemir: Kopfbahnhöfe sind heutzutage modern, weil die Züge heute anders gebaut werden. Ich lade Sie gerne mal ein, mit mir zusammen heute nach Stuttgart zu fahren. Ich fahre heute mit vielen Leuten nach Stuttgart, um Abends um 19 Uhr an der Demonstration teilzunehmen. Dann können Sie sich mit mir zusammen den Bahnhof in Stuttgart anschauen und sehen, wie reibungslos der funktioniert und wie modern der ist.
Heinemann: Als die Stuttgarter Messe vom Killesberg auf die Filder zog, war das Geschrei ebenfalls groß; heute regt sich kein Mensch mehr darüber auf. Wer wird dem Kopfbahnhof in zehn Jahren noch nachweinen?
Özdemir: Wenn in zehn Jahren wir uns wieder sprechen, dann werde ich bedauerlicherweise wahrscheinlich recht behalten, wenn die Projektbefürworter das durchziehen, dass wir dann die Hälfte des Projekts wahrscheinlich gerade mal durch haben und die andere Hälfte noch vor uns liegt. Nicht nur die Kosten laufen aus dem Ruder, sondern auch alle Zeitprognosen laufen aus dem Ruder. Einer der Gründe, warum das Projekt jetzt so massiv beschleunigt wird, ist ja, dass die Projektbefürworter genau wissen, mit jedem weiteren Tag kommen neue Informationen auf den Tisch, die das Projekt noch unwahrscheinlicher machen. Darum will man jetzt ganz schnell Fakten schaffen, damit man irgendwann mal sagen kann, jetzt haben wir schon so viel Geld verbuddelt, jetzt machen wir es halt auch voll zu Ende.
Heinemann: Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Özdemir: Ich danke Ihnen!