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"Ich habe einfach vermisst, an Songs zu arbeiten"

Lee Ranaldo war Gründungsmitglied und Gitarrist von Sonic Youth. Nach dem Ende der für viele Indie-Jünger bis heute "coolsten Band der Welt", legt er jetzt sein erstes Singer-Songwriter Album vor. Es scheint, als habe sich der Noise-Apostel zur Harmonie bekehren lassen.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Durch die Anforderungen der Plattenfirma, durch ständig neue Konzerte und neue Songs und neue Alben nutzt sich eine Band irgendwann ab. Sonic Youth war in einer ziemlich schwierigen Phase, in der Konzerte eher zu einer Formalität wurden, und wir uns nicht wie früher mehrmals in der Woche getroffen haben. Das war noch bevor Thurston und Kim bekannt gaben, dass sie sich getrennt haben. Ich habe es einfach vermisst, an Songs zu arbeiten."

    Sagt Lee Ranaldo über die Entstehung seines neuen Soloalbums "Between The Times and The Tides" - ein krasser Gegensatz zu den bisherigen Werken aus seiner Feder. Waren diese noch reichlich schwierige, gesanglose Avantgarde-Soundcollagen präsentiert er uns jetzt zehn schnörkellose Indie-Folksongs. Wie konnte das passieren? Ganz einfach, sagt Lee Ranaldo:

    "Ich fing an, in meinem Wohnzimmer auf einer akustischen Gitarre rumzuspielen. Und dann kam plötzlich eines zum anderen: Steve Shelley spielte die Drums dazu, und am Ende hatte ich ein Album mit einer kompletten Band. Das Ganze ist wirklich sehr natürlich entstanden, und ich denke, das hört man auch. Manchmal entsteht die beste Musik, wenn du nicht darauf wartest. Es ist so, als wenn die Musik dich findet."
    Lee Ranaldo spielt wie üblich individuell ge- oder verstimmte Akustik- und E-Gitarren und wird dabei von Wilco-Gitarrist Nels Cline unterstützt. Zudem sind auch der ex-Sonic Youth Drummer Steve Shelley sowie der ehemalige Produzent der Band John Agnello mit im Boot. Auch wenn das Personal von Ranaldos Album eng an die Zeiten von Sonic Youth anknüpft und auch hier der unverwechselbar coole Sound durchklingt, trägt es eindeutig seine persönliche Handschrift. Bei "Stranded" haben wir es mit einem gefühligen Liebeslied inklusive Country-Lap-Steel-Gitarre zu tun. Sonic Youth, deren Genre-Experimente stets einen künstlerischen Anspruch hatten, wäre so etwas sicher zu banal gewesen.

    "Ich war mir über die Problematik von Liebesliedern bewusst und habe auch eine ganze Weile am Text zu "Stranded" gearbeitet. Das war eine große Herausforderung! Es war mir wichtig, dass es sich einfach richtig anfühlt beim Singen, und ich voll und ganz dahinterstehe. Der Text sollte einfach das sagen, was ich fühle, und keineswegs künstlerisch oder cool klingen."

    Der Song "Off the wall" - auch hier geht es um das Verhältnis zu einer Frau - dürfte zum Allgemeinverträglichsten und Ungebrochensten gehören, was jemals aus dem Dunstkreis von Sonic Youth in die Welt gelangte. In neun Monaten hat Lee Ranaldo eine eingängige und gleichzeitig ideenreiche Songsammlung aufgenommen, die für einen der prägendsten Gitarristen der Post-Punk Ära ebenso überraschend wie überzeugend ist.

    "Sonic Youth ist ein musikalisches Kollektiv, bei dem die Songs immer in Teamarbeit entstehen. Auf diesem Album habe ich die Songs dagegen allein geschrieben. Es liegt eine Schönheit darin, auf diese Weise zu komponieren."

    In der End-Phase von Sonic Youth hat Lee Ranaldo vor allem mit seinen Installationen zwischen Sound, Licht, und freischwebenden Gitarren und diversen Kunstausstellungen von Bratislava bis Neuseeland auf sich aufmerksam gemacht. Mit "Between The Times and the Tides" beweist er zwischen den Zeiten und Gezeiten seiner Karriere auch musikalisch eine ungebrochene Kreativität.

    Lee Ranaldo: "Between The Times And The Tides". VÖ 16. März, Beggars