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"Ich habe mich sozusagen selbst verloren"

Vor genau 100 Jahren stellte Alois Alzheimer seinen Kollegen die neue Form der Demenz vor, die letztlich nach ihm benannt wurde. Heute leben allein in Deutschland eine Millionen Alzheimer-Patienten, ihre Zahl wird in den nächsten Jahren deutlich steigen. Lange Zeit konnten Wissenschaftler die Krankheitsprozesse im Gehirn nur beschreiben, nun zeichnen sich neue Behandlungsansätze ab.

Von Volkart Wildermuth |
    Der erste Fall: D. Auguste, Kanzlistenfrau, 51 1/2 Jahre. Sehr fleißig und ordentlich. Im März 1901 behauptet sie plötzlich ohne jeden Grund, ihr Mann sei mit einer Nachbarin spazieren gegangen. Bald Abnahme des Gedächtnisses. Zwei Monate später ganz grobe Fehler bei der Zubereitung des Essens, unruhiges und sinnloses Umherlaufen in der Wohnung, Vernachlässigung der Wirtschaft. Am 25. November 1901 in die Anstalt aufgenommen. Sitzt im Bett mit ratlosem Gesichtsausdruck.

    Wie heißen Sie? Auguste.
    Familienname? Auguste.
    Wie heißt Ihr Mann? Ich glaube Auguste.

    Schreit furchtbar wie ein kleines Kind. Liegt meist zusammengekauert im Bett. Verunreinigt sich mit Kot und Urin.

    8. April 1906. Seit einigen Tagen Geschwüre. In letzter Zeit hohes Fiber. Heute morgen Exitus.

    " Das war ungefähr so 98, 99 wir waren zur Kur in der Slowakei und er fing an zu vergessen, welche Termine sind, ich musste alles genau aufschreiben, hat hier die Brille vergessen, da das Badbuch, so Kleinigkeiten. Wenn wir uns dann verabredet hatten, dann war er nicht an dem Ort, musste ich halt ein bißchen suchen gehen. Das war einfach weg, dass man sich da verabredet hatte. Das waren die ersten Dinge, bei denen auch ich stutzig wurde. "

    Hundert Jahre liegen zwischen den beiden Krankenberichten. Auguste Deter, die Frau, an deren Gehirn der Arzt Alois Alzheimer erstmals einen "eigenartigen Erkrankungsprozess der Hirnrinde" beobachtete. Auguste Deter beschrieb ihr Leiden in einem klaren Moment mit den Worten "Ich habe mich sozusagen selbst verloren". Auch der gelernte Tischler Hans Günther hat fast sein ganzes Leben vergessen. Er kann sich nicht mehr ausdrücken, deshalb berichtet hier seine Frau Waltraud Günther von dem Leben mit einem Ehemann, der inzwischen wie ein Kind betreut werden muss. Hans Günther wird zuhause von der Familie gepflegt, es gibt Medikamente, drei mal die Woche kann er in die Tagespflege. Gertrude Günther findet Unterstützung bei der Deutschen Alzheimergesellschaft. In den hundert Jahren hat sich also viel getan und doch ist eines, das Wichtigste, unverändert: der Zerfall des Gedächtnisses lässt sich nicht stoppen. Noch nicht.

    " Das Unvermögen sich zu artikulieren hat begonnen 2003 im November, ziemlich schlagartig, und da wir nun schon so lange zusammen leben kann ich ihn trotz dieses Unvermögens verstehen, das ist ein Glück dabei, sonst wäre es wirklich schwierig. Also manchmal habe ich schon den Eindruck, dass er ganz genau weiß, dass er ein relativ schwer kranker Mann ist. Das schon, aber gerade wenn wir mit der Familie zusammensitzen, kann er auch lachen, fröhlich sein, versteht erstaunlicherweise witzige Bemerkungen, lacht da als erster, da sind alle erstaunt und manchmal kommt kaum eine Reaktion, wenn man etwas fragt oder wissen will. "

    Alois Alzheimer beschrieb am dritten November 1906 auf der Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen die Veränderungen im Gehirn der Auguste Deter.

    Die Sektion ergab ein gleichmäßig atrophisches Gehirn. Im Inneren einer im übrigen noch normal erscheinenden Zelle treten zunächst eine oder einige Fibrillen durch ihre Dicke stark hervor. Schließlich zerfällt der Kern und die Zelle und nur ein aufgeknäultes Bündel zeigt den Ort an, an dem früher eine Zelle gelegen hat. Zahlreiche Zellen, besonders in den oberen Schichten, sind ganz verschwunden. Über die ganze Rinde zerstreut findet man Herdchen, welche durch die Einlagerung eines eigenartigen Stoffes in die Hirnrinde bedingt sind. Alles in allem genommen haben wir hier offenbar einen einzigartigen Krankheitsprozess vor uns. Es gibt ganz zweifellos mehr psychische Krankheiten, als sie unsere Lehrbücher aufführen.

    "Keine Diskussion", verzeichnet das Protokoll. Damals war der rapide Gedächtnisverlust, die Demenz eine Seltenheit. 1906 starben die meisten Menschen an Infektionen, lange bevor ihr Gehirn verfallen konnte. Doch die Lebenserwartung ist dramatisch gestiegen und so gibt es in Deutschland heute rund eine Million Demenzkranke, die meisten von ihnen sind Alzheimerpatienten. Bis zum Jahr 2050 wird sich ihre Zahl in etwa verdoppeln, erläutert Dr. Reiner Klingholz vom Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung

    " Erstens wird das Leben zukünftig länger währen, bei den meisten Menschen, und wir wissen, dass die geburtenstarken Jahrgänge, die heute so 40, 50 Jahre alt sind, dann natürlich in die höheren Altersgruppen kommen. Und wir wissen, dass etwa ein Drittel aller über 90ig-jährigen von dieser Demenzerkrankung betroffen ist und das zeigt ihnen, mit welchen dramatischen Zunahmezahlen von Alzheimerpatienten zu rechen ist. "

    Kein Wunder, dass Politik und Öffentlichkeit erwarten, dass die Wissenschaft das Thema mit Nachdruck angeht. Ausgangspunkt sind noch immer die Beobachtungen des Namensgebers des Leidens: die Schrumpfung des Gehirns, die derben Fasern in den Nervenzellen und die zähe Klumpen zwischen ihnen. Ihre Entstehung ist das Spezialgebiet von Christian Haass, Professor für Biochemie an der Ludwig Maximilian Universität in München.

    " Die Plaques bestehen aus einem kleinen Eiweiß das mit sich selbst verklumpt, extrem klebrig ist und deshalb auch diese fast schon wie Betonablagerungen bildet im Gehirn. Und was man raus bekommen hat, dass dieses kleine Eiweiß, das wir Amyloid nennen, aus einem größeren Eiweiß herausgeschnitten wird, und da braucht man wie Enyzme dazu, die funktionieren wie Scheren, und leider Gottes sind diese Scheren bei uns ständig aktiv, bei jedem sind die Scheren normal aktiv, und wir produzieren ständig dieses Amyloid."

    Normalerweise beseitigt eine zellulären Mülltruppe auf der Stelle alles Abfall-Amyloid. Im Alter aber beginnt die Entsorgung zu stocken. Das Amyloid sammelt sich in Klumpen an, und die störöen wahrscheinlich die Weiterleitung der Nervensignale. Damit nicht genug. Auch das Innere der Nervenzellen reagiert auf das Amyloid. Hier verändert sich Tau, ein Eiweiß das am Materialtransport in den langen Nervenfasern beteiligt ist. Auch Tau verklebt und bildet die derben Fasern, die schon Alois Alzheimer aufgefallen waren. Matthias Jucker, Professor für Zellbiologie am Hertie Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen glaubt, dass die Nervenzellen letztlich an einer Art Verstopfung zugrunde gehen.

    " Da ist eine Nervenzelle und da gibt es die Fortsätze und da sitzen plötzlich in diesen Fortsätzen dicke richtige Klumpen. Und dass da der ganze Transport gestört ist, ist offensichtlich, und das ist glaube ich der Hauptmechanismus, wieso es zur Degeneration und der Dysfunktion zuerst kommt."

    Die Ablagerungen bilden sich über mehrere Jahrzehnte. Irgendwann sind so viele Nervenzellen abgestorben, dass das Gehirn den Verlust nicht mehr ausgleichen kann. Und weil sich Amyloidklumpen und Taufasern zuerst in den Gedächtniszentren ablagern, ist eine extreme Vergeßlichkeit das erste Symptom der Alzheimerschen Krankheit. Im Laufe der Zeit greift der Zerfall dann auch auf andere Hirngebiete über.

    Lang zurückliegende Erinnerungen verblassen, selbst der Ehepartner wirkt wie ein völlig Fremder. Alltagstätigkeiten, das Anziehen, der Gang zur Toilette, sind nicht mehr möglich. Der Charakter verändert sich, die Orientierung geht verloren. Langsam aber sicher verblaßt die einstige Persönlichkeit. Wie ein kleines Kind versteht der demente Mensch die Welt nicht mehr, er reagiert spontan. Positiv auf warme Worte. Mit Wut oder Angst auf Unverständliches. Nur die Bewegungs- und Sinneszentren des Gehirns werden verschont, so dass die Patienten weder gelähmt sind, noch erblinden.

    " Dann frühstücken wir zusammen und wenn er nicht zur Tagespflege geht legt er sich einfach noch mal hin und dann zum Mittag. Dann wird entweder in den Garten gegangen oder wenn schlechtes Wetter ist kucken wir, ob etwas Interessantes im Fernsehen kommt, da ist er immer noch relativ interessiert an Sendungen mit Tieren, Reisebeschreibungen und so. Und manchmal bei alten Filmen, die er vielleicht früher schon man gesehen hat, merkt man deutlich, dass er mit versteht und auch mitgeht. Das äußert sich dann ein bißchen wie Lachen oder Rührung zeigen. Aber zum Beispiel so ein Krimi, da ist nicht mehr das Vermögen da, das zu begreifen. Aber es bewegen sich Leute, es sprechen Leute, wahrscheinlich ist das dann schon als Ablenkung genug, nehme ich mal an."

    In ihrer Plastikbox raschelt eine schlanke, schwarze Maus mit Holzspänen und Papierschnipseln. In dieser Umgebung wirkt die Maus völlig normal: Vor dem Mikrophon versteckt sie sich zunächst, um es dann neugierig zu beschnuppern. Erst wenn sie vor Herausforderungen gestellt wird, wenn sie ihr Futter in einem Labyrinth wiederfinden soll, zeigt sich: Diese Maus hat ein Problem. Sie hat ein menschliches Problem, denn in ihr Erbgut wurde ein Gen eingebaut, das beim Menschen eine aggressive Form der Alzheimerschen Krankheit auslöst. Nun sammeln sich auch im Nagerhirn innerhalb von Monaten die Amyloidklumpen an, mit all den Folgen für das Gedächtnis.

    Die so genannten APP-Mäuse haben die Demenzforschung revolutioniert. Noch in den Achtzigern arbeiteten die Wissenschaftler im Grunde wie Alois Alzheimer. Sie untersuchten das Endstadium der Krankheit in den Gehirnen verstorbener Patienten. Die APP-Mäuse erlauben es nun, die Entstehung der Krankheit im Tiermodell zu verfolgen. Allerdings mussten auch die Mäuse vor der Untersuchung getötet werden. Seit kurzem gibt es nun Computer-Tomographen in Nagergröße, mit denen sich der Prozess der Zerstörung im Gehirn mitverfolgen lässt. Und spezielle Mikroskope erlauben es, die Nervenzellen und Amyloidablagerungen im lebenden Mäusehirn direkt zu beobachten.

    Das Brummen kommt von zwei Lasern. Im Keller des Tübinger Institutes schicken sie ihr Licht durch Glasfaserkabel ins Gehirn einer Maus. Das Tier liegt unter einem Mikroskop, in tiefem Narkoseschlaf. In seinem Schädel sitzt ein kleines Glasplättchen mit Zahnarztzement fest eingefügt. Vorhin im Käfig putzte sich die Maus, fraß, spielte wie ihre Artgenossen, völlig unbeeindruckt von dem künstlichen Fenster im Kopf. Das gibt jetzt den Blick frei auf ihr Gehirn. Einen halben Millimeter tief dringen die schwachen Laser ins Nervengewebe ein. Das klingt nicht nach viel, aber in diesem halben Millimeter spielt sich der Großteil der Informationsverarbeitung ab, hier liegt die Hirnrinde mit all ihren Nerven und Verschaltungen. Fürs menschliche Auge unsichtbar wandern die beiden Laserstrahlen hin und her. An ihrem Kreuzungspunkt bringen sie jeweils Farbstoffe zum leuchten. Der Rote zeigt den Krankheitsprozess, er bringt die Amyloidablagerungen zum Leuchten. Der Grüne dagegen enthüllt die Antwort des Gehirns: er färbt spezielle Abwehrzellen, die sogenannten Mikroglia.

    Über Monate hinweg haben die Tübinger Forscher immer wieder derselben Maus ins Gehirn geblickt. Ein Computer setzte dann die Einzelbilder zu einem Film zusammen. Das Ergebnis betrachtet Matthias Jucker in seinem Arbeitszimmer: ein Filmportrait der Alzheimer Krankheit.

    " Zuerst kommen diese roten Plaques und sie werden immer mehr und sie werden immer größer. Das erste ist, was passiert, dass eine Mikrogliazelle, die in der Nähre ist, innerhalb von wenigen Stunden, hier haben wir ein Beispiel von etwa 12 Stunden, innerhalb von 12 Stunden zuerst die Fortsätze und dann der Zellkörper zu der Amyloidablagerung geht und dann mit ihren Fortsätzen das ganze Amyloid eigentlich umschlingt in einer Weise, wie sie eigentlich das Ganze wegräumen wollte, aber wie sie sehen, aus irgendeinem Grund klappt das offensichtlich nicht, dieses Auffressen nicht. "

    So nah waren die Forscher der Alzheimer Krankheit noch nie. Sie verfolgen live mit, wie die Abwehrzellen den Kampf gegen die Ablagerungen aufnehmen - und wie sie letztlich unterliegen. Die Müllabfuhr kommt gegen den gefährlichen Amyloidabfall nicht an. Die Bilder wirken deprimierend, aber sie eröffnen vor allem neue Chancen. Denn mit seinem Mikroskop kann Matthias Jucker die Wirkung neuer Behandlungsformen direkt beobachten. Als besonders vielversprechend gilt eine Impfung gegen Alzheimer. Dabei wird synthetisches Amyloideiweiß in die Blutbahn gespritzt. Daraufhin produziert das Immunsystem Antikörper, die sich an die Amyloidklumpen im Gehirn heften. Das reicht aus, um die Auseinandersetzung zwischen rot und grün, zwischen Ablagerung und Abwehrzelle entscheidend zu beeinflussen.

    " Die Mikrogliareaktion ist eigentlich dieselbe, aber wenn man Antikörper dazu bringt, dann ist diese Grenzfläche zwischen der Mikrogliazelle und zwischen Amyloid, das ist viel mehr aktiv und die Mikrogliazelle hat die Tendenz dieses Amyloid aufzunehmen und letztendlich sieht man dieses Amyloid, diese roten Punkte in der grünen Mikrogliazelle. Der Plaque hat die Tendenz kleiner zu werden. Normalerweise gibt es immer mehr, mehr, mehr und wenn man immunisiert offensichtlich kann so viel abgeräumt werden, wie neu dazukommt, in diesem Experiment wird es einfach nicht mehr weitergehen."

    Bei der Alzheimermaus hat die Impfung funktioniert, ließ sich der Nervenverlust stoppen. Doch eine Maus ist kein Mensch. Als ein ähnlicher Impfstoff vor einigen Jahren an Patienten erprobt wurde, entwickelten sechs Prozent von ihnen eine Hirnentzündung. Die ließ sich zwar meist behandeln, die Studie wurde dennoch abgebrochen. Ein herber Rückschlag, doch die Ärzte gaben nicht auf, sie beobachteten die vielen Patienten weiter, die die Impfung gut vertragen hatten. Christian Haass.

    " In einer ganz kleinen Kohorte von Patienten der Schweiz hat man gefunden, dass dort der Verlauf der Erkrankung aufgehalten oder sogar ganz gestoppt wurde. Und zwar waren das alles Alzheimer- Patienten, die sich normalerweise von Jahr zu Jahr in ihrer Gedächtnisleistung schwer verschlechtern. Und diejenigen, die auf die Impfung angesprochen hatten, positiv ansprachen, die waren und sind nach wie vor stabilisiert mental. Und das ist meiner Meinung nach ein Durchbruch, von dem hätte ich niemals zu träumen gewagt, wenn man mich vor 15, 16 Jahren gefragt hätte, wo ich anfing zu arbeiten in dem Gebiet, ob wir das jemals hinkriegen, hätte ich nur gelacht! Meine Urenkel vielleicht, aber nicht wir. "

    Eine Impfung gegen das Amyloid ist also tatsächlich in der Lage, die Alzheimer Krankheit zumindest zu verlangsamen. Jetzt kommt es darauf an, andere Impfformen zu entwickeln, die keine Hirnentzündung mehr auslösen. Eine Herausforderung, die mehrere Pharmafirmen angenommen haben. In Berlin wird Isabella Heuser, sie ist Professorin für Neurologie an der Charité, noch in diesem Jahr einen solchen Impfstoff erproben.

    " Ich denke eine verlässliche Aussage kann man erst machen so in vier, fünf Jahren, ob dieser Impfstoff wirklich wirkt. Die Patienten müssen über eine längere Zeit damit behandelt werden, die Patienten müssen dann über eine lange Zeit, mindestens zwei Jahre, nachuntersucht werden, dann müssen irgendwann die Befunde zusammengetragen werden, also ich denke ganz realistisch, ganz realistisch: vier, fünf Jahre."

    Das Feld der Alzheimertherapie ist in Bewegung. Die Pharmafirmen erproben nicht nur Impfstoffe, sondern eine große Vielfalt von Substanzen, die direkt die gefährlichen Ablagerungen im Gehirn auflösen sollen. Bei einer Strategie versuchen die Forscher, das Amyloid erst gar nicht entstehen zu lassen. Christian Haass hofft, dass sich dieses Ziel über die Scheren erreichen lässt, die das Abfalleiweiß aus dem großen Vorläuferprotein herausschneiden.

    " Das sind die primären targets, Ziele der Pharmaindustrie, weil solche scherenartigen Enzyme sich hervorragend eignen für die Entwicklung von kleinen chemischen Substanzen, die sich praktisch in die Scheren einlagern können und sie am Zuschnappen hindern können. Dazu muss man zuallererst mal die Scheren selbst kennen und deren normale Biologie verstehen."

    Inzwischen befinden sich mehrere Medikamente in der Erprobung, die auf den Münchner Forschungen aufbauen. Vielleicht kann man aber auch auf altbewährte Wirkstoffe zurückgreifen. Statine sollen eigentlich den Cholesterinspiegel senken. Nebenbei verändern sie aber auch die Zusammensetzung der Hülle der Nervenzellen und hemmen dadurch indirekt die Scherenenzyme. Ob das Patienten mit leichten Gedächtnisproblemen vor einem Abgleiten in die Alzheimerdemenz bewahren kann, wird derzeit in Berlin erprobt. Auch bestimmte Medikamente gegen die Zuckerkrankheit beeinflussen die Aktivität der Amyloid-Scheren. Bei einem anderen Ansatz wird versucht, Metalle abzufangen, die am Zusammenhalt der Amyloidklumpen beteiligt sind, auch dazu laufen erste Studien in den USA. Noch im Stadium der Tierversuche sind Medikamente, die das Wachstum der Tau-Fasern bremsen sollen. Bei so vielen parallel verfolgten Ansätzen sollten zumindest einige einen begrenzten Effekt zeigen. Christian Haass ist optimistisch.

    " Das wird kommen, wir haben sehr, sehr viele, wenn nicht sogar alle Zielmoleküle, die eine entscheidende Rolle bei der Krankheit spielen und kennen die mechanistisch so gut, dass wir dagegen Medikamente entwickeln können."

    Haass rechnet damit, dass mehrere Wirkstoffe kombiniert werden müssen, um den Zerfall des Gedächtnisses aufzuhalten. Auch Matthias Jucker ist davon überzeugt, dass man den Verlauf der Alzheimerkrankheit grundlegend ändern kann. Dazu ist es nicht unbedingt nötig, den Krankheitsprozess komplett zu stoppen.

    " Wir wollen sie nur fünf oder zehn Jahre hinauszögern und dann ist das Alzheimerproblem sowieso gelöst, weil die Leute am normalen Altern einfach sterben. "

    " Also für uns kommen die Dinge, und das muss man ganz klar sagen, zu spät. Aber ich verfolge mit großem Interesse jeden Bericht der deutlich macht, dass man sich überhaupt erst einmal kümmert, viel mehr, als es vielleicht in der Vergangenheit der Fall war. Und meine große Hoffnung ist für all die, denen es noch bevorsteht, dass ihnen besser geholfen werden kann."

    Patienten, Angehörige und Ärzte warten dringend auf die neuen Wirkstoffe, denn die derzeit verfügbaren Medikamente haben nur geringe Effekte.

    In der Apotheke gibt es derzeit ein halbes Dutzend Alzheimermedikamente zu kaufen. Doch sie alle halten den Krankheitsprozess nicht auf, sie unterstützen vielmehr auf verschiedenen Wegen die verbliebenen Nervenverbindugnen, verstärken die Signale im Gehirn. Normalerweise erzielen Alzheimerpatienten in Gedächtnistests Jahr für Jahr schlechtere Werte oder Scores. Die Medikamente können die Werte um etwa so viel anheben, wie sonst innerhalb eines halben oder eines ganzen Jahres verlorengeht. Dabei sind die individuellen Unterschiede erheblich. Manche Patienten profitieren gar nicht, andere setzen die Medikamente wegen der Nebenwirkungen auf den Verdauungstrakt ab, wieder andere wachen noch einmal weitgehend aus der Demenz auf. Von diesem neuen Niveau aus gleiten sie dann aber wieder dem Vergessen entgegen.

    Das ist, gemessen an der Schwere der Erkrankung, nicht viel. Nichtsdestotrotz ist Lutz Fröhlich, Neurologieprofessor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, davon überzeugt, dass die Medikamente die Lebensqualität von Patienten und Angehörigen sehr wohl verbessert.

    " Für das tägliche Leben bedeutet das offensichtlich sehr viel, wie man aus der Analyse von Patienten oder vor allen Dingen von Angehörigen weiß. Das bessere Zurechtkommen in der Fähigkeit sich selber anzuziehen, die Kleider richtig auszuwählen, oder Essen oder die Ausscheidungen richtig zu kontrollieren macht einen erheblichen Unterschied und der weckt sehr viel mehr an Lebensqualität und setzt auch sehr viel mehr selbstbestimmte Ressourcen frei, die alle in diesen Scores sich nicht wiederfinden. "

    Was wiegt mehr? Die positive Einschätzung der Ärzte oder die relativ geringen Effekte in den Gedächtnistests? Derzeit prüft das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWIG, die Wirksamkeit der Alzheimermedikamente. In einem Vorbericht kommt es zu dem Schluss, dass die Effekte vorhanden, aber gering sind. Ob die Pillen ihren Preis wert sind und die Kassen die Kosten weiterhin übernehmen, muss nun politisch entschieden werden, im gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Kein Wunder dass viele betroffene Familien verunsichert sind.

    " Ich glaube es wäre schon eine Katastrophe für die Patienten und die Angehörigen, für die Entwicklung der Medizin in diesem Bereich, wenn die Kostenerstattung der Medikamente vom IQWIG sagen wir mal bestritten würde. Weil die Effekte da sind, weil die Alternative nichts tun wäre, weil dieser ganze Komplex der Diagnostik, der Beratung, der Begleitung der Patienten über die Zeit dann erst mal mangels eines Tools sage ich mal. das auch Medikamente darstellen, das es dem Arzt auch einfacher macht, sein Tun darum herum zu gestalten, in sich zusammenbrechen würde, fürchte ich."

    Dabei erhält sowieso nur ein Bruchteil der Alzheimerpatienten die in den Leitlinien als Therapie der ersten Wahl bezeichneten Medikamente. Dafür gibt es mehrere Gründe: Noch immer sprechen weder Ärzte noch Patienten gerne die Diagnose Alzheimer aus, die Patienten sind durch ihre Krankheit kaum in der Lage, ihre Rechte einzufordern und schließlich macht es der Budgetdruck den Medizinern schwer, teure Dauerbehandlungen zu verschreiben. Dieser Druck wird noch zunehmen, wenn demnächst neue Medikamente zur Verfügung stehen. Demgegenüber steht aber möglicherweise eine finanzielle Entlastung bei dem wichtigsten Kostenfaktor der Alzheimerkrankheit: bei der Pflege.

    " Im Prinzip hat sich natürlich auch mein eigenes Leben dadurch verändert, das ist klar. Ich bin selbst durchaus auch nicht mehr gesund. Aber das, was uns verbindet schon so viele Jahre, das hilft einfach, das zu tun, was zu tun ist. Ich muss natürlich früh und abends eine gewisse Zeit aufwenden, um die hygienischen Dinge zu erledigen, anziehen ausziehen, rasieren, waschen etc. Was relativ neu ins Leben gekommen ist, sind die etwas unruhigeren Nächte. Also es gibt Nächte, wo er sehr unruhig ist, vielleicht auch träumt, nehme ich an, weil er auch wie hoch schreckt und mein Schlaf dann natürlich auch unterbrochen ist, ist klar. "

    Bis zum Jahr 2050 wird sich der Anteil der Alten in der deutschen Gesellschaft verdoppeln, die Zahl der über 90-jährigen sogar verdreifachen. Damit nimmt unausweichlich auch die Bedeutung der Alzheimer Krankheit zu, konservative Schätzungen sprechen von mehr als 2 Millionen Patienten. Schon heute kostet die Behandlung und Pflege der Demenzkranken im Jahr 20 Milliarden Euro, in Zukunft werden es wohl 60 Milliarden Euro sein. Damit wird die Alzheimersche Krankheit zur Herausforderung für die ganze Gesellschaft, prognostiziert Reiner Klingholz.

    " Es sind die Pflegekosten in den Pflegeheimen, es wird eine Überlastung der Familien sein, weil die Familienangehörigen zwangsläufig aufgrund der demographischen Entwicklung immer weniger zur Verfügung stehen, es wird aber auch die Alzheimerpatienten selber betreffen, weil die plötzlich weniger Betreuung haben, dann auch möglicherweise eine unsachgemäße Pflege haben, was dann ihren Gesundheitszustand nicht unbedingt verbessert. Ich bin generell kein Freund von düsteren Prognosen, gleichwohl müssen wir uns auf extreme Veränderungen in unserem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld einstellen, und wir müssen uns da anpassen."

    Konkret heißt dass, wenn die Sechzig- und Siebzigjährigen dank der medizinischen Fortschritte immer rüstiger werden, dann müssen sie zumindest einen Teil der gewonnen Lebensjahre mit Arbeit füllen und können sie nicht komplett im Ruhestand verbringen. So kommt mehr Geld in die Sozialsysteme, gleichzeitig dürfen aber auch die Ausgaben nicht ins Unermeßliche steigen, und da sieht Reiner Klingholz nur einen bezahlbaren Weg: vorbeugen statt behandeln.

    " Wir müssen, was Prävention anbelangt, uns in jungen Jahren schon darum kümmern, dass wir auch in ältere Jahre mit guter Gesundheit kommen. Prävention ist das wichtigste und billigste Element im Gesundheitssystem und das wird in Zukunft immer wichtiger, weil die Kosten steigen und weil wir die Kosten nicht endlos befriedigen können, müssen wir da andere Konzepte haben und sich selbst um die Gesundheit der höheren Jahre zu kümmern, ist ein wichtiger Punkt dabei. "

    Es gibt viele Möglichkeiten, den drohenden Zerfall des Gedächtnisses zu verzögern. Die wichtigste ist geistige Aktivität. Menschen mit höherer Bildung, mit breit gestreuten Interessen, mit einem großen Freundeskreis sind offenbar besser in der Lage, eventuelle Ausfälle auszugleichen. Auch körperliche Aktivität, Sport, Spaziergänge und so fort, stärken die Nerven. Eine gesunde, vitaminreiche Ernährung hilft bei der Beseitigung schädlicher Stoffwechselprodukte im Gehirn, bestimmte Schmerzmittel können Entzündungsprozesse dämpfen und das Hormon Östrogen hält offenbar auch das Nervengewebe gesund. All das hat sich in großen Studien gezeigt.

    Vorbeugung kann den Ausbruch der Alzheimerschen Krankheit verzögern. Hat das Nervensterben aber erst einmal begonnen, richtet eine gesunde Lebensführung allein nur noch wenig aus. Hier sind in der Tat neue Medikamente gefragt, und die werden umso effektiver wirken, je früher sie der Patient einnimmt. Deshalb arbeiten Wissenschaftler nicht nur an innovativen Therapien, sondern auch an neuen Formen der Frühdiagnose von Alzheimer.

    Wo ist das Auto in der Tiefgarage? Wie heißt der Metzger? Solche kleinen Gedächtnisprobleme sind im Alter weit verbreitet und normal. Aber wenn man ständig Arzttermine vergisst oder seine wöchentliche Doppelkopfrunde, dann sollte man sich untersuchen lassen. LKS, Leichte kognitive Störung, könnte die Diagnose lauten. Wer an LKS leidet, hat ein drei mal höheres Risiko, auch Alzheimer zu entwickeln. Schon heute lassen sich die Vorstufen des Amyloids und des Taueiweißes im Hirnwassern nachweisen. In Zukunft gelingt Ähnliches vielleicht auch im Blut. Alternativ vermessen die Ärzte die Größe und Aktivität der Gedächtnisregionen im Gehirn, sie schrumpfen schon vor dem Ausbruch erster Symptome. Allerdings gibt es hier große Unterschiede auch unter Gesunden. Die Methoden müssen noch deutlich verfeinert werden, bevor sie eine verlässliche Prognose für einen einzelnen Patienten erlauben.

    Heute schrecken sowohl Ärzte als auch Patienten und Angehörige oft vor der Diagnose zurück. Sie wollen es lieber nicht so genau wissen. Dabei, meint die Neurologin Isabella Heuser, sprechen schon heute gute Gründe dafür, dem Gedächtnisverfall ins Auge zu blicken. Wenn das Vergessen droht, werden die klaren Tage umso kostbarer.

    " Ich finde das schon sehr, sehr wichtig, dass man frühzeitig die Diagnose bekommt, dass man etwas umstellt in seinem Leben, dass man auch Training bekommt. Es ist ja nicht so, dass wenn irgendwie man eine ganz, ganz milde Frühform von Alzheimer hat, dass man dann irgendwie gleich dement ist oder überhaupt nicht. Viele merken es zwar, aber man merkt es ihnen nicht an, man kann dann noch Dinge regeln und das finde ich doch extrem wichtig "

    Hundert Jahre nach Alois Alzheimer bedeutet die Diagnose Demenz noch immer einen schweren Schicksalsschlag, das sichere Abgleiten in das Vergessen. Doch schon bald könnte sich das ändern. Vielleicht.

    " So weit sehr viel weiter zu denken hat eigentlich wenig Sinn. Das heißt, große Pläne zu machen hat keinen Sinn, das ist ganz klar. Leben können, in dem Rhythmus in dem Tag der hier eingespielt ist, und dann denke ich, ist es gut, so wie es jetzt ist. Mir ist es an einem Tag gar nicht gut gegangen, da habe ich so vor mich hin gesagt: Heute bin ich aber richtig bescheuert. Und da hat er gesagt "Heute?" Das sind Momente wo etwas durchkommt, er hat es in dem Moment begriffen. Er macht einen Witz darüber, das genieße ich, das ist einfach sehr schön und wenn man merkt dass ihm etwas gut tut dann ist das auch für mich gut. Das sind mitunter Glücksmomente, ganz einfache Sachen, aber die nimmt man schon so. Die früher vielleicht selbstverständlich waren, das wird jetzt wirklich zu einem glücklichen Moment. "

    Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG)

    Deutsches Kompetenznetz Demenzen

    Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Tübingen

    Labor für Alzheimer- und Parkinson-Forschung, München

    Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin

    Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

    Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung