Günter Hellmich: Herr Gysi, "Die Linke" geht mit großer Geschlossenheit, einer starken Führung und einer klaren Programmatik voller Zuversicht in die Landtagswahlkämpfe dieses Jahres. Alles richtig?
Gregor Gysi: Das klingt auf jeden Fall sehr gut. Aber wir sind natürlich noch in einem Vereinigungsprozess, und damit hängt auch zusammen, dass es natürlich gelegentlich bestimmte Schwierigkeiten gibt. Aber ich finde das trotzdem besser als Beitritt. Beitritt heißt nur, die einen sollen so werden, wie die anderen schon sind. Vereinigung ist immer komplizierter. Aber wir haben ein Programm, wir haben den Entwurf eines neuen Programms, wir haben jetzt auch – sagen wir mal – einen Alternativentwurf. Das finde ich alles gar nicht schlecht, ich finde das sogar gut, dass da sehr unterschiedlich diskutiert wird. Ich möchte nur, und das ist mein Anliegen, dass wir dann ein paar Wochen vorher uns zusammensetzen und versuchen, Kompromisse zu finden, weil ich möchte kein Parteiprogramm für 55 Prozent der Mitglieder, sondern eins für 90 Prozent der Mitglieder. Und da bin ich auch ziemlich sicher, dass wir das schaffen.
Hellmich: Vor dem Programm sind ja nun erst mal die Landtagswahlen, das geht ja so alles quer gegenüber und es wird heftig diskutiert ...
Gysi: ... richtig ...
Hellmich: ... und los geht es ja schon in Hamburg.
Gysi: Aber ich sage mal Folgendes: Ich finde, dass wir jetzt gerade in den letzten Wochen, nachdem wir – das habe ich ja selber gesagt – die Generalprobe danebengesetzt haben – und dann habe ich gesagt: Im Theater heißt es, dann kommt eine gute Premiere –, stelle ich tatsächlich fest, dass wir jetzt wieder viel konkreter an Politik arbeiten. Ich sage mal, auch die Debatten im Bundestag waren sehr inhaltsreich, die wir jetzt geführt haben. Wir werden auch einen sehr engagierten Wahlkampf in Hamburg führen. Ich möchte, dass wir besser in Hamburg abschneiden als beim letzten Mal. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel zurzeit, aber ich habe dieses Ziel. Und deshalb bin ich jetzt wieder optimistischer als – sagen wir mal – noch vor 'ner Woche oder vor zwei Wochen.
Hellmich: Und was passiert, wenn Sie durchfallen im Hamburg?
Gysi: Na, das wäre eine ziemliche Katastrophe, dann müssen wir uns am Tag danach noch mal treffen. Aber das glaube ich nicht. Nein, ich bin relativ sicher, dass wir reinkommen, aber ich möchte eben, dass wir auch mit einem guten Ergebnis reinkommen. Und wir müssen versuchen, den Hamburgerinnen und Hamburgern klar zu machen, dass ohne uns ein sozialer Motor fehlt, dass ohne uns auch ein sozialer Korrekturfaktor fehlt, übrigens auch ein wichtiger Faktor in der Frage Bildungspolitik, in der Frage öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. So was hat Berlin, so was hat nicht Hamburg, warum eigentlich nicht? Selbst das Bürgergeld von Frau von der Leyen in Höhe von etwa 900 Euro kann man nutzen und dann ergänzen, um wirklich richtige Beschäftigung zu organisieren, und zwar sinnvolle Beschäftigung für die Leute und für die anderen. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum wir immer Arbeitslosigkeit bezahlen statt Arbeit. Also, es gibt auch für Hamburg Alternativen, und wenn wir nicht drin sitzen, dann fordert das keiner. Das macht ja die Bürgerschaft ein bisschen langweilig, das soll sie auf gar keinen Fall werden. Je stärker DIE LINKE ist, desto mehr Leben herrscht in der Bürgerschaft.
Hellmich: Das ist ja eine kitzlige Sache in diesem Jahr mit den Landtagswahlen, weil – es gibt welche im Westen und es gibt welche im Osten. Die Ausgangslage ist ja ein bisschen unterschiedlich. Von daher mal meine Frage: Wenn Sie die Wahl hätten, beispielsweise dass Ihre Partei in Sachsen Anhalt stärkste Partei wird oder in Rheinland-Pfalz überhaupt mal erst in den Landtag kommt, wofür würden Sie sich entscheiden?
Gysi: Die Wahl würde ich ablehnen, weil ich natürlich beides will. Sehen Sie mal: Früher war es so, dass unsere Wahlkämpfe im Westen im Kern nur der Information dienten. Wir hatten dort nie eine Chance, in den Landtag zu kommen als PDS. Das hat sich ja erst verändert 2005 und dann natürlich jetzt 2009, und zwar sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei den Landtagswahlen. Sie müssen mal sehen – mein Ausgangspunkt Ende Dezember 1989, Anfang 1990 und dann die Einheit, daran war ja zunächst überhaupt nicht zu glauben. Die spannende Frage ist doch: Was hat sich eigentlich in den alten Bundesländern geändert, dass so viele Menschen sagen: Wir wählen eine Partei links von der SPD? Und das finde ich wirklich aufregend. Nein, ich will beides, ich will stärkste Fraktion in Sachsen-Anhalt werden, im Augenblick sieht es nicht ganz so aus bei der Umfrage, aber man muss sich ja immer ein hohes Ziel setzen. Und natürlich will ich nicht nur in Rheinland-Pfalz in den Landtag, auch in Baden-Württemberg, beides wichtig. Weil – so werden wir immer stärker zu einem bundespolitischen Faktor. Und daran haben ja vor Jahren, mich eingeschlossen, viele gar nicht geglaubt, und nun wird es Realität. Und Sie wissen aber, bei Linken ist das immer schwierig. Wenn die mit Erfolgen verwöhnt werden, können sie auch ein bisschen komisch werden. Aber jetzt, glaube ich, haben sie es begriffen und wir kämpfen alle wieder.
Hellmich: Sind Sie denn so sicher, dass die Linken im Westen wirklich gebraucht werden in den Landtagen?
Gysi: Ja, unbedingt. Und zwar aus mehreren Gründen. Der erste Grund ist, es verändert tatsächlich den Landtag, es verändert die politischen Diskussionen. Es gibt wirklich Alternativen zu den Stellungnahmen, die man von den anderen Parteien ja schon seit Jahren in den Landtagen kennt. Und ich glaube, dass es wirklich die Demokratie und das Leben auch im Land bereichert. Das Zweite, das will ich überhaupt nicht leugnen, es ist auch für die Entwicklung unserer Landesverbände wichtig. Denn wenn man im Landtag ist, dann muss man sich permanent mit politischen Fragen auseinander setzen. Die anderen Parteien interessieren sich für das, was man macht. Die Medien interessieren sich für das, was man macht. Das ist eine größere Herausforderung. Wenn man nur draußen sitzt, dann kümmert sich ja so gut wie keiner um sich, dann fängt man an, so vor sich in zu wuseln und setzt sich immer so mit anderen Gruppen auseinander, aber spielt in der Öffentlichkeit des Landes kaum eine Rolle. Und drittens – gar nicht zu unterschätzen: Das hat auch eine bundespolitische Relevanz. Was glauben Sie, wie sich das Verhältnis von Union, aber auch SPD und Grüne und FDP zu uns verändert, wenn wir zum Beispiel in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erfolgreich einziehen. Da müssen unsere Abgeordneten dort noch gar nichts gesagt haben, da kriegen die in Berlin mit: Es ist ein Faktor, der zunimmt, wir müssen darauf Rücksicht nehmen. So kommen übrigens Korrekturen in der Politik zustande – gar nicht, dass man das selber durchsetzt, sondern dass die anderen Sorgen kriegen und sagen: Wenn die Linken so viel Stimmen kriegen, müssen wir unsere Politik ändern, damit die Linken wieder weniger Stimmen bekommen. Das ist ja dann deren Ziel, so verläuft der ganze Mechanismus. Nein, nein, das ist schon ganz wichtig, glaube ich.
Hellmich: Aber wenn ich jetzt mal Baden-Württemberg nehme beispielsweise – Stuttgart 21 ist das große Aufreger-Thema dort: Da sind Sie doch eigentlich, also nicht Sie persönlich, sondern die Partei, eigentlich erst relativ spät raufgesprungen.
Gysi: Nein, also ich habe versucht, das zu verhindern, ich glaube, das ist auch einigermaßen gelungen. Natürlich ist das ein ursprünglich eher grünes Thema, das war auch ganz klar zu spüren. Ich bin ja auch nicht sofort zu der Kundgebung gefahren, sondern ich habe darüber gesprochen im Bundestag, und zwar habe ich nicht so getan, als ob ich jemand bin, der sich seit Jahrzehnten mit S 21 beschäftigt. Das wäre auch völlig unglaubwürdig gewesen. Sondern ich habe die Demokratiefrage aufgeworfen, und die ist ja auch spannend. Wissen Sie auch warum? Weil wir doch eine deutsche Mentalität haben, die sich bekanntlicherweise von der französischen unterscheidet. Die neigen ja viel eher zu Demos und Protesten und so. Und wenn Du uns Deutschen sagst, also es liegen alle parlamentarischen Genehmigungen für S 21 vor, es liegen alle Regierungsgenehmigungen vor, es sind alle wesentlichen Gerichtsverfahren gelaufen, da ist gar nichts mehr zu machen – dann bleiben wir normalerweise zu Hause. Dann gibt es 100, die kommen trotzdem immer hin, die kennen wir beide persönlich und schätzen sie sehr, aber das hat ja mit einem wirklichen Protest nichts zu tun. Und plötzlich interessiert das die Leute in Stuttgart, verstehen Sie? Tausende, Abertausende gehen dahin, obwohl diese Argumente verwandt werden, weil sie etwas festgestellt haben: Der Abstand zwischen der Regierung und den Regierten hat so zugenommen, dass sie sich nach dem Grundgesetz ihre eigentliche Macht wieder zurückholen müssen. Und das finde ich aufregend. Über diese Demokratiefrage habe ich gesprochen, und das fanden die Leute glaubwürdig. Wenn ich jetzt so einen anderen Ansatz gefunden hätte, das hätte sie gar nicht überzeugt. Und die Missverhältnisse – nicht vergessen: Die Leute erleben täglich, wenn sie sich wünschen, dass die Toilette in der Schule repariert wird, dass die Antwort kommt: Kein Geld! Aber Milliarden für einen unterirdischen Bahnhof sind da, Milliarden für einen im Ergebnis extrem negativen Krieg in Afghanistan sind da. Das ist für sie nicht mehr nachvollziehbar. Und das finde ich spannend. Und deshalb habe ich etwas Erstaunliches festgestellt: Ich war ja mit Gesine Lötzsch zusammen dort, und dann wurden wir vorgestellt. Und es gab in Stuttgart bei Zehntausenden nicht einen Protestruf, sondern nur Beifall und Zustimmung. Das kenne ich nun eigentlich aus den alten Bundesländern anders, wenn ich da begrüßt wurde, war es immer so eine gemischte Reaktion, sage ich mal. Aber da habe ich festgestellt: Nein, wir haben da einen gewissen Stellenwert, natürlich nicht den der Grünen, das ist mir klar. Bloß die Grünen haben ja auf meine Frage, ob sie nun einen Volksentscheid durchführen und ob sie S 21 schließen, geantwortet: Sie tun, was möglich ist. Nun, das ist so eine weise Antwort, wo man dann hinterher nicht mal die Hälfte von dem realisiert, was man gesagt hat. Also auch insofern wichtig, dass wir einziehen und den Druck erhöhen. Aber Sie haben recht, in bestimmten Fragen müssen wir erst noch zu einem Faktor werden. Sie müssen sehen: Wir sind akzeptiert bisher in zwei Fragen, in der Frage "Frieden", in der Frage "Soziale Gerechtigkeit". Und jetzt habe ich gesagt, kommt für uns ein drittes Thema dazu, die Demokratie. Das ist auch erstaunlich, dass das Akzeptanz findet, ich habe das für schwieriger gehalten. So, und ökologische Nachhaltigkeit und so – da müssen wir noch ein bisschen kämpfen, das räume ich ein.
Hellmich: Thema "Demokratie": Da hat ja auf der anderen Seite das, was Gesine Lötzsch in der JUNGEN WELT geschrieben hat, doch ein bisschen Aufruhr verursacht in der Öffentlichkeit und vielleicht auch dem einen oder anderen, der geneigt ist, Sie vielleicht zu wählen, besonders im Westen, Bauchschmerzen verursacht – sagen wir es mal so ...
Gysi: ... ja, das kann schon sein ...
Hellmich: ... Kommunismus, was ist das, ist das Demokratie?
Gysi: Ja, verstehen Sie: Da ist natürlich auch ein Satz aus dem Zusammenhang gerissen worden. Sie hat sich ja in diesem Artikel für den demokratischen Sozialismus ausgesprochen, und dafür steht sie auch. Ich möchte auch nicht, dass man ihr Dinge unterstellt, die sie mit Sicherheit gar nicht gemeint hat, insofern hat sie dann auch meine Solidarität. Auf der anderen Seite war die Debatte insgesamt nicht glücklich, aber ich glaube, sie ist jetzt auch beendet. Verstehen Sie – das Problem ist doch folgendes: Karl Marx und Friedrich Engels stellten sich unter Kommunismus die gerechteste Gesellschaft vor, klassenlos, mit sozialer Gerechtigkeit, mit Bildungschancen für alle und so weiter. Ich kann mich natürlich darauf stützen. Das Problem ist nur: Viele Menschen, gerade in den alten Bundesländern, verstehen unter Kommunismus nicht das, was Marx und Engels meinten, sondern verstehen darunter das, was im Namen des Kommunismus für Verbrechen begangen wurden. Und da das so ist, haben wir uns ja schon 1989/1990 sehr bewusst entschieden und gesagt: Wir kämpfen für demokratischen Sozialismus. Übrigens, damals wurde mir gesagt, wirklicher Sozialismus ist immer demokratisch, Gregor, da musst Du nicht hinschreiben "demokratisch". Da habe ich gesagt, es kann schon sein, dass der wirkliche Sozialismus immer demokratisch ist, aber die Leute haben jetzt gerade das Gegenteil erlebt. Und ich will ganz klar sagen: Mit uns, mit meiner Partei, mit mir ist ein autoritärer Sozialismus, in welcher Form auch, überhaupt nicht mehr machbar. Da würden wir beide zusammen dagegen kämpfen. Nur noch ein demokratischer Sozialismus! Den Kapitalismus halte ich allerdings nicht für die Lösung. Die ganzen Krisen, die wir jetzt erlebt haben, haben alle damit zu tun, dass das Geld mehr wert ist als Menschen. Das ist nicht in Ordnung. Und deshalb finde ich es ja wichtig, dass es uns gibt.
Hellmich: Ja, ja, so einfach ist das, glaube ich, nicht mit Frau Lötzsch und dem Kommunismus, denn sie hat ja die Politik der Linkspartei verteidigt im Grunde genommen als revolutionäre Politik im Luxemburgischen Sinne. Da ging es darum, dass bestimmte Maßnahmen, wie sie beispielsweise vom rot-roten Senat in Berlin praktiziert werden, also Einrichtung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, das hat sie dargestellt als Mittel der revolutionären Politik im Luxemburgischen Sinne – "hineingepresst werden in die bürgerliche Gesellschaft", um dem Kapitalismus auf diese Art und Weise umzustürzen.
Gysi: Also, erstens kann ich das gar nicht bestätigen, was Sie sagen. Das erzählen Sie mir jetzt so. Aber zweitens weiß ich, dass sie genau wie ich und andere für nichts anderes streitet, als für einen demokratischen Sozialismus. Und wir gehen natürlich in die Regierung, um Gesellschaft zu verändern. Ist doch klar. Und ich sage ja auch, wir stehen für einen Politikwechsel. Mit dem Begriff Revolution ist das immer so schwierig, weil es gibt ja Transformationen, die – wenn Sie so wollen – einen revolutionären Charakter haben. Zum Beispiel meinte ja die Bundeskanzlerin, ihre ganze Energiewende sei eine Revolution. Na, also das kann ich gar nicht so einschätzen. Und andere verstehen unter Revolution immer, dass man Fenster einschmeißt und ordentlich Radau macht. Also, das verstehen wir natürlich nicht darunter. Aber Veränderungen brauchen wir. Ich sage Ihnen wirklich, schauen Sie sich doch einmal die internationale Finanzkrise an. Was passiert denn jetzt dagegen? Nichts. Wir brauchen endlich wirklich eine Ordnung, die wieder eins herstellt: Die Macht der Politik über die Wirtschaft. Verstehen Sie, heute entscheidet Herr Ackermann, was Frau Merkel macht. Und ich möchte schon, dass der Bundestag entscheidet, was Herr Ackermann zu tun hat. Das ist aber eine zentrale Frage, organisieren wir ein Primat der Politik über die Wirtschaft, oder bleibt es beim Primat der Wirtschaft über die Politik.
Hellmich: Und noch mal zurück. Doch zu Marx und dem Kommunismus. Da ist ja vorher noch die ...
Gysi: ... Sie wollen hier die ganze Zeit mit mir über den Kommunismus diskutieren.
Hellmich: ... nein ...
Gysi: ... ja, ist ja okay ...
Hellmich: ... nein, überhaupt nicht.
Gysi: Ich habe ja nichts dagegen. Also noch mal zurück.
Hellmich: Da ist ja irgendwo noch die Diktatur des Proletariats vorgeschaltet, bevor das Paradies dann kommt. Wollen wir die, oder wollen wir die nicht?
Gysi: Nein, die wollen wir natürlich nicht. Aber darf ich mal daran erinnern, dass Karl Marx das doch in einem ganz anderen Zusammenhang benutzt hat, den Begriff. Er hat doch gesagt, es gab immer eine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit, erst die Sklavenhalter, dann der Feudaladel, dann die Kapitalisten. Dann hat er gesagt, wenn nun endlich mal Sozialismus kommt, gibt es das erste Mal die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Das war doch nur sein Ausgangspunkt. Es ging ihm darum, zu zeigen, dass die Verhältnisse sich verkehren. Leider ist dann dieser Begriff missbraucht worden von vielen, weil sie ernsthaft dachten, man muss eine Diktatur aufbauen. Ich sage das noch einmal ganz klipp und klar: Die Menschheit hat den Staatssozialismus abgelehnt, Punkt. Sie wollte ihn nicht, und das habe ich vollständig akzeptiert und das akzeptieren die Mitglieder meiner Partei. Und deshalb kämpfen wir für einen demokratischen Sozialismus, der dann gerechter ist als der heutige Kapitalismus.
Hellmich: All das, was die Linke propagiert, Reformschritte ...
Gysi: ... richtig ...
Hellmich: ... oder Mittel zum Zweck, den Kapitalismus abzuschaffen, umzuwälzen?
Gysi: Beides, verstehen Sie. Nur, wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen und zu einem demokratischen Sozialismus kommen wollen, brauche ich dafür eine Mehrheit in der Bevölkerung, sage ich immer meinen Leuten. Wenn wir die nicht haben, haben wir sie nicht. Punkt. Dann können wir darüber nachdenken, was wir alles falsch machen. Aber nie wieder will ich die Mehrheit einer Gesellschaft zu einer gesellschaftlichen Struktur zwingen, die sie nicht will. Punkt. Es gibt einen traurigen Umstand, das will ich auch sagen. Ich kann Ihnen leider kein praktisches Beispiel eines demokratischen Sozialismus nennen, das weiß ich.
Hellmich: Aber das ist da durchaus ein Thema auch in der Programmdiskussion bei Ihnen.
Gysi: Ja, klar.
Hellmich: Reform oder Revolution war ja immer so die Frage.
Gysi: Ja, das ist aber klar. Ich habe ja den Entwurf gelesen. Im Kern geht es darum, die eigentlich spannende Frage am Programm ist etwas anderes. Das ist viel zu wenig bisher herausgearbeitet worden. Wir haben in unserer Gesellschaft sage ich mal, zwei entscheidende Machtblöcke. Es gibt mehr, es gibt auch noch die Medien, das weiß ich. Aber ich nenne jetzt nur zwei, die Politik und die Wirtschaft. Ich habe vorhin gesagt, wichtig ist ein Primat der Politik über die Wirtschaft. Warum ist das so wichtig? Der Bundestag wird gewählt, den Vorstand der Deutschen Bank dürfen wir beide nicht wählen. Wenn der Vorstand der Deutschen Bank entscheidet, was der Bundestag zu machen hat, ist das kein demokratischer Zustand. Also haben wir gesagt, wir brauchen nicht nur ein Primat der Politik über die Wirtschaft, sondern, das ist wichtig, ich brauche auch mehr Demokratie in der Wirtschaft. Das wird die entscheidende Frage unseres Programms. Warum? Öffentliche Daseinsvorsorge wollen wir in öffentlicher Hand haben, völlig zu Recht. Aber es gibt ja auch die Schlüsselbereiche, die Schlüsselindustrie, die wirklich von gravierender Bedeutung sind. Und da stelle ich mir vor, bestimmte Bereiche brauchen wir im öffentlichen Eigentum, andere nicht, die können alle privat bleiben, die Kleinen sowieso. Aber ich möchte Miteigentum der Belegschaften haben, und zwar in einem bestimmten Prozentsatz. Nicht so, dass sie das Wirtschaftsgeschehen entscheiden, aber so, dass sie bei bestimmten Dingen gefragt werden. Und da nenne ich Ihnen ein Beispiel: Nokia kriegt staatliches Geld, baut hier eine Firma auf, hat viele Beschäftigte und nach Ablauf einer bestimmten Frist, wenn sie wissen, sie müssen das Geld nicht mehr zurückzahlen, entscheiden sie sich, umzuziehen in ein anderes Land, aber nicht, weil sie kurz vor der Insolvenz standen – dann könnte man das ja akzeptieren –, sondern sie machen schon Profite, aber sie sagen, woanders könnte ich ja mehr Profite machen. Wenn jetzt die Belegschaft Miteigentümer gewesen wäre, dann hätten die Bosse die Belegschaft fragen müssen, ob sie gerade Lust hat, umzuziehen. Und wenn die Belegschaft gesagt hätte, ja, wir wollen gerade alle umziehen, dann hätten sie es machen können. Wenn sie aber – was sehr viel wahrscheinlicher ist – gesagt hätten, nein, wir wollen nicht umziehen, wäre das Werk geblieben. Übrigens, bei der Stahlindustrie im Saarland sind sie den Weg gegangen über eine Stiftung, die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteressen vertritt. Die sind daran beteiligt und das funktioniert hervorragend. Man muss es sich mal ansehen. Wie nennen Sie das jetzt? Reform? Oder Revolution? Ist mir ehrlich gesagt wurscht. Auf jeden Fall verändert es die Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gibt ihnen mehr Möglichkeiten, und die Zustände werden gerechter. Was spricht dagegen?
Hellmich: Sie haben gerade das Saarland angesprochen. Da fällt mir Oskar Lafontaine ein. Vor einem Jahr haben Sie als Ersatz für Oskar Lafontaine die jetzige Führungscrew installiert. Das ging ja im Wesentlichen dann doch von Ihnen aus, der Kompromiss, der da gefunden wurde. War das im Nachhinein betrachtet eine gute Auswahl, denn es rumort ja doch kräftig?
Gysi: Herr Hellmich, das war natürlich eine Top-Auswahl. Was erwarten Sie denn von mir, was ich jetzt sage? Abgesehen davon sind sie alle demokratisch von der Mehrheit auf dem Parteitag, und zwar mit guten Ergebnissen, gewählt worden. Nein, ich glaube, dass die Partei dabei ist, sich zu entwickeln. Ich sage noch mal, wir haben Vereinigungsschwierigkeiten, aber ich bin auch sicher, dass wir das überwinden werden.
Hellmich: Der innerparteiliche Konflikt, kommt der nicht auch daher, dass die Ostverbände sich übervorteilt fühlen?
Gysi: Also, immer wenn eine Struktur länger hält, gewöhnt man sich an sie. Und in der PDS war es so, dass wir sehr starke Landesverbände Ost und nur ganz kleine West hatten. Das hat sich geändert. Jetzt sind wir auch im Westen in Landtagen vertreten. Jetzt werden ja auch sehr viele Abgeordnete aus den alten Bundesländern in den Bundestag gewählt. Damit verschiebt sich natürlich die Stellung der ostdeutschen Landesverbände. Ja, dass das Mal im Einzelfall zu Schwierigkeiten führt, ist doch ganz logisch. Das Zweite, was man auch sehen muss: Es gibt schon eine unterschiedliche politische Kultur in Ost und West. Und wenn man dann keinen Beitritt macht, wenn man nicht sagt, meine Kultur gilt, sondern eine Vereinigung, ist das kompliziert. Aber ich sehe das optimistisch. Ich glaube, wir raufen uns zusammen, und das ist wichtig. Und in ganz Europa bröselt die Linke dahin, und in Deutschland entsteht sie gerade neu. Ein bisschen was Besonderes in mancher Hinsicht sind wir dann halt doch.
Hellmich: Wie reagiert denn die SPD darauf, auf Sie? Ich habe den Eindruck, dass man ja zumindest ohne Oskar Lafontaine zunächst nicht abgeneigt war, eventuell für die nächste Bundestagswahl mal nachzudenken, ob man vielleicht eine Koalition macht, Rot-Rot-Grün. Zurzeit sieht das irgendwie ein bisschen anders aus.
Gysi: Also, ich glaube, da gibt es mehrere Irrtümer. Das eine ist, es hat sich an der Haltung der SPD zu uns dadurch, dass Oskar Lafontaine nicht mehr Fraktionsvorsitzender im Bundestag ist, gar nichts geändert. Das Zweite ist, immer wenn die Union sagt, wir machen etwas mit euch, aber nur, wenn die Linken rausfliegen, rennen SPD und Grüne der Union hinterher, geradezu unterwürfig. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel. Wir hatten schon einen gemeinsamen Antrag formuliert, SPD, Grüne und Linke gegen die Steinigung der Frau im Iran. Da sagte die Union, ja, sie macht da mit, aber nur, wenn die Linken rausfliegen. Wupps, sind Grüne und SPD zur Union gerannt. Und das war lange vor der heutigen Diskussion. Nein, nein, daran glaube ich nicht. Die SPD versteht nur eine Sprache, und das ist die Sprache der Stärke. Wenn wir zulegen, dann gehen sie auf uns zu. Wenn wir verlieren, dann werden sie eher arrogant. Und da reichen dann gelegentlich schon Umfragen aus. Trotzdem, nachdem ich das alles gesagt habe, höre ich jetzt, wie vorsichtig ein paar Dinge beginnen. Eins sage ich auch der SPD, sie soll sich nie von Umfragen leiten lassen. Das Entscheidende sind Wahlen. Und wenn wir wirklich eine alternative Politik wollen, wobei wir dann natürlich auch bestimmte Bedingungen stellen im Jahre 2013, eins funktioniert nicht: Dass die SPD meint, sie kann uns ausgrenzen bis zum Wahlsonntag, und dann rufen sie mitternachts an und sagen: Ja, jetzt ist ein anderes Wahlergebnis da und jetzt könnte man doch das Ganze drehen und doch etwas zusammen machen. So funktioniert das nicht, da muss etwas entstehen vorher. Da muss man auch schon mal gemeinsam Anträge stellen, da muss man öfter miteinander reden, da muss man sagen, was sind denn für euch die wichtigsten Fragen und sie müssen sagen, was sind denn für sie die wichtigsten Fragen? Und dann muss man sehen, ob es geht oder nicht. Sie wissen ja, ich bin diesbezüglich ja nicht zu, ich bin diesbezüglich offen. Aber ich sage auch, wenn wir plötzlich unsere ganzen Kernpositionen aufgäben, dann sind wir überflüssig am selben Tag. Das kann nicht passieren. Also, Sie werden nicht erleben, dass ich für den Afghanistankrieg stimme. Punkt. Das müssen die wissen. Und ich werde auch nicht dafür stimmen, dass wir die Rentnerinnen und Rentner weiter so behandeln, wie wir sie behandeln. Also, ich kann Ihnen noch mehrere Punkte nennen. Ich will bloß sagen, das sind für mich wichtige Fragen.
Hellmich: Aber am Freitag haben Teile Ihrer Partei zumindest den neuen Stasi-Beauftragten mitgewählt.
Gysi: Ja, das ist doch in Ordnung. Der hat sich bei uns vorgestellt. Der wirkte aufgeschlossener in bestimmter Hinsicht als seine Vorgängerin. Ich bin ja gleich raus gekommen und habe gesagt, ja, ich glaube, der kriegt eine ganze Reihe von Stimmen aus unserer Fraktion. Da wollte ich auch gar nichts anderes und niemand wollte etwas anderes. Das Amt gibt es ja und wir möchten, dass es fair ausgeübt wird. Ich hatte übrigens bei der Behörde immer gehofft, die führt zu einem Transparenzschub. Also, ich dachte mir, wenn man einmal damit anfängt, dass die Leute sagen, also jetzt wollen wir auch das sehen, jetzt wollen wir auch jenes sehen und so weiter. Aber leider ist das bisher nicht gekommen. Wenn ich jetzt die westdeutsche Bevölkerung fragen würde, ob sie wollen, dass alle Verfassungsschutzakten geöffnet werden, würden sie wahrscheinlich sagen: Besser nicht. Und das finde ich schade. Also, es hätte so laufen müssen, dass der Druck der Bevölkerung nach Transparenz in der Gesellschaft insgesamt zunimmt. Vielleicht schafft er das ja.
Hellmich: Ändert sich denn das Verhältnis Ihrer Partei zur Stasi-Unterlagen-Behörde?
Gysi: Könnte sein. Sie müssen wissen, die Behörde ist ja mit unseren Stimmen gegründet worden. Ich wollte ja die Öffnung der Akten. Ich habe schon in der Volkskammer damals dafür plädiert. Aber dann ist das Ganze auf eine Art und Weise betrieben worden, wo wir dann eben auch Kritik hatten. Aber ich sage mal, die Fragen, die wir Roland Jahn gestellt haben, die er beantwortet hat, das hat uns zum Teil gefallen. Es gibt ja auch manchmal so eine Antwort. Zum Beispiel haben wir ihn eben gefragt, ob er dafür ist, dass wir vom Verfassungsschutz beobachtet werden oder nicht. Und da hat er eben gänzlich anders geantwortet als zum Beispiel Herr Gauck. Herr Gauck hat sofort gesagt "Ja". Und er hat eine andere Haltung eingenommen. Ich sage mal, er hat sehr geschickt geantwortet. Ich glaube, damit hat er sich bei uns schon mal Sympathien gemacht.
Gregor Gysi: Das klingt auf jeden Fall sehr gut. Aber wir sind natürlich noch in einem Vereinigungsprozess, und damit hängt auch zusammen, dass es natürlich gelegentlich bestimmte Schwierigkeiten gibt. Aber ich finde das trotzdem besser als Beitritt. Beitritt heißt nur, die einen sollen so werden, wie die anderen schon sind. Vereinigung ist immer komplizierter. Aber wir haben ein Programm, wir haben den Entwurf eines neuen Programms, wir haben jetzt auch – sagen wir mal – einen Alternativentwurf. Das finde ich alles gar nicht schlecht, ich finde das sogar gut, dass da sehr unterschiedlich diskutiert wird. Ich möchte nur, und das ist mein Anliegen, dass wir dann ein paar Wochen vorher uns zusammensetzen und versuchen, Kompromisse zu finden, weil ich möchte kein Parteiprogramm für 55 Prozent der Mitglieder, sondern eins für 90 Prozent der Mitglieder. Und da bin ich auch ziemlich sicher, dass wir das schaffen.
Hellmich: Vor dem Programm sind ja nun erst mal die Landtagswahlen, das geht ja so alles quer gegenüber und es wird heftig diskutiert ...
Gysi: ... richtig ...
Hellmich: ... und los geht es ja schon in Hamburg.
Gysi: Aber ich sage mal Folgendes: Ich finde, dass wir jetzt gerade in den letzten Wochen, nachdem wir – das habe ich ja selber gesagt – die Generalprobe danebengesetzt haben – und dann habe ich gesagt: Im Theater heißt es, dann kommt eine gute Premiere –, stelle ich tatsächlich fest, dass wir jetzt wieder viel konkreter an Politik arbeiten. Ich sage mal, auch die Debatten im Bundestag waren sehr inhaltsreich, die wir jetzt geführt haben. Wir werden auch einen sehr engagierten Wahlkampf in Hamburg führen. Ich möchte, dass wir besser in Hamburg abschneiden als beim letzten Mal. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel zurzeit, aber ich habe dieses Ziel. Und deshalb bin ich jetzt wieder optimistischer als – sagen wir mal – noch vor 'ner Woche oder vor zwei Wochen.
Hellmich: Und was passiert, wenn Sie durchfallen im Hamburg?
Gysi: Na, das wäre eine ziemliche Katastrophe, dann müssen wir uns am Tag danach noch mal treffen. Aber das glaube ich nicht. Nein, ich bin relativ sicher, dass wir reinkommen, aber ich möchte eben, dass wir auch mit einem guten Ergebnis reinkommen. Und wir müssen versuchen, den Hamburgerinnen und Hamburgern klar zu machen, dass ohne uns ein sozialer Motor fehlt, dass ohne uns auch ein sozialer Korrekturfaktor fehlt, übrigens auch ein wichtiger Faktor in der Frage Bildungspolitik, in der Frage öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. So was hat Berlin, so was hat nicht Hamburg, warum eigentlich nicht? Selbst das Bürgergeld von Frau von der Leyen in Höhe von etwa 900 Euro kann man nutzen und dann ergänzen, um wirklich richtige Beschäftigung zu organisieren, und zwar sinnvolle Beschäftigung für die Leute und für die anderen. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum wir immer Arbeitslosigkeit bezahlen statt Arbeit. Also, es gibt auch für Hamburg Alternativen, und wenn wir nicht drin sitzen, dann fordert das keiner. Das macht ja die Bürgerschaft ein bisschen langweilig, das soll sie auf gar keinen Fall werden. Je stärker DIE LINKE ist, desto mehr Leben herrscht in der Bürgerschaft.
Hellmich: Das ist ja eine kitzlige Sache in diesem Jahr mit den Landtagswahlen, weil – es gibt welche im Westen und es gibt welche im Osten. Die Ausgangslage ist ja ein bisschen unterschiedlich. Von daher mal meine Frage: Wenn Sie die Wahl hätten, beispielsweise dass Ihre Partei in Sachsen Anhalt stärkste Partei wird oder in Rheinland-Pfalz überhaupt mal erst in den Landtag kommt, wofür würden Sie sich entscheiden?
Gysi: Die Wahl würde ich ablehnen, weil ich natürlich beides will. Sehen Sie mal: Früher war es so, dass unsere Wahlkämpfe im Westen im Kern nur der Information dienten. Wir hatten dort nie eine Chance, in den Landtag zu kommen als PDS. Das hat sich ja erst verändert 2005 und dann natürlich jetzt 2009, und zwar sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei den Landtagswahlen. Sie müssen mal sehen – mein Ausgangspunkt Ende Dezember 1989, Anfang 1990 und dann die Einheit, daran war ja zunächst überhaupt nicht zu glauben. Die spannende Frage ist doch: Was hat sich eigentlich in den alten Bundesländern geändert, dass so viele Menschen sagen: Wir wählen eine Partei links von der SPD? Und das finde ich wirklich aufregend. Nein, ich will beides, ich will stärkste Fraktion in Sachsen-Anhalt werden, im Augenblick sieht es nicht ganz so aus bei der Umfrage, aber man muss sich ja immer ein hohes Ziel setzen. Und natürlich will ich nicht nur in Rheinland-Pfalz in den Landtag, auch in Baden-Württemberg, beides wichtig. Weil – so werden wir immer stärker zu einem bundespolitischen Faktor. Und daran haben ja vor Jahren, mich eingeschlossen, viele gar nicht geglaubt, und nun wird es Realität. Und Sie wissen aber, bei Linken ist das immer schwierig. Wenn die mit Erfolgen verwöhnt werden, können sie auch ein bisschen komisch werden. Aber jetzt, glaube ich, haben sie es begriffen und wir kämpfen alle wieder.
Hellmich: Sind Sie denn so sicher, dass die Linken im Westen wirklich gebraucht werden in den Landtagen?
Gysi: Ja, unbedingt. Und zwar aus mehreren Gründen. Der erste Grund ist, es verändert tatsächlich den Landtag, es verändert die politischen Diskussionen. Es gibt wirklich Alternativen zu den Stellungnahmen, die man von den anderen Parteien ja schon seit Jahren in den Landtagen kennt. Und ich glaube, dass es wirklich die Demokratie und das Leben auch im Land bereichert. Das Zweite, das will ich überhaupt nicht leugnen, es ist auch für die Entwicklung unserer Landesverbände wichtig. Denn wenn man im Landtag ist, dann muss man sich permanent mit politischen Fragen auseinander setzen. Die anderen Parteien interessieren sich für das, was man macht. Die Medien interessieren sich für das, was man macht. Das ist eine größere Herausforderung. Wenn man nur draußen sitzt, dann kümmert sich ja so gut wie keiner um sich, dann fängt man an, so vor sich in zu wuseln und setzt sich immer so mit anderen Gruppen auseinander, aber spielt in der Öffentlichkeit des Landes kaum eine Rolle. Und drittens – gar nicht zu unterschätzen: Das hat auch eine bundespolitische Relevanz. Was glauben Sie, wie sich das Verhältnis von Union, aber auch SPD und Grüne und FDP zu uns verändert, wenn wir zum Beispiel in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erfolgreich einziehen. Da müssen unsere Abgeordneten dort noch gar nichts gesagt haben, da kriegen die in Berlin mit: Es ist ein Faktor, der zunimmt, wir müssen darauf Rücksicht nehmen. So kommen übrigens Korrekturen in der Politik zustande – gar nicht, dass man das selber durchsetzt, sondern dass die anderen Sorgen kriegen und sagen: Wenn die Linken so viel Stimmen kriegen, müssen wir unsere Politik ändern, damit die Linken wieder weniger Stimmen bekommen. Das ist ja dann deren Ziel, so verläuft der ganze Mechanismus. Nein, nein, das ist schon ganz wichtig, glaube ich.
Hellmich: Aber wenn ich jetzt mal Baden-Württemberg nehme beispielsweise – Stuttgart 21 ist das große Aufreger-Thema dort: Da sind Sie doch eigentlich, also nicht Sie persönlich, sondern die Partei, eigentlich erst relativ spät raufgesprungen.
Gysi: Nein, also ich habe versucht, das zu verhindern, ich glaube, das ist auch einigermaßen gelungen. Natürlich ist das ein ursprünglich eher grünes Thema, das war auch ganz klar zu spüren. Ich bin ja auch nicht sofort zu der Kundgebung gefahren, sondern ich habe darüber gesprochen im Bundestag, und zwar habe ich nicht so getan, als ob ich jemand bin, der sich seit Jahrzehnten mit S 21 beschäftigt. Das wäre auch völlig unglaubwürdig gewesen. Sondern ich habe die Demokratiefrage aufgeworfen, und die ist ja auch spannend. Wissen Sie auch warum? Weil wir doch eine deutsche Mentalität haben, die sich bekanntlicherweise von der französischen unterscheidet. Die neigen ja viel eher zu Demos und Protesten und so. Und wenn Du uns Deutschen sagst, also es liegen alle parlamentarischen Genehmigungen für S 21 vor, es liegen alle Regierungsgenehmigungen vor, es sind alle wesentlichen Gerichtsverfahren gelaufen, da ist gar nichts mehr zu machen – dann bleiben wir normalerweise zu Hause. Dann gibt es 100, die kommen trotzdem immer hin, die kennen wir beide persönlich und schätzen sie sehr, aber das hat ja mit einem wirklichen Protest nichts zu tun. Und plötzlich interessiert das die Leute in Stuttgart, verstehen Sie? Tausende, Abertausende gehen dahin, obwohl diese Argumente verwandt werden, weil sie etwas festgestellt haben: Der Abstand zwischen der Regierung und den Regierten hat so zugenommen, dass sie sich nach dem Grundgesetz ihre eigentliche Macht wieder zurückholen müssen. Und das finde ich aufregend. Über diese Demokratiefrage habe ich gesprochen, und das fanden die Leute glaubwürdig. Wenn ich jetzt so einen anderen Ansatz gefunden hätte, das hätte sie gar nicht überzeugt. Und die Missverhältnisse – nicht vergessen: Die Leute erleben täglich, wenn sie sich wünschen, dass die Toilette in der Schule repariert wird, dass die Antwort kommt: Kein Geld! Aber Milliarden für einen unterirdischen Bahnhof sind da, Milliarden für einen im Ergebnis extrem negativen Krieg in Afghanistan sind da. Das ist für sie nicht mehr nachvollziehbar. Und das finde ich spannend. Und deshalb habe ich etwas Erstaunliches festgestellt: Ich war ja mit Gesine Lötzsch zusammen dort, und dann wurden wir vorgestellt. Und es gab in Stuttgart bei Zehntausenden nicht einen Protestruf, sondern nur Beifall und Zustimmung. Das kenne ich nun eigentlich aus den alten Bundesländern anders, wenn ich da begrüßt wurde, war es immer so eine gemischte Reaktion, sage ich mal. Aber da habe ich festgestellt: Nein, wir haben da einen gewissen Stellenwert, natürlich nicht den der Grünen, das ist mir klar. Bloß die Grünen haben ja auf meine Frage, ob sie nun einen Volksentscheid durchführen und ob sie S 21 schließen, geantwortet: Sie tun, was möglich ist. Nun, das ist so eine weise Antwort, wo man dann hinterher nicht mal die Hälfte von dem realisiert, was man gesagt hat. Also auch insofern wichtig, dass wir einziehen und den Druck erhöhen. Aber Sie haben recht, in bestimmten Fragen müssen wir erst noch zu einem Faktor werden. Sie müssen sehen: Wir sind akzeptiert bisher in zwei Fragen, in der Frage "Frieden", in der Frage "Soziale Gerechtigkeit". Und jetzt habe ich gesagt, kommt für uns ein drittes Thema dazu, die Demokratie. Das ist auch erstaunlich, dass das Akzeptanz findet, ich habe das für schwieriger gehalten. So, und ökologische Nachhaltigkeit und so – da müssen wir noch ein bisschen kämpfen, das räume ich ein.
Hellmich: Thema "Demokratie": Da hat ja auf der anderen Seite das, was Gesine Lötzsch in der JUNGEN WELT geschrieben hat, doch ein bisschen Aufruhr verursacht in der Öffentlichkeit und vielleicht auch dem einen oder anderen, der geneigt ist, Sie vielleicht zu wählen, besonders im Westen, Bauchschmerzen verursacht – sagen wir es mal so ...
Gysi: ... ja, das kann schon sein ...
Hellmich: ... Kommunismus, was ist das, ist das Demokratie?
Gysi: Ja, verstehen Sie: Da ist natürlich auch ein Satz aus dem Zusammenhang gerissen worden. Sie hat sich ja in diesem Artikel für den demokratischen Sozialismus ausgesprochen, und dafür steht sie auch. Ich möchte auch nicht, dass man ihr Dinge unterstellt, die sie mit Sicherheit gar nicht gemeint hat, insofern hat sie dann auch meine Solidarität. Auf der anderen Seite war die Debatte insgesamt nicht glücklich, aber ich glaube, sie ist jetzt auch beendet. Verstehen Sie – das Problem ist doch folgendes: Karl Marx und Friedrich Engels stellten sich unter Kommunismus die gerechteste Gesellschaft vor, klassenlos, mit sozialer Gerechtigkeit, mit Bildungschancen für alle und so weiter. Ich kann mich natürlich darauf stützen. Das Problem ist nur: Viele Menschen, gerade in den alten Bundesländern, verstehen unter Kommunismus nicht das, was Marx und Engels meinten, sondern verstehen darunter das, was im Namen des Kommunismus für Verbrechen begangen wurden. Und da das so ist, haben wir uns ja schon 1989/1990 sehr bewusst entschieden und gesagt: Wir kämpfen für demokratischen Sozialismus. Übrigens, damals wurde mir gesagt, wirklicher Sozialismus ist immer demokratisch, Gregor, da musst Du nicht hinschreiben "demokratisch". Da habe ich gesagt, es kann schon sein, dass der wirkliche Sozialismus immer demokratisch ist, aber die Leute haben jetzt gerade das Gegenteil erlebt. Und ich will ganz klar sagen: Mit uns, mit meiner Partei, mit mir ist ein autoritärer Sozialismus, in welcher Form auch, überhaupt nicht mehr machbar. Da würden wir beide zusammen dagegen kämpfen. Nur noch ein demokratischer Sozialismus! Den Kapitalismus halte ich allerdings nicht für die Lösung. Die ganzen Krisen, die wir jetzt erlebt haben, haben alle damit zu tun, dass das Geld mehr wert ist als Menschen. Das ist nicht in Ordnung. Und deshalb finde ich es ja wichtig, dass es uns gibt.
Hellmich: Ja, ja, so einfach ist das, glaube ich, nicht mit Frau Lötzsch und dem Kommunismus, denn sie hat ja die Politik der Linkspartei verteidigt im Grunde genommen als revolutionäre Politik im Luxemburgischen Sinne. Da ging es darum, dass bestimmte Maßnahmen, wie sie beispielsweise vom rot-roten Senat in Berlin praktiziert werden, also Einrichtung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, das hat sie dargestellt als Mittel der revolutionären Politik im Luxemburgischen Sinne – "hineingepresst werden in die bürgerliche Gesellschaft", um dem Kapitalismus auf diese Art und Weise umzustürzen.
Gysi: Also, erstens kann ich das gar nicht bestätigen, was Sie sagen. Das erzählen Sie mir jetzt so. Aber zweitens weiß ich, dass sie genau wie ich und andere für nichts anderes streitet, als für einen demokratischen Sozialismus. Und wir gehen natürlich in die Regierung, um Gesellschaft zu verändern. Ist doch klar. Und ich sage ja auch, wir stehen für einen Politikwechsel. Mit dem Begriff Revolution ist das immer so schwierig, weil es gibt ja Transformationen, die – wenn Sie so wollen – einen revolutionären Charakter haben. Zum Beispiel meinte ja die Bundeskanzlerin, ihre ganze Energiewende sei eine Revolution. Na, also das kann ich gar nicht so einschätzen. Und andere verstehen unter Revolution immer, dass man Fenster einschmeißt und ordentlich Radau macht. Also, das verstehen wir natürlich nicht darunter. Aber Veränderungen brauchen wir. Ich sage Ihnen wirklich, schauen Sie sich doch einmal die internationale Finanzkrise an. Was passiert denn jetzt dagegen? Nichts. Wir brauchen endlich wirklich eine Ordnung, die wieder eins herstellt: Die Macht der Politik über die Wirtschaft. Verstehen Sie, heute entscheidet Herr Ackermann, was Frau Merkel macht. Und ich möchte schon, dass der Bundestag entscheidet, was Herr Ackermann zu tun hat. Das ist aber eine zentrale Frage, organisieren wir ein Primat der Politik über die Wirtschaft, oder bleibt es beim Primat der Wirtschaft über die Politik.
Hellmich: Und noch mal zurück. Doch zu Marx und dem Kommunismus. Da ist ja vorher noch die ...
Gysi: ... Sie wollen hier die ganze Zeit mit mir über den Kommunismus diskutieren.
Hellmich: ... nein ...
Gysi: ... ja, ist ja okay ...
Hellmich: ... nein, überhaupt nicht.
Gysi: Ich habe ja nichts dagegen. Also noch mal zurück.
Hellmich: Da ist ja irgendwo noch die Diktatur des Proletariats vorgeschaltet, bevor das Paradies dann kommt. Wollen wir die, oder wollen wir die nicht?
Gysi: Nein, die wollen wir natürlich nicht. Aber darf ich mal daran erinnern, dass Karl Marx das doch in einem ganz anderen Zusammenhang benutzt hat, den Begriff. Er hat doch gesagt, es gab immer eine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit, erst die Sklavenhalter, dann der Feudaladel, dann die Kapitalisten. Dann hat er gesagt, wenn nun endlich mal Sozialismus kommt, gibt es das erste Mal die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Das war doch nur sein Ausgangspunkt. Es ging ihm darum, zu zeigen, dass die Verhältnisse sich verkehren. Leider ist dann dieser Begriff missbraucht worden von vielen, weil sie ernsthaft dachten, man muss eine Diktatur aufbauen. Ich sage das noch einmal ganz klipp und klar: Die Menschheit hat den Staatssozialismus abgelehnt, Punkt. Sie wollte ihn nicht, und das habe ich vollständig akzeptiert und das akzeptieren die Mitglieder meiner Partei. Und deshalb kämpfen wir für einen demokratischen Sozialismus, der dann gerechter ist als der heutige Kapitalismus.
Hellmich: All das, was die Linke propagiert, Reformschritte ...
Gysi: ... richtig ...
Hellmich: ... oder Mittel zum Zweck, den Kapitalismus abzuschaffen, umzuwälzen?
Gysi: Beides, verstehen Sie. Nur, wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen und zu einem demokratischen Sozialismus kommen wollen, brauche ich dafür eine Mehrheit in der Bevölkerung, sage ich immer meinen Leuten. Wenn wir die nicht haben, haben wir sie nicht. Punkt. Dann können wir darüber nachdenken, was wir alles falsch machen. Aber nie wieder will ich die Mehrheit einer Gesellschaft zu einer gesellschaftlichen Struktur zwingen, die sie nicht will. Punkt. Es gibt einen traurigen Umstand, das will ich auch sagen. Ich kann Ihnen leider kein praktisches Beispiel eines demokratischen Sozialismus nennen, das weiß ich.
Hellmich: Aber das ist da durchaus ein Thema auch in der Programmdiskussion bei Ihnen.
Gysi: Ja, klar.
Hellmich: Reform oder Revolution war ja immer so die Frage.
Gysi: Ja, das ist aber klar. Ich habe ja den Entwurf gelesen. Im Kern geht es darum, die eigentlich spannende Frage am Programm ist etwas anderes. Das ist viel zu wenig bisher herausgearbeitet worden. Wir haben in unserer Gesellschaft sage ich mal, zwei entscheidende Machtblöcke. Es gibt mehr, es gibt auch noch die Medien, das weiß ich. Aber ich nenne jetzt nur zwei, die Politik und die Wirtschaft. Ich habe vorhin gesagt, wichtig ist ein Primat der Politik über die Wirtschaft. Warum ist das so wichtig? Der Bundestag wird gewählt, den Vorstand der Deutschen Bank dürfen wir beide nicht wählen. Wenn der Vorstand der Deutschen Bank entscheidet, was der Bundestag zu machen hat, ist das kein demokratischer Zustand. Also haben wir gesagt, wir brauchen nicht nur ein Primat der Politik über die Wirtschaft, sondern, das ist wichtig, ich brauche auch mehr Demokratie in der Wirtschaft. Das wird die entscheidende Frage unseres Programms. Warum? Öffentliche Daseinsvorsorge wollen wir in öffentlicher Hand haben, völlig zu Recht. Aber es gibt ja auch die Schlüsselbereiche, die Schlüsselindustrie, die wirklich von gravierender Bedeutung sind. Und da stelle ich mir vor, bestimmte Bereiche brauchen wir im öffentlichen Eigentum, andere nicht, die können alle privat bleiben, die Kleinen sowieso. Aber ich möchte Miteigentum der Belegschaften haben, und zwar in einem bestimmten Prozentsatz. Nicht so, dass sie das Wirtschaftsgeschehen entscheiden, aber so, dass sie bei bestimmten Dingen gefragt werden. Und da nenne ich Ihnen ein Beispiel: Nokia kriegt staatliches Geld, baut hier eine Firma auf, hat viele Beschäftigte und nach Ablauf einer bestimmten Frist, wenn sie wissen, sie müssen das Geld nicht mehr zurückzahlen, entscheiden sie sich, umzuziehen in ein anderes Land, aber nicht, weil sie kurz vor der Insolvenz standen – dann könnte man das ja akzeptieren –, sondern sie machen schon Profite, aber sie sagen, woanders könnte ich ja mehr Profite machen. Wenn jetzt die Belegschaft Miteigentümer gewesen wäre, dann hätten die Bosse die Belegschaft fragen müssen, ob sie gerade Lust hat, umzuziehen. Und wenn die Belegschaft gesagt hätte, ja, wir wollen gerade alle umziehen, dann hätten sie es machen können. Wenn sie aber – was sehr viel wahrscheinlicher ist – gesagt hätten, nein, wir wollen nicht umziehen, wäre das Werk geblieben. Übrigens, bei der Stahlindustrie im Saarland sind sie den Weg gegangen über eine Stiftung, die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteressen vertritt. Die sind daran beteiligt und das funktioniert hervorragend. Man muss es sich mal ansehen. Wie nennen Sie das jetzt? Reform? Oder Revolution? Ist mir ehrlich gesagt wurscht. Auf jeden Fall verändert es die Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gibt ihnen mehr Möglichkeiten, und die Zustände werden gerechter. Was spricht dagegen?
Hellmich: Sie haben gerade das Saarland angesprochen. Da fällt mir Oskar Lafontaine ein. Vor einem Jahr haben Sie als Ersatz für Oskar Lafontaine die jetzige Führungscrew installiert. Das ging ja im Wesentlichen dann doch von Ihnen aus, der Kompromiss, der da gefunden wurde. War das im Nachhinein betrachtet eine gute Auswahl, denn es rumort ja doch kräftig?
Gysi: Herr Hellmich, das war natürlich eine Top-Auswahl. Was erwarten Sie denn von mir, was ich jetzt sage? Abgesehen davon sind sie alle demokratisch von der Mehrheit auf dem Parteitag, und zwar mit guten Ergebnissen, gewählt worden. Nein, ich glaube, dass die Partei dabei ist, sich zu entwickeln. Ich sage noch mal, wir haben Vereinigungsschwierigkeiten, aber ich bin auch sicher, dass wir das überwinden werden.
Hellmich: Der innerparteiliche Konflikt, kommt der nicht auch daher, dass die Ostverbände sich übervorteilt fühlen?
Gysi: Also, immer wenn eine Struktur länger hält, gewöhnt man sich an sie. Und in der PDS war es so, dass wir sehr starke Landesverbände Ost und nur ganz kleine West hatten. Das hat sich geändert. Jetzt sind wir auch im Westen in Landtagen vertreten. Jetzt werden ja auch sehr viele Abgeordnete aus den alten Bundesländern in den Bundestag gewählt. Damit verschiebt sich natürlich die Stellung der ostdeutschen Landesverbände. Ja, dass das Mal im Einzelfall zu Schwierigkeiten führt, ist doch ganz logisch. Das Zweite, was man auch sehen muss: Es gibt schon eine unterschiedliche politische Kultur in Ost und West. Und wenn man dann keinen Beitritt macht, wenn man nicht sagt, meine Kultur gilt, sondern eine Vereinigung, ist das kompliziert. Aber ich sehe das optimistisch. Ich glaube, wir raufen uns zusammen, und das ist wichtig. Und in ganz Europa bröselt die Linke dahin, und in Deutschland entsteht sie gerade neu. Ein bisschen was Besonderes in mancher Hinsicht sind wir dann halt doch.
Hellmich: Wie reagiert denn die SPD darauf, auf Sie? Ich habe den Eindruck, dass man ja zumindest ohne Oskar Lafontaine zunächst nicht abgeneigt war, eventuell für die nächste Bundestagswahl mal nachzudenken, ob man vielleicht eine Koalition macht, Rot-Rot-Grün. Zurzeit sieht das irgendwie ein bisschen anders aus.
Gysi: Also, ich glaube, da gibt es mehrere Irrtümer. Das eine ist, es hat sich an der Haltung der SPD zu uns dadurch, dass Oskar Lafontaine nicht mehr Fraktionsvorsitzender im Bundestag ist, gar nichts geändert. Das Zweite ist, immer wenn die Union sagt, wir machen etwas mit euch, aber nur, wenn die Linken rausfliegen, rennen SPD und Grüne der Union hinterher, geradezu unterwürfig. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel. Wir hatten schon einen gemeinsamen Antrag formuliert, SPD, Grüne und Linke gegen die Steinigung der Frau im Iran. Da sagte die Union, ja, sie macht da mit, aber nur, wenn die Linken rausfliegen. Wupps, sind Grüne und SPD zur Union gerannt. Und das war lange vor der heutigen Diskussion. Nein, nein, daran glaube ich nicht. Die SPD versteht nur eine Sprache, und das ist die Sprache der Stärke. Wenn wir zulegen, dann gehen sie auf uns zu. Wenn wir verlieren, dann werden sie eher arrogant. Und da reichen dann gelegentlich schon Umfragen aus. Trotzdem, nachdem ich das alles gesagt habe, höre ich jetzt, wie vorsichtig ein paar Dinge beginnen. Eins sage ich auch der SPD, sie soll sich nie von Umfragen leiten lassen. Das Entscheidende sind Wahlen. Und wenn wir wirklich eine alternative Politik wollen, wobei wir dann natürlich auch bestimmte Bedingungen stellen im Jahre 2013, eins funktioniert nicht: Dass die SPD meint, sie kann uns ausgrenzen bis zum Wahlsonntag, und dann rufen sie mitternachts an und sagen: Ja, jetzt ist ein anderes Wahlergebnis da und jetzt könnte man doch das Ganze drehen und doch etwas zusammen machen. So funktioniert das nicht, da muss etwas entstehen vorher. Da muss man auch schon mal gemeinsam Anträge stellen, da muss man öfter miteinander reden, da muss man sagen, was sind denn für euch die wichtigsten Fragen und sie müssen sagen, was sind denn für sie die wichtigsten Fragen? Und dann muss man sehen, ob es geht oder nicht. Sie wissen ja, ich bin diesbezüglich ja nicht zu, ich bin diesbezüglich offen. Aber ich sage auch, wenn wir plötzlich unsere ganzen Kernpositionen aufgäben, dann sind wir überflüssig am selben Tag. Das kann nicht passieren. Also, Sie werden nicht erleben, dass ich für den Afghanistankrieg stimme. Punkt. Das müssen die wissen. Und ich werde auch nicht dafür stimmen, dass wir die Rentnerinnen und Rentner weiter so behandeln, wie wir sie behandeln. Also, ich kann Ihnen noch mehrere Punkte nennen. Ich will bloß sagen, das sind für mich wichtige Fragen.
Hellmich: Aber am Freitag haben Teile Ihrer Partei zumindest den neuen Stasi-Beauftragten mitgewählt.
Gysi: Ja, das ist doch in Ordnung. Der hat sich bei uns vorgestellt. Der wirkte aufgeschlossener in bestimmter Hinsicht als seine Vorgängerin. Ich bin ja gleich raus gekommen und habe gesagt, ja, ich glaube, der kriegt eine ganze Reihe von Stimmen aus unserer Fraktion. Da wollte ich auch gar nichts anderes und niemand wollte etwas anderes. Das Amt gibt es ja und wir möchten, dass es fair ausgeübt wird. Ich hatte übrigens bei der Behörde immer gehofft, die führt zu einem Transparenzschub. Also, ich dachte mir, wenn man einmal damit anfängt, dass die Leute sagen, also jetzt wollen wir auch das sehen, jetzt wollen wir auch jenes sehen und so weiter. Aber leider ist das bisher nicht gekommen. Wenn ich jetzt die westdeutsche Bevölkerung fragen würde, ob sie wollen, dass alle Verfassungsschutzakten geöffnet werden, würden sie wahrscheinlich sagen: Besser nicht. Und das finde ich schade. Also, es hätte so laufen müssen, dass der Druck der Bevölkerung nach Transparenz in der Gesellschaft insgesamt zunimmt. Vielleicht schafft er das ja.
Hellmich: Ändert sich denn das Verhältnis Ihrer Partei zur Stasi-Unterlagen-Behörde?
Gysi: Könnte sein. Sie müssen wissen, die Behörde ist ja mit unseren Stimmen gegründet worden. Ich wollte ja die Öffnung der Akten. Ich habe schon in der Volkskammer damals dafür plädiert. Aber dann ist das Ganze auf eine Art und Weise betrieben worden, wo wir dann eben auch Kritik hatten. Aber ich sage mal, die Fragen, die wir Roland Jahn gestellt haben, die er beantwortet hat, das hat uns zum Teil gefallen. Es gibt ja auch manchmal so eine Antwort. Zum Beispiel haben wir ihn eben gefragt, ob er dafür ist, dass wir vom Verfassungsschutz beobachtet werden oder nicht. Und da hat er eben gänzlich anders geantwortet als zum Beispiel Herr Gauck. Herr Gauck hat sofort gesagt "Ja". Und er hat eine andere Haltung eingenommen. Ich sage mal, er hat sehr geschickt geantwortet. Ich glaube, damit hat er sich bei uns schon mal Sympathien gemacht.