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Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe.

Anna Achmatowa gehört in Deutschland - obwohl es seit den 60er Jahren schon einige Ausgaben mit Übersetzungen ihrer Lyrik gibt - etwa im Vergleich zu Majakowski - noch immer zu den weniger bekannten Namen. Deshalb verdient jeder neue Versuch, diese größte russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Heimat fast sakrale Verehrung genießt, dem deutschen Leser nahezubringen, aufmerksamste Beachtung. Verkörpert Anna Achmatowa doch allein schon mit ihrer erschütternden Biographie das tragische Schicksal Rußlands. Vor der Revolution das angebetete Idol einer kunstbegeisterten Jugend, durchlitt sie in den konunenden Jahrzehnten alle Bitternisse der Geschichte ihres Volkes: 1921 die Erschießung ihres Mannes, des Dichters Nikolaj Gunüljow als Konterrevolutionär, Verhaftung und Verbannung ihres einzigen Sohnes, jahrzehntelanges Druckverbot und ein Leben in Angst und Unbehaustheit, die Höllenerfahrung der Blockade Leningrads, Flüchtlingselend in Taschkent und 1946 der berechtigte ZK-Beschluß zur Literatur, in dem sie "als Dirne und Nonne, bei der sich Unzucht und Gebet verflechten" öffentlich geschmäht wurde.

Karla Hielscher | 18.05.2000
    All dies ertrug Anna Achmatowa mit unwandelbarer Würde und wachsendem Sendungsbewußtsein als Dichterin. In den Jahren von 1910 bis 1922 war die elegische Liebeslyrik der vergötterten Dichterin in breiten Kreisen populär. Sie war Mitbegründerin des Akmeismus, mit dem die mystische Abstraktheit der symbolistischen Dichtung durch eine neue Sinnlichkeit, Konkretheit und klassische Klarheit überwunden wurde. In ihrer zweiten Schaffensphase, den Jahrzehnten des stalinistischen Terrors und des Kriegs, reift ihr Werk mit den Jahrhundertzyklen "Requiem" und "Poem ohne Held" zur grandios komplexen Dichtung des Gedächtnisses, in der das Leid des russischen Volkes bewahrt ist. Bis an ihr Lebensende aber hat Achmatowa auch Liebesgedichte geschrieben.

    Der von Olaf Irlenkäuser herausgegebene, schön gemachte Band - nüt Modiglianis berühmtem Porträt der jungen Achmatowa auf dem Umschlag bringt nun hundert dieser Gedichte in neuer zum Teil erstmaliger Übersetzung, wobei der Schwerpunkt auf dem Frühwerk liegt. Die Auswahl ist als Ergänzung zu den in deutsch vorliegenden Sammlungen sehr zu begrüßen, denn natürlich wollen wir das Gesamtwerk dieser großen Dichterin kennenlernen, auch wenn ein paar der frühen Texte in ihrer leicht manirierten Erotik - mit Bildern wie "Hermelinmantel" oder "weißen Pfauen" - uns heute seltsam fremd und fern erscheinen.

    Die meist lakonisch knappen Gedichte und Balladen erzählen in äußerst verdichteter Form - oft enthalten sie den Stoff ganzer Romane - vom überwältigenden Schmerz der Liebe, von Eifersucht, Trennung und Tod. Häufig sind es Rollengedichte, Minidramen, in denen sich das lyrische Ich hinter verschiedenen Masken - Königin, Dienerin, Dichterin - verbirgt.

    Achmatowas Verse zeichnen sich aus durch übergenau beobachtete, konkret sinnliche Details: das auf beiden Seiten schon heiße Kissen der Schlaflosen, der Handschuh der linken, der versehentlich auf die rechte Hand gezogen wird, der auf dem Ehering ruhende, trübe Blick des Geliebten. In prägnant erfaßten Dingen oder Gesten sind die überbordenden Gefühle der Liebenden im poetischen Wort aufgehoben.

    Das Spezifische und Eigenartige, das Achmatowas Lyrik so unverwechselbar macht, ist ihre syntaktisch völlig natürliche, gesprochene Umgangssprache, die gleichwohl in eine strenge metrische Form mit markanten Reimen gebannt ist. Und genau hier nun liegt auch das große Problem: ihre Gedichte sind in weiten Teilen unübertragbar. Entweder man erhält die selbstverständliche und doch auf geheimnisvolle Weise klingende Leichtigkeit der Alltagssprache, muß dann aber auf den Reim verzichten, wie es etwa Sarah und Rainer Kirsch in vielen ihrer Nachdichtungen getan haben, wodurch aber etwas sehr Wesentliches vom klassischen Klang der Achmatowschen Lyrik verlorengeht. Oder - und diesen Weg geht der junge Lyriker und Übersetzer Alexander Nitzberg - man versucht das fast Unmögliche: eben nicht nur die Klarheit und Einfachheit der Syntax, sondern auch Metrum und Reim zu bewahren.

    Manchmal bezahlt er das mit allzu großer Ferne vom Original, mit weit hergehalten, künstlichen Reimwörtern. Das von ihm als wesentlich Erkannte jedoch - der ruhige Fluß der Sätze - wird meist im Deutschen nachvollziehbar. Etwa in der aus nur sieben Doppelzeilen bestehenden, eine dramatische Dreiecksgeschichte von Eifersucht und Tod enthaltenden Ballade vom "serogl@ korol", vom "grauäugigen König", der hier allerdings aus metrischen Gründen zum "König mit samtigem Blick" wird. Manchmal gelingen Alexander Nitzberg wunderbare, überzeugende Lösungen, wie in dem Gedicht von 1917:

    Wir müssen den Abschied üben./Schlendern zu zweit herum./ Es dämmert./Wir gehn im Trüben./Du grübelst./ Ich bleibe stumm.