Martin Zagatta: Für die katholische Kirche kommt es in diesen Tagen knüppeldick: Erst bringt sie eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zur Aufarbeitung sexueller Gewalt zum Scheitern, dann muss sie bei der Auswertung eines inzwischen gestoppten Telefonnotdienstes einräumen, dass es Hinweise gibt auf regelrechte pädophile Netzwerke unter den Geistlichen, und jetzt auch noch der Vorwurf, katholische Krankenhäuser im Erzbistum Köln hätten einer vergewaltigten Frau die Hilfe verweigert. Viele haben der Kirche schon den Rücken gekehrt, und einer gerade veröffentlichten Umfrage zufolge erwägt jetzt fast jeder sechste Katholik den Austritt. Für uns ist das Anlass, heute Morgen mit dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse zu sprechen, der nicht nur Vizepräsident des Bundestages ist, sondern auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Guten Morgen, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Thierse, beginnen wir mit den jüngsten Vorwürfen: Kann das denn sein, dass katholische Krankenhäuser einer Vergewaltigten die Hilfe verweigern?
Thierse: Ich schäme mich für diese Lieblosigkeit und für diese Unbarmherzigkeit, wie immer sie zustande gekommen ist. Das darf nicht sein, denn jedes Krankenhaus, jeder Arzt, jede Krankenschwester ist verpflichtet zur Hilfeleistung.
Zagatta: Welche Konsequenzen muss man daraus ziehen?
Thierse: Ich denke, dass, wie auch immer das zustande gekommen ist, das dortige Krankenhaus oder der Trägerverein hat sich entschuldigt und spricht von einem Versehen, von einem Irrtum – es muss klare Anweisungen geben, dass in jedem Fall Hilfeleistung gegeben werden muss, unabhängig davon, wie man in der Frage der Pille danach oder der Abtreibung steht.
Zagatta: Jetzt sagen aber viele, die mit den Fall beschäftigt sind, die Frau ist ja von zwei katholischen Krankenhäusern hintereinander abgewiesen worden – das kann doch eigentlich kein Zufall sein, das hat doch System dann.
Thierse: Ja, deswegen sage ich ja, es muss auch für katholische Krankenhäuser gelten, dass unabhängig von der Einstellung zu bestimmten moralischen, ethischen Fragen, der Grundsatz gilt, Hilfestellung geht vor allem, Barmherzigkeit ist der wichtigste Grundsatz von christlich geprägten Einrichtungen.
Zagatta: Nun sagen die Kirchen oder die kirchlichen Krankenhäuser, das sei ein Fehler gewesen, aber es gehe ja darum – und deshalb seien auch Missverständnisse entstanden –, dass, wenn man einer vergewaltigten Frau hilft, dass man sie dann auch beraten müsse über die Pille danach, das will man nicht. Kann das angehen?
Thierse: Was soll nicht angehen, dass es unterschiedliche Krankenhäuser gibt, die aus unterschiedlichem Geist getragen werden? Darüber muss die Gesellschaft sich verständigen, ob wir solche Unterschiede zulassen, aber das darf ja nicht den Grundsatz aufheben, dass, wenn jemand kommt und eine Untersuchung erbittet, dass man den ablehnt, das darf nicht sein.
Grundfrage "ob wir unterschiedslose Einrichtungen wollen"
Zagatta: Diese katholischen Krankenhäuser werden offenbar ja zu hundert Prozent oder zu fast hundert Prozent von den Krankenkassen und aus öffentlichen Mitteln finanziert. Können dann kirchliche, katholische Moralvorstellungen dort bei der Behandlung überhaupt gelten?
Thierse: Das ist ja die Grundfrage, ob diese Gesellschaft weiterhin der Überzeugung ist, dass sie pluralistisch ist, dass es unterschiedliche Prägungen gibt, unterschiedliche weltanschauliche Motivationen für soziale Dienstleistungen, oder ob wir sagen, nein, solche Unterschiede lassen wir nicht zu, es gibt nur noch den Einheitsgeist, die Einheitsweltanschauung, die Einheitsdienstleistung.
Zagatta: Aber da geht es ja jetzt in erster Linie nicht um eine Weltanschauung, sondern um ärztliche Hilfeleistung.
Thierse: Ja, aber sie wird ja aus ganz unterschiedlichem Geist in ganz unterschiedlicher Prägung geleistet. Und deswegen sage ich ja, ich will nicht immer wieder dasselbe sagen, ich schäme mich für diese Tatsachen, für diese Krankenhäuser, dass sie lieblos und unbarmherzig gehandelt haben, das darf nicht sein – das darf auch gerade aus christlichem Geist nicht sein.
Zagatta: Wenn das aber, wie Sie ja auch angedeutet haben, vielleicht im System angelegt ist, Herr Thierse, da fordert Ihr Parteifreund jetzt, der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, den katholischen Krankenhäusern unter Umständen die Gynäkologie zu entziehen. Können Sie das nachvollziehen?
Thierse: Ich kann die Wut und Verärgerung nachvollziehen, die teile ich ja auch ausdrücklich, aber man sollte vor einem solchen Schritt ganz kurz innehalten und sagen, ob wir tatsächlich so etwas wie unterschiedslose Einrichtungen wollen, unterschiedslos hinsichtlich des Geistes, der Motivation, der Trägerideen wollen, oder ob wir solche Unterschiede auch weiterhin zulassen, die natürlich an einem Punkt alle übereinstimmen müssen: in der vorbehaltslosen Verpflichtung, Menschen zu helfen.
Zagatta: Wenn das für Vergewaltigte angewandt wird, für vergewaltigte Frauen, gehört dann zu dieser Grundbehandlung, sagen wir mal so, gehört dann zumindest eine Information darüber, wie sich eine Frau dann vor einer ungewollten Schwangerschaft schützen kann, also zumindest eine Information über die Pille danach?
Thierse: Ja, ich denke schon, denn man kann ja auch die Entscheidung niemandem abnehmen. Die Entscheidung ist die Entscheidung der Frau, die Entscheidung der Betroffenen, das gehört auch zur Freiheit, die selbstverständlich auch katholische Christen anerkennen.
Zagatta: Das müsste dann in Krankenhäusern, in katholischen Krankenhäusern auch so geschehen, ja?
Thierse: Ja, also eine Information, selbst wenn aus bestimmten ethischen Überzeugungen heraus, man selber diese Praxis nicht unterstützen will, aber die Information darüber, die sollte immerhin gegeben werden, meine ich.
Zagatta: Jetzt sagen jüngste Umfragen, Herr Thierse, die nach dieser verunglückten Missbrauchsstudie oder gestoppten Missbrauchsstudie veröffentlicht wurden, dass jeder sechste Katholik mittlerweile darüber nachdenkt, auszutreten. Entsteht da jetzt im Moment nicht der fatale Eindruck, dass die katholische Kirche vergewaltigten Frauen die Hilfe verweigert und gleichzeitig mit Kinderschändern, mit Vergewaltigern in ihren eigenen Reihen ziemlich lasch umgeht?
Thierse: Dieser Eindruck stimmt ja schlicht nicht. Ich will mich mal nicht dazu äußern, woran diese Studie gescheitert ist, da müsste man auch über Herrn Professor Pfeiffer sprechen, da müsste man auch darüber reden, ob da etwa Opferschutz, Datenschutz angemessen berücksichtigt worden ist oder nicht. Ich will darauf hinweisen, dass es im Bistum München ja eine ausführliche Studie gegeben hat. Mithilfe extern Sachverstandes sind dort eine Menge Fälle untersucht worden, das liegt jetzt vor. Es hat diese Hotline der katholischen Kirche gegeben, bei der sich eine Menge Menschen gemeldet haben – übrigens nicht nur Menschen, die Missbrauchserfahrungen in der Kirche gemacht haben, sondern auch außerhalb der Kirche. Wir reden ja hier bei den Missbrauchsfragen nicht nur über ein rein kirchliches Phänomen – also ich glaube schon, dass es in der katholischen Kirche genügend Kraft und genügend Kräfte gibt, Aufklärung weiter zu betreiben, das ist allerdings auch notwendig, um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen.
"Angestaute Problemen lösen"
Zagatta: Also ob diese Vorwürfe jetzt gerechtfertigt sind oder nicht, das wird ja jetzt, dieser Vorfall, als Vertuschungsversuch in der Öffentlichkeit zumindest wahrgenommen. Wie sehr schadet das denn der katholischen Kirche? Erschreckt Sie die große Zahl der Kirchenaustritte und derjenigen, die jetzt da überlegen, auszutreten?
Thierse: Ich will es noch einmal sagen, ob das ein Vertuschungsversuch ist oder nicht, das scheint mir nicht ganz so klar zu sein. Ich bitte darum, nicht nur eine Seite zu hören. Dass Herr Professor Pfeiffer sehr eloquent ist, sehr mediengewandt ist, sehr auch auf seine eigene Reputation bedacht ist, will ich ja zur Kenntnis nehmen, aber daraus darf man ja nicht schon das Urteil über den Gesamtvorgang ableiten. Aber Sie haben schon recht, insgesamt erleben wir ja nicht nur aus diesen aktuellen Anlässen eine Welle der Austritte in der katholischen Kirche. Und deswegen glaube ich, dass die katholische Kirche sich tatsächlich ändern muss, vieles verändern muss, übrigens nicht nur ihr Kommunikationsverhalten, das gelegentlich schlicht katastrophal ist, sondern wir brauchen wirklich innerkirchliche Reformen, die die Glaubwürdigkeit dieser Institution und die Glaubwürdigkeit ihres Auftrags wieder herstellen.
Zagatta: Das fordern Sie und das fordern andere ja schon seit Langem. Warum passiert da nichts?
Thierse: Es passiert ja etwas, auch wenn es, wie in dieser uralten Institution, wie immer sehr, sehr langsam geht. Es findet in der deutschen Kirche ein Dialogprozess statt, der ja immerhin ein Schritt ist auf mehr synodale Strukturen, die ich mir auch in der katholischen Kirche wünsche. Wir müssen eine Reihe von Konfliktthemen, von angestauten Problemen lösen, also der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, die Stellung der Laien in der Kirche, die Stellung der Frauen in der Kirche. Wir müssen eine Klerikerzentrierung der Kirche mindestens relativieren. Also sehr viel, was verändert werden muss, aber es muss zugleich so verändert werden, dass die katholische Kirche, die ja eine weltumspannende Institution ist, eine globale Institution, sozusagen nicht in ganz unterschiedlichste Teile aufgespalten wird. Also das ist ein bisschen das Problem der katholischen Kirche, dass sie bei allem, was im Einzelnen passiert, immer auch an den weltweiten Zusammenhang denken muss.
Zagatta: Ist da der Papst vielleicht jemand, der auf die Bremse tritt? Wie beurteilen Sie das?
Thierse: Ja, der Vatikan steht gewiss nicht an der Spitze von Veränderungsleidenschaft, das wäre übertrieben zu meinen. Aber da sage ich auch, das Papstamt, wie immer man darüber redet, ist ja jedenfalls ein Amt, das der Einheit der Kirche dienen soll, das also jedenfalls wechselseitige Rücksichtnahme auf unterschiedliche Entwicklungszustände, unterschiedliche Aggregatzustände der Kirche nehmen muss.
Zagatta: Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, mit dem wir heute Morgen als Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken gesprochen haben. Herr Thierse, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Thierse: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Thierse, beginnen wir mit den jüngsten Vorwürfen: Kann das denn sein, dass katholische Krankenhäuser einer Vergewaltigten die Hilfe verweigern?
Thierse: Ich schäme mich für diese Lieblosigkeit und für diese Unbarmherzigkeit, wie immer sie zustande gekommen ist. Das darf nicht sein, denn jedes Krankenhaus, jeder Arzt, jede Krankenschwester ist verpflichtet zur Hilfeleistung.
Zagatta: Welche Konsequenzen muss man daraus ziehen?
Thierse: Ich denke, dass, wie auch immer das zustande gekommen ist, das dortige Krankenhaus oder der Trägerverein hat sich entschuldigt und spricht von einem Versehen, von einem Irrtum – es muss klare Anweisungen geben, dass in jedem Fall Hilfeleistung gegeben werden muss, unabhängig davon, wie man in der Frage der Pille danach oder der Abtreibung steht.
Zagatta: Jetzt sagen aber viele, die mit den Fall beschäftigt sind, die Frau ist ja von zwei katholischen Krankenhäusern hintereinander abgewiesen worden – das kann doch eigentlich kein Zufall sein, das hat doch System dann.
Thierse: Ja, deswegen sage ich ja, es muss auch für katholische Krankenhäuser gelten, dass unabhängig von der Einstellung zu bestimmten moralischen, ethischen Fragen, der Grundsatz gilt, Hilfestellung geht vor allem, Barmherzigkeit ist der wichtigste Grundsatz von christlich geprägten Einrichtungen.
Zagatta: Nun sagen die Kirchen oder die kirchlichen Krankenhäuser, das sei ein Fehler gewesen, aber es gehe ja darum – und deshalb seien auch Missverständnisse entstanden –, dass, wenn man einer vergewaltigten Frau hilft, dass man sie dann auch beraten müsse über die Pille danach, das will man nicht. Kann das angehen?
Thierse: Was soll nicht angehen, dass es unterschiedliche Krankenhäuser gibt, die aus unterschiedlichem Geist getragen werden? Darüber muss die Gesellschaft sich verständigen, ob wir solche Unterschiede zulassen, aber das darf ja nicht den Grundsatz aufheben, dass, wenn jemand kommt und eine Untersuchung erbittet, dass man den ablehnt, das darf nicht sein.
Grundfrage "ob wir unterschiedslose Einrichtungen wollen"
Zagatta: Diese katholischen Krankenhäuser werden offenbar ja zu hundert Prozent oder zu fast hundert Prozent von den Krankenkassen und aus öffentlichen Mitteln finanziert. Können dann kirchliche, katholische Moralvorstellungen dort bei der Behandlung überhaupt gelten?
Thierse: Das ist ja die Grundfrage, ob diese Gesellschaft weiterhin der Überzeugung ist, dass sie pluralistisch ist, dass es unterschiedliche Prägungen gibt, unterschiedliche weltanschauliche Motivationen für soziale Dienstleistungen, oder ob wir sagen, nein, solche Unterschiede lassen wir nicht zu, es gibt nur noch den Einheitsgeist, die Einheitsweltanschauung, die Einheitsdienstleistung.
Zagatta: Aber da geht es ja jetzt in erster Linie nicht um eine Weltanschauung, sondern um ärztliche Hilfeleistung.
Thierse: Ja, aber sie wird ja aus ganz unterschiedlichem Geist in ganz unterschiedlicher Prägung geleistet. Und deswegen sage ich ja, ich will nicht immer wieder dasselbe sagen, ich schäme mich für diese Tatsachen, für diese Krankenhäuser, dass sie lieblos und unbarmherzig gehandelt haben, das darf nicht sein – das darf auch gerade aus christlichem Geist nicht sein.
Zagatta: Wenn das aber, wie Sie ja auch angedeutet haben, vielleicht im System angelegt ist, Herr Thierse, da fordert Ihr Parteifreund jetzt, der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, den katholischen Krankenhäusern unter Umständen die Gynäkologie zu entziehen. Können Sie das nachvollziehen?
Thierse: Ich kann die Wut und Verärgerung nachvollziehen, die teile ich ja auch ausdrücklich, aber man sollte vor einem solchen Schritt ganz kurz innehalten und sagen, ob wir tatsächlich so etwas wie unterschiedslose Einrichtungen wollen, unterschiedslos hinsichtlich des Geistes, der Motivation, der Trägerideen wollen, oder ob wir solche Unterschiede auch weiterhin zulassen, die natürlich an einem Punkt alle übereinstimmen müssen: in der vorbehaltslosen Verpflichtung, Menschen zu helfen.
Zagatta: Wenn das für Vergewaltigte angewandt wird, für vergewaltigte Frauen, gehört dann zu dieser Grundbehandlung, sagen wir mal so, gehört dann zumindest eine Information darüber, wie sich eine Frau dann vor einer ungewollten Schwangerschaft schützen kann, also zumindest eine Information über die Pille danach?
Thierse: Ja, ich denke schon, denn man kann ja auch die Entscheidung niemandem abnehmen. Die Entscheidung ist die Entscheidung der Frau, die Entscheidung der Betroffenen, das gehört auch zur Freiheit, die selbstverständlich auch katholische Christen anerkennen.
Zagatta: Das müsste dann in Krankenhäusern, in katholischen Krankenhäusern auch so geschehen, ja?
Thierse: Ja, also eine Information, selbst wenn aus bestimmten ethischen Überzeugungen heraus, man selber diese Praxis nicht unterstützen will, aber die Information darüber, die sollte immerhin gegeben werden, meine ich.
Zagatta: Jetzt sagen jüngste Umfragen, Herr Thierse, die nach dieser verunglückten Missbrauchsstudie oder gestoppten Missbrauchsstudie veröffentlicht wurden, dass jeder sechste Katholik mittlerweile darüber nachdenkt, auszutreten. Entsteht da jetzt im Moment nicht der fatale Eindruck, dass die katholische Kirche vergewaltigten Frauen die Hilfe verweigert und gleichzeitig mit Kinderschändern, mit Vergewaltigern in ihren eigenen Reihen ziemlich lasch umgeht?
Thierse: Dieser Eindruck stimmt ja schlicht nicht. Ich will mich mal nicht dazu äußern, woran diese Studie gescheitert ist, da müsste man auch über Herrn Professor Pfeiffer sprechen, da müsste man auch darüber reden, ob da etwa Opferschutz, Datenschutz angemessen berücksichtigt worden ist oder nicht. Ich will darauf hinweisen, dass es im Bistum München ja eine ausführliche Studie gegeben hat. Mithilfe extern Sachverstandes sind dort eine Menge Fälle untersucht worden, das liegt jetzt vor. Es hat diese Hotline der katholischen Kirche gegeben, bei der sich eine Menge Menschen gemeldet haben – übrigens nicht nur Menschen, die Missbrauchserfahrungen in der Kirche gemacht haben, sondern auch außerhalb der Kirche. Wir reden ja hier bei den Missbrauchsfragen nicht nur über ein rein kirchliches Phänomen – also ich glaube schon, dass es in der katholischen Kirche genügend Kraft und genügend Kräfte gibt, Aufklärung weiter zu betreiben, das ist allerdings auch notwendig, um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen.
"Angestaute Problemen lösen"
Zagatta: Also ob diese Vorwürfe jetzt gerechtfertigt sind oder nicht, das wird ja jetzt, dieser Vorfall, als Vertuschungsversuch in der Öffentlichkeit zumindest wahrgenommen. Wie sehr schadet das denn der katholischen Kirche? Erschreckt Sie die große Zahl der Kirchenaustritte und derjenigen, die jetzt da überlegen, auszutreten?
Thierse: Ich will es noch einmal sagen, ob das ein Vertuschungsversuch ist oder nicht, das scheint mir nicht ganz so klar zu sein. Ich bitte darum, nicht nur eine Seite zu hören. Dass Herr Professor Pfeiffer sehr eloquent ist, sehr mediengewandt ist, sehr auch auf seine eigene Reputation bedacht ist, will ich ja zur Kenntnis nehmen, aber daraus darf man ja nicht schon das Urteil über den Gesamtvorgang ableiten. Aber Sie haben schon recht, insgesamt erleben wir ja nicht nur aus diesen aktuellen Anlässen eine Welle der Austritte in der katholischen Kirche. Und deswegen glaube ich, dass die katholische Kirche sich tatsächlich ändern muss, vieles verändern muss, übrigens nicht nur ihr Kommunikationsverhalten, das gelegentlich schlicht katastrophal ist, sondern wir brauchen wirklich innerkirchliche Reformen, die die Glaubwürdigkeit dieser Institution und die Glaubwürdigkeit ihres Auftrags wieder herstellen.
Zagatta: Das fordern Sie und das fordern andere ja schon seit Langem. Warum passiert da nichts?
Thierse: Es passiert ja etwas, auch wenn es, wie in dieser uralten Institution, wie immer sehr, sehr langsam geht. Es findet in der deutschen Kirche ein Dialogprozess statt, der ja immerhin ein Schritt ist auf mehr synodale Strukturen, die ich mir auch in der katholischen Kirche wünsche. Wir müssen eine Reihe von Konfliktthemen, von angestauten Problemen lösen, also der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, die Stellung der Laien in der Kirche, die Stellung der Frauen in der Kirche. Wir müssen eine Klerikerzentrierung der Kirche mindestens relativieren. Also sehr viel, was verändert werden muss, aber es muss zugleich so verändert werden, dass die katholische Kirche, die ja eine weltumspannende Institution ist, eine globale Institution, sozusagen nicht in ganz unterschiedlichste Teile aufgespalten wird. Also das ist ein bisschen das Problem der katholischen Kirche, dass sie bei allem, was im Einzelnen passiert, immer auch an den weltweiten Zusammenhang denken muss.
Zagatta: Ist da der Papst vielleicht jemand, der auf die Bremse tritt? Wie beurteilen Sie das?
Thierse: Ja, der Vatikan steht gewiss nicht an der Spitze von Veränderungsleidenschaft, das wäre übertrieben zu meinen. Aber da sage ich auch, das Papstamt, wie immer man darüber redet, ist ja jedenfalls ein Amt, das der Einheit der Kirche dienen soll, das also jedenfalls wechselseitige Rücksichtnahme auf unterschiedliche Entwicklungszustände, unterschiedliche Aggregatzustände der Kirche nehmen muss.
Zagatta: Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, mit dem wir heute Morgen als Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken gesprochen haben. Herr Thierse, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Thierse: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.