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Ich sehe was, was Du nicht hörst

Zwei plus zwei ist – Gelb! Diese Antwort brachte Franka Doering in der Grundschule Gelächter ein, dabei war es für sie völlig klar. Jede Zahl ist in ihrem Erleben von einer Farbaura umgeben und die Vier, die ist eben gelb. Stimmen empfindet die angehende Pädagogin nicht nur als Klang, sondern auch als Berührung. Bei den Vorlesungen gibt ihr ein Dozent beispielsweise ein mehliges Gefühl auf der Haut. Synästhesie nennt sich das Phänomen der verschränkten Sinne. Jeder Synästhet lebt in einer ganz eigenen Wahrnehmungswelt. Während die eine Laute farbig hört, schmeckt dem anderen eine Torte rau während bei einer dritten Formen Geräusche auslösen. Sprache wird Klang, Musik eine Farbsinfonie. Das Erleben der Farbhörer oder Formschmecker wirkt seltsam, kurios oder faszinierend, in jedem Fall aber interessant, besonders auch für Wissenschaftler. Denn die stark verknüpften Sinne der Synästheten erlauben es sozusagen wie in einem Brennglas auch nach Antworten auf Fragen nach der ganz alltäglichen Arbeitsweise des Gehirns zu suchen. Wie verknüpft das Bewußtsein die verschiedenen Aspekte der Welt zu einem einheitlichen Bild der Wirklichkeit? Gibt es unbewußte Einflüsse zwischen Sehen, Schmecken oder Fühlen? Und war Synästhesie vielleicht sogar eine Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache?

Volkart Wildermuth | 26.12.2002
    Manuskript zur Sendung von Volkart Wildermuth: RTF-Format