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Ich-Studie im Bochumer Bermudadreieck

Als "Chronist des Bochumer Niedergangs" beschreibt Willi Winkler den Autor Wolfgang Welt im Nachwort zu "Doris hilft". Der neue und vierte Roman von Welt ist aber nicht nur ein Abgesang auf die schon in den 80er-Jahren längst untergegangene Ruhrgebietsherrlichkeit, sondern auch eine sehr persönliche und existenzielle Chronik.

Eine Besprechung von Ulrich Rüdenauer |
    "Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester."

    Keine Frage: Die Bedeutung des ersten Satzes eines Romans ist enorm.

    "Der muss sitzen, der löst dann was aus."

    Vermutlich ist es kein Zufall, dass Wolfgang Welt der erste Satz seines Romans "Peggy Sue" irgendwann zu Beginn der 80er-Jahre in einer Vorlesung über Samuel Beckett eingefallen ist.

    "Das waren ja die frühen Romane von Beckett, die der Gegenstand der Vorlesung waren. Und die haben mich eher gelangweilt. ( ... ) Dann hab ich auf nen Kuli gebissen und hab dann den Satz rausgestoßen. Ich weiß jetzt nicht mehr, in welchem Zusammenhang der Beckett-Vorlesung das war. Aber es war jedenfalls irgendwie sehr langweilig."

    Was nach diesem Erwartungen weckenden Einstieg passiert, ist im Gegensatz zur akademischen Pflichtveranstaltung überhaupt nicht langweilig, wenn auch von einer gewissen Monotonie: Ein junger Mann studiert mehr zum Schein, bricht das Studium irgendwann ab, möchte Schriftsteller werden, ist dem Alkohol durchaus zugetan, schwärmt für Buddy Holly und schreibt für ein Stadtmagazin über Schallplatten, er lebt in der Mansarde seines Elternhauses und tummelt sich nächtens im Bermudadreieck, dem Kneipenviertel von Bochum, geht in Clubs, lernt Mädchen kennen und möchte mit den Mädchen ins Bett, nur wollen die meist nicht; er interviewt Musiker und erschreibt sich durch seine ungestüme Kaltschnäuzigkeit einen verwegenen Ruf, der ihm Aufträge der damals wichtigsten Musikzeitschrift "Sounds" einbringt. Heinz-Rudolf Kunze bezeichnete er beispielsweise als "singenden Erhard Eppler"; eine gelungenere Demontage des Liedermachers Kunze war kaum denkbar. So ungefähr, mit Musik, Mädchen und bei Muttern in Bochum, geht das weiter. Ein paar haltlose Jahre lang. All das steht gedruckt im Buch, und zwischen den Ich-Erzähler und Wolfgang Welt passt kaum ein Blatt Papier – was in seinem Text auftaucht, darf man annehmen, ist vom Leben verbürgt. Und dann war da noch der Suhrkamp Verlag und die Hoffnung auf den ersten Roman, auf Ruhm und Geld:

    "Das ist eine lange Geschichte. Ich war damals Literaturredakteur beim Ruhrgebietsmagazin "Marabo", und da haben wir eine Serie gemacht über Ruhrgebietsautoren. Und da fiel mir ein, dass ich eine Anthologie von Suhrkamp gelesen hatte, in der eine Bochumer Autorin verzeichnet war, Bettina Blumenberg, längst vergessen. Jedenfalls wollte ich von Suhrkamp die Adresse von der haben, und da hab ich die Pressestelle angerufen, und die haben gesagt, nein, die Adresse haben wir nicht, aber wir geben Ihnen mal den Lektor, der das Buch rausgebracht hat, der hat bestimmt die Adresse. Und dann meldete sich ein Müller-Schwefe, den Namen habe ich erst gar nicht richtig verstanden, und dann habe ich ihm erklärt, was ich wollte, und dann fragte er, was ich so mach, und ich sagte, ja, ich schreib dat und dat, Schwarzarbeit, Discjockey und so weiter. Und dann fragte er, wollen Sie nicht auch für uns schreiben, und dann hat's ne Weile gedauert, bis ich so weit war, zwei, drei Jahre, eh der Roman fertig war. Und dann war er begeistert, der Müller-Schwefe, und wollte da auch ein Taschenbuch draus machen. Nur konnte er sich in seinem Haus nicht durchsetzen. Und dann ist er auch abgehauen ein Jahr nach Amerika und an die Frankfurter Bühne. Und das Buch landete dann auf dem Schreibtisch von Rainer Weiß, das war sozusagen der erste Akt, mein Buch dann abzulehnen. Und so ist das dann gekommen, dass es nicht bei Suhrkamp erschienen ist, zuerst."

    Zunächst erschien "Peggy Sue" dann im Konkret Literaturverlag – und wurde dementsprechend kaum wahrgenommen und von der orthodoxen Linken ebenso abgelehnt wie von der Pop-Fraktion. "Oversexed und underfucked" sei der Erzähler, lautete das Urteil einer Rezension. Ein Weggefährte wie Diedrich Diederichsen bemängelte damals in seiner Besprechung Welts Geständniszwang. Ob er als Belohnung das Kompliment "schonungslose Ehrlichkeit" erwarte, fragte Diederichsen ein wenig herablassend. Wahrscheinlich aber hätte Welt sich über dieses Kompliment tatsächlich gefreut, denn …

    "… steht ja alles nur Ehrliches drin."

    Die Jahre vergingen, Wolfgang Welt brachte einige Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hinter sich und arbeitete schließlich als Nachtwächter. Nebenbei schrieb er weiter, an seinem Leben und an seinen Büchern, was in diesem Fall keinen Unterschied machte, und dann geschah etwas, das ein bisschen an ein Märchen und an eine ältere Geschichte erinnert: Anfang der 70er-Jahre wurde der in seiner Schreibstube recht erfolglos vor sich hindichtende Hermann Lenz bekanntlich von Peter Handke "entdeckt" und gefördert; Handke verschaffte Lenz nicht nur Öffentlichkeit, sondern bei Suhrkamp auch ein neues Zuhause als Autor. Und vor einigen Jahren fand Handke auch Gefallen an Wolfgang Welts Texten und wirkte ebenso protegierend an ihm wie an Hermann Lenz, den Welt übrigens äußerst schätzt und in den 80er-Jahren sogar einmal besucht hat.

    "Ja, ich hatte ja mittlerweile bei Heyne veröffentlicht, zwei Bücher. Und dann hatte ich das dritte Buch geschrieben, "Der Tunnel am Ende des Lichts", und das hab ich Peter Handke geschickt, mit dem ich seit einiger Zeit in Verbindung stand. Und da schrieb er dann zurück, ja, das muss ins Reine geschrieben werden, da sind zu viele Tippfehler bei, ich hab damals selber noch nicht mit Computer geschrieben, und dann habe ich einen Kollegen gebeten, das doch sauber zu schreiben. Und das nächste, was ich dann hörte war, dass der Handke bei der Verleihung des Unseld-Preises die Geschäftsleitung aufgefordert hatte, meine Bücher doch bei Suhrkamp zu veröffentlichen."

    Handkes Fürsprache war, wie Willi Winkler schreibt, eine Rettung: Vor zwei Jahren sind Welts gesammelte Texte in dem Band "Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe" im Suhrkamp Verlag erschienen, und nun folgt ein neues Buch: "Doris hilft". Wieder ist der Einstieg von handgreiflicher Klarheit:

    "Kaum aus der Psychiatrie entlassen, holte ich mir auf meiner Mansarde einen runter."

    "Doris hilft" greift den Faden der vorangegangenen autobiografischen Bücher auf: die Abenteuer Wolfgang Welts in den 80er-Jahren, seine misslungenen Annäherungsversuche ans andere Geschlecht und die langsame Irrfahrt in den Wahnsinn, von der man selten so ungeschönt und unverhohlen hat erzählen hören.

    "Später, im Wahn, nahm ich an, die hätten mir was eingepflanzt, einen Sender. Dasselbe dachte ich auch, als ich ein paar Jahre später bei Laupitz in der Kneipe die Treppe runterfiel und mit dem Kopf gegen einen Heizkörper schlug. Später also dachte ich, die hätten mir einen Sender eingepflanzt. Aber warum? Weil ich was ganz Besonderes war. Aber was?"

    "Ja, weil ich gedacht hatte, ich weiß bis heute nicht, was daran echt war und was ich mir nur eingebildet hab. Ich dachte irgendwie, ich würde dauernd beobachtet werden von irgendwelchen Kameras, auch in Köln eben auch. Da bin ich ja dann beim Verfassungsschutz gelandet, glaub ich, oder ich weiß es nicht, entweder beim Verfassungsschutz oder im Polizeipräsidium, und dann bin ich eingesperrt worden mit so einem merkwürdigen Typen, das hab ich gar nicht so richtig geschrieben und so. Naja."

    "Es war das Jahr 1984. Ich hatte Orwell am eigenen Leib erlebt."

    Die Apokalypse erreicht Bochum, und Wolfgang Welt ist mittendrin, schizophren und depressiv, sich für J.R. Ewing und später für Hans Beimer aus der Lindenstraße haltend. Auch Doris, die angebetete Freundin, kann da nicht helfen: Vom Polizeipräsidium geht es in die "Klapsmühle", wie Wolfgang Welt sagt.
    Welts Bücher, zwischen Rolf Dieter Brinkmann und Hermann Lenz einen Mittelweg suchend, sind manische Zeitnachschriften: Es müsse ihn übermannen, sagt er. Es müsse ihm was auf der Zunge liegen. Dann schreibt er los. Schreibanfälle: In hundert Stunden sei "Doris hilft" entstanden. Gefeilt wird an den Texten nicht, sie bleiben unbehauen, man könnte auch sagen: kunstlos, aber doch voller schmuckloser Poesie. Was ihn – bei allen offensichtlichen Unterschieden – mit Autoren wie Hermann Lenz oder auch Peter Kurzeck verbindet, ist der Versuch, das eigene Leben unmerklich in Literatur übergehen zu lassen; die Details des Alltags zu sammeln, dem Randständigen zu seinem Recht zu verhelfen, die unaufhaltsam vergehende Zeit aufzuhalten. Was bei Welt allerdings hinzu kommt, ist die Verweigerung aller Stilisierung oder Ästhetisierung. In seinen Texten herrscht das Lapidare vor.

    "Ich mochte die Wälder. Ich war schon lange in keinem mehr gewesen. Zuletzt in Witten, als ich einen Baum suchte, an dem ich mich aufhängen konnte."

    Beinahe überliest man solche Stellen, die Verzweiflung in Lakonik verwandeln. Hier wird erzählt, wie es gewesen ist, Punkt. Keine Transzendenz, keine Übertragung, kein Verstecken. Wo die Literatur aufhört und das Leben beginnt, ist diesem ungeschützt durch seinen Tagtraum eilenden Ich manchmal selber nicht mehr klar.

    "Das Leben schrieb den Roman ohne Maschine. Ich brauchte nicht mehr zu tippen."

    Heute arbeitet Wolfgang Welt als Nachtportier im Schauspielhaus Bochum. Von halb zehn Abends bis zum frühen Morgen. Das aufreibende, aufregende Leben der 80er liegt lange zurück. Alles ist langsamer. Geregelter. Ereignisloser. Ob es da nicht die Angst gibt, dass irgendwann das Material zum Schreiben ausgeht?

    "Angst würde ich das nicht nennen. Das ist eine Tatsache, dass ich dann nicht mehr so viel schreiben werde. Jetzt kommt der Tod der Mutter, den ich noch bearbeiten will. Und der Tod des Vaters. Und dann noch ein Aufenthalt in der Psychiatrie. Und dann hat es sich schon. Und was ich dann noch schreiben will oder werde, das weiß ich noch nicht, ob es noch darüber hinaus was geben wird."

    Wolfgang Welt: Doris hilft. Roman. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009. 247 Seiten. 8 Euro