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"Ich verschwinde zwischen Fiktion und den Wirklichkeit genannten Fakten"

Imre Kertesz soll in seinem neuen Buch "Dossier K. Eine Ermittlung" Auskunft geben über sich selbst. In den Jahren 2003 und 2004 führte der ungarische Lektor Zoltán Hafner mit diesem Anliegen ein langes Interview mit dem Nobelpreisträger.

Vorgestellt von Antje Strobel | 31.10.2006
    Kertesz hat das Interview überarbeitet, gerafft, konzentriert, so dass ein Buch entstanden ist, das Einblicke in die Kindheit des Autors bietet, die brutal mit dem Abtransport nach Auschwitz endete, das die persönlichen Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen veranschaulicht, ein Buch, das an Kertesz' desaströse Lage im kommunistischen Ungarn rührt, wo er als Schriftsteller nicht anerkannt war.

    Vor allem aber ist dieses Buch eine Ermittlung in einer Sache. Es geht um die berühmte Frage: Was ist ein Autor? Und: Braucht ein Autor eine Biografie?

    Den Fragen nach den Bezügen zwischen der eigenen Biografie und seinen Büchern weist Imre Kertesz nämlich auf sehr sympathische Weise immer wieder von sich, das Biografische und das Fiktionale gehören für ihn nicht vermischt, auch wenn der Schriftsteller eine ähnliche Geschichte erlebte wie die Romanfigur, auch wenn es sich bei dieser Geschichte um Auschwitz handelt. Es ist der Versuch eines großen Autors, über das Leben, über die Begrenztheit des Biografischen hinaus, der Literatur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

    Imre Kertesz ist Schriftsteller, und er beantwortet die Fragen danach, ob bestimmte Dinge in Auschwitz so oder so geschehen wären, immer mit der Replik, in seinem Roman wären sie so geschehen. Das Material des Romans basiert auf der Wirklichkeit, aber die Befreiung vom Material liegt in der Fiktion. Oder, wie Kertesz es formuliert: Im Roman seien nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern das, was man den Tatsachen hinzufüge, die Überschreitung der Tatsachen.

    "Der Roman eines Schicksallosen", aus der Perspektive eines ungarischen Jungen erzählt, der mit 15 knapp dem Tod im Konzentrationslager Auschwitz entkommt, ist wie seine anderen Bücher zuallererst Kunst. Wäre das nicht so, wollte man nur das Tatsächliche hinter dem Möglichen betrachten, dann holte das Leben wieder ins Vergessen, in den Raum zeitlicher Begrenztheit zurück, was der Roman doch Zeit enthoben veranschaulichen kann. Nur die Kunst hat das Vermögen, Erkenntnissen durch ästhetische Abstraktion Dauerhaftigkeit zu verleihen.

    Und dem versucht Kertesz in seinen Antworten Rechnung zu tragen. Aber da die Fragen in "Dossier K." immer wieder auf das Abgleichen der verschiedenen Romane mit persönlich Erlebtem zielen, ob in "Kaddish für ein nichtgeborenes Kind" oder in "Fiasko", gibt Kertesz mit leisem Widerstand auch Erinnerungen preis.

    Der 1929 in Budapest geborene Schriftsteller entwirft bildhafte Szenen aus seiner Kindheit Anfang der 30er Jahre, aus der Zeit nach der Rückkehr aus Auschwitz in ein chaotisches, aber auf demokratische Wahlen zusteuerndes Nachkriegsungarn, er streift Bücher, die ihn geprägt, Musikstücke, die ihn beeinflusst haben. Diese Erinnerungsszenen sind mit leichter Ironie durchzogen.

    Familiengeschichten seien nicht gerade der Schwerpunkt seines Interesses, stellt Kertesz an einer Stelle fest. Also hebt er den Blick über seine persönlichen Kindheitserlebnisse hinaus ins politische Geschehen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Er zeichnet diese Zeit als eine Phase der Massenpsychose, mit der auf die Diktatur und den nächsten Krieg vorbereitet worden sei. Er zeichnet ein Bild des ungarischen Antisemitismus, der bereits zwischen 1919 und 1924 extrem grassierte. Daran wurde 1938 mit dem ersten Judengesetz direkt angeschlossen, das die Einrichtung von Judenklassen in Ungarn beschloss.
    Kertesz kam aus einer kleinbürgerlichen Familie, die Mutter setzte der Enge ihres eigenen Elternhauses eine mondäne, genussfreudige Lebensweise entgegen, der Vater stammte aus dem Kleinbauernstand und hielt sich mit einem Holzgeschäft gerade so über Wasser. Als die Eltern sich trennten, war der Junge fünf Jahre alt und kam in ein Internat. Kertesz erzählt von seiner ersten Begegnung mit der katholischen Kirche, in die ihn das Dienstmädchen seines Großvaters mitnahm, er erzählt von Aufenthalten in Badeorten mit seiner Mutter, von seiner Bar-Mizwa, der Einweihung ins erwachsene Leben, und von einer Fremdheit der Welt gegenüber, die ihn als Jugendlicher befiel und sich zu Selbsthass steigerte.

    Heute betrachtet Kertesz diesen inneren und den äußeren Widerstand, den er vor allem seinem Vater entgegenbrachte, als ein Resultat dessen, wie im halbfaschistischen Ungarn gegen Juden vorgegangen, wie das Jüdische als ein Problem im Alltag internalisiert wurde. Als Kind schrieb sich ihm das als Selbstentfremdung ein, später brachte ihn das unter anderem zum Schreiben.

    Kertesz, der in Ungarn auch nach der Veröffentlichung seines "Romans eines Schicksallosen" 1975 vollkommen unbekannt war, der Roman verschwand in der Versenkung, wurde erst nach dem Ende des Kalten Krieges von einer größeren literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen.

    Im kommunistischen Ungarn verdiente er sein Geld mit Musicals und Unterhaltungsstücken, während er Freud, Nietzsche oder Wittgenstein übersetzte. Als Journalist einer Tageszeitung wurde er Anfang der 50er Jahre, als sich in Ungarn ein härterer politischer Kurs durchsetzte, entlassen, Kertesz suchte Arbeit in einer Fabrik, um dem Paragraphen über "gemeingefährliche Arbeitsscheu" zu entgehen. Wie kein anderer hat Kertesz in seiner Literatur die Struktur totalitärer Systeme im Vergleich von Faschismus und Stalinismus anschaulich gemacht, ihm selbst schien der Kommunismus kurzzeitig der Weg in eine bessere Gesellschaft, als er, 17-jährig, in die Partei eintrat.

    Später jedoch, auch das erfährt man in "Dossier K.", enthüllt sich ihm im Kommunismus der gleiche charakteristische Zug der Schicksallosigkeit, wie er laut Kertesz allen totalitären Systemen zu eigen ist; die Diktaturen berauben den Menschen seines Schicksals, sie enteignen ihn und verwandeln sein Schicksal in das der Masse, es wird verstaatlicht.

    Rückblickend sieht er die zerstörerischste Kraft des 20. Jahrhunderts demzufolge auch in der Selbstaufgabe des Individuums und der "Kollektivanklage gegen Völker". Während Kertesz in seiner Literatur das Urteilen den Lesern überlässt, bezieht er im Interview mit Hafner sehr klar Stellung.

    Nur die Fragen nach dem biografischen Gehalt seiner Bücher bleiben unbeantwortet. Aber am Ende der Lektüre ergibt sich ein umso klareres Porträt seines Denkens. Eines hedonistischen, amoralischen, kühnen Denkens.

    Kertesz schreckt vor den letzten Fragen nicht zurück, die Tatsache des Todes wird ihm zum Generator eines Denkens, das die Weltordnung als Paradox, als "Zauber des alltäglichen Bösen" begreift.

    Diese Art zu denken habe nichts mit Pessimismus zu tun, sagt Kertesz an einer Stelle, vielmehr habe ihn das Schreiben zu einem heiteren Menschen gemacht. Auch das düsterste Material, seine Zeit in Auschwitz und Buchenwald, werde durch die Form erlöst.

    "Und was mich betrifft", heißt es weiter, "die Person, die das alles erlebt hat, diese Erlebnisse aber zugleich als Rohmaterial für einen Roman verwendet hat: Ich verschwinde angenehm zwischen Fiktion und den Wirklichkeit genannten Fakten."
    Imre Kertesz: Dossier K. Eine Ermittlung,
    Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 19,90 Euro